Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten

Dieser Artikel ist Teil des ersten Umzuges des Karnevals der deutschen Rollenspielblogs, welcher das Thema „Moral“ hat. Alle Beiträge des Themas finden sich in diesem Forum gelinkt.


Worum geht es?

Nicht wenige von Euch kennen sicherlich Vampire:The Masquerade, ein Spiel, welches Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts auf den Markt kam und das Rollenspiel revolutioniert hat. Wieso revolutioniert? Ganz einfach – der Fokus stand auf narrativem Spiel mit einem übersichtlichen Regelwerk. Es ging und geht mehr darum, gemeinsam ein Geschichte zu erzählen, anstelle sich von einem Spielleiter durch ein Dungeon/Gewölbe prügeln zu lassen. VtM ist in diesem Jahr mit der 20th Anniversary Edition neu aufgelegt worden und ist als pdf über DriveThruRPG (obiger Link) oder als Print-on-Demand zu erhalten.

Vampire öffnete die Szene auch für Zielgruppen, die sich zuvor nicht oder nur selten mit dem Tischrollenspiel beschäftigen, namentlich vielen künstlerisch orientierten Subszenen, aber auch und vor allem mehrte es deutlich den Anteil an Frauen in der Szene. Das lag vor allem an der abweichenden Ausrichtung des Spieles, die sich in Kurzform mit dem Zitat „A Beast I am, lest a Beast I become“ beschreiben lässt.

Einer der Hauptfoki des Systems liegt auf den menschlichen Wertmaßstäben, die ein Vampir noch nach seiner Erschaffung hat. Durch die Erlebnisse in der Nacht, das Gebahren mit anderen Blutsaugern, das Trinken von Blut, das Zusammentreffen mit uralten Vampiren et al wird dieses Wertegefühl immer wieder auf die Probe gestellt und zusehends zerbrechen ehemals hochgehaltene Werte und machen immer mehr Platz für die Bestie. Die Bestie ist quasi der dunkle Teil der Seele, der rein von Instinkten getrieben wird und sich auf Fressen, Töten, Schlafen und Kampf konzentriert, während die kognitiven Gedankenprozesse und Wertmaßstäbe von der menschlichen Seele her gesteuert werden.

Diese Werte bezeichnet das Spiel als den Punktewert „Menschlichkeit“. Jedes Mal, wenn ein Charakter etwas tut, was seiner derzeiten Stufe von Menschlichkeit widerspricht, muss er/sie mittels eines anderen Würfelpools prüfen, ob die Rolle sich die Tat vergeben oder zumindest sich selbst erklären kann. Ein üblicher moderner Mensch hätte eine Menschlichkeit von 6 bis 7 (der Wert rangiert von 1 bis 10), ein kranker psychopathischer Massenmörder hätte eine Menschlichkeit von vielleicht 2 bis 3.

Die Nachteile einer niedrigen Menschlichkeit sind, dass die Bestie immer öfter Kontrolle übernehmen kann, der Spieler also keinen Zugriff auf seinen Charakter hat, sondern von Würfelwürfen diktiert wird, wie er zu spielen hat. Erreicht die Menschlichkeit den Wert Null, geht der Spielercharakter in die Kontrolle des Spielleiters über und ist eine mordende Bestie, die von anderen Vampire wegen ihrer Taten und Gefahr gejagdt wird.

Die meisten Vampire sollten also immer darum bemüht sein, ihre Werte hochzuhalten, da sie sonst in die Finsternis abdriften und von Blutsverwandten zerstört werden.

Verkehrte Welt?

Die Vorteile einer niedrigen Menschlichkeit, und damit komme ich nach diesen einleitenden Worten zu dem eigentlichen Thema des Artikels, sind kewleres Spiel und mehr Möglichkeiten. Man kann freier agieren, zerbricht nicht an Selbstvorwürfen, wenn man in einer Schießerei jemanden getötet hat oder gar einen Menschen in einem Anfall von Hunger sämtliches Blutes beraubt hat. Der Actionspieler also findet sich vermutlich besser zurecht, wenn er unmenschlicher ist (gemessen an anderen Spielen, wo um getötete Banditen keine Träne vergossen wird, zB).

Natürlich kann es auch Ziel eines Spielers sein, eine Bestie zu spielen, die gefährlich ist, die gehasst wird. Solche klassischen Anti-Protagnosten haben ihre Daseinsberechtigung in Vampire, sollen aber nicht Fokus dieses Artikels sein. Hier soll es um Spieler gehen, die Vampire an sich so spielen wollen, wie es gedacht ist, aber sich zugleich eingeengt fühlen, eigentlich also im falschen System angekommen sind oder die falsche Seite der Vampir-Population spielen (Es gibt zwei grosse Fraktionen, von denen eine unter den Menschen versteckt leben will, die andere Menschen nur als Vieh und Werkzeuge sieht).

Den Charakter so spielen, wie er ist?

Die meisten Spieler fangen mit VtM an und sind begeistert von dem Setting. Es ist unsere reale Welt in einer finsteren Variante mit korrupter Politik, kaputtem Sozialsystem, zerstörter Umwelt, kaltherzigen Menschen – eine echte Welt der Dunkelheit also.  Es geht viel mehr um Interaktion, um Intrigen, um Machtspiele, Action kommt vor, aber nicht im Fokuspunkt.

Ihnen wird das Wertesystem beigebracht, wie der Modus Menschlichkeit funktioniert. Sie lieben es, spielen, wie ihr Charakter erschrocken mit dem umgeht, zu was er wurde, betrauern ihre Existenz, schrecken vor der Jagd zurück – die ganze Bandbreite des jungen Vampirs, der erst vor kurzer Zeit dazu wurde, wird ausgespielt.

Den Charakter so spielen, wie er Spass macht?

Irgendwann, nach der x-ten Runde wird man dessen müde – man will nicht mehr immer die jungen Vampire spielen, die dauernd Angst vor Ihrem eigenen Schatten haben. Eigentlich will man den coolen Jäger der Nacht, mit seiner Gefährlichkeit, seiner Erotik,  seiner Bedrohung und zugleich Verlockung spielen. Und ich sage – zu Recht! Denn tatsächlich ödet es auch mich an, wenn ich immer wieder das kleine zerbrechliche Etwas spielen muss. Anfangs ist das eine große rollenspielersche, also in diesem Fall darstellerische, Aufgabe, an die man sich erst herantasten muss, weil sie so grundsätzlich anders als in anderen RPG Systemen ist. Aber wiederholt man das immer und immer wieder, beginnt es zu langweilen und den Spass aus der Sache zu nehmen.

Eine Frage an das Gamedesign

Was heisst das nun für das Systemdesign? Ist die Mechanik von Menschlichkeit ein guter Vorsatz, der aber nicht immer funktioniert? Oder sind eher die Vergehen gegen die Menschlichkeit, die auf jeder Punktestufe recht gut definiert sind, mit Absicht so formuliert, dass man nur unmenschlicher werden kann? Die Würfelpools, um sich Dinge zu verzeihen, sind recht knapp im Vergleich zu anderen Würfelpools des Systems, auch das kann ein Indiz sein, dass hier Absicht greift.

Geht es denn nicht viel mehr darum, mit dem Schrecken des Spielers den Abstieg der eigenen Rolle zu beobachten und sie auch vielleicht gezielt als Spieler darauf zu zulenken? Oder doch nicht? Ist der Einstieg mit einer niedrigen Menschlichkeit oder auch das gezielte Daraufhinzuarbeiten nicht nur eine Verschnellerung der unausweichlichen Spirale?

Ich denke, meine letzte Frage kann ich mir selbst mit einem „Ja!“ beantworten. In der Retrospektive betrachtet, habe ich nachher auch gerne Charaktere mit einer niedrigen  Menschlichkeit gespielt. Wieso? Zum einen, um selbst freier agieren zu können –  auch wenn dieser Freiheit nur ein Trugschluß ist, waren meine Charaktere doch gern mal in der Hand der Bestie. Allerdings sind die Auslöser für das Aktivwerden der Bestie immer krasser, anfangs sind es Lügen, nachher Bedrohungen, schließlich Töten und irgendwann nur noch die schlimmsten unmenschlichen Taten, die man sich ausmalen kann. Der Abstieg ist also anfangs schnell und immer langsamer, je mehr es dem Ende zu geht. Zum anderen reizte mich die Darstellung der Instinktivität der Bestie mit all ihren finsteren Seiten.

Also wiederhole ich die Frage von oben – sind sie im falschen System angekommen oder haben sie einfach die Zeit etwas vorgespult? Ich denke, dass sie im richtigen System gelandet sind, jedoch nur eine andere, vielleicht spätere Facette gespielt haben oder noch spielen. Wie seht ihr das?

Kenner der Spielwelt können nun entgegnen, dass die Spieler dann doch Sabbat hätten spielen sollen (das ist die unmenschliche Fraktion, im Gegensatz zur Camarilla, die die menschliche Seite vertritt). Diese Frage soll sich aber nicht nur an Kenner des Systems richten.

Eine andere Frage an die Doppelmoral

Durch die erhöhten Anforderungen an die Darstellung der Rolle ergaben sich in VtM ganz andere Probleme ausserhalb des Spieltisches, besonders trat dieses in den LARP Varianten hervor.

Spielte ein/e Spieler/in einen unmenschlichen, brutalen und finsteren Charakter, also eher einen Antagonisten, projizierten viele Spieler/innen das Verhalten in der Rolle auf das Verhalten und Wesen des Spielers dahinter. Oft waren Spieler überrascht, wenn sich die Gelegenheit nach dem Spiel ergab, sich real kennenzulernen, dass der Mensch hinter der Rolle doch gänzlich anders ist.

Da muss ich nun die Frage stellen, ob Spieler, die einem derartigen Trugschluß aufgesessen sind, von ihrer eigenen mangelnden darstellerischen Kompetenz geschlossen haben? Denn ich kann doch nur annehmen, dass der Mensch mir gegenüber, so ist wie seine Rolle, wenn ich selbst nicht fähig bin, etwas gänzlich anderes zu spielen.Verbunden mit den obigen Ausführungen zur Menschlichkeit oder der Ermangelung derselbigen, muss ich dieses Mal erneut die Frage nach dem falschen System stellen!

Spiele ich etwas, was nicht meinen realen menschlichen Vorzügen genügt, was über Werteschemata verfügt, die nicht meine sind und werde deswegen angefeindet, sind dann die anderen im falschen System angekommen? Mangelt es Ihnen an der nötigen objektiven Distanz zur Rolle und gleichzeitigem Herzblut in der Darstellung, um zu erkennen, was Rolle ist, was Mensch? Ist das aber ein Phänomen von VtM oder generell ein Problem des Liverollenspiels, wo doch die Nähe zur Rolle viel enger ist?

Ist also VtM ein Spiel, welches überhaupt LARP tauglich ist, wenn man es wirklich so spielen will, wie es gedacht ist?

„A Beast I am, lest a Beast I become“, möchte ich zum Ende des Artikels nochmal zitieren und bin gespannt auf Eure Reaktionen und Antworten in den Kommentaren.

Karneval der deutschen Rollenspielblogs

Titelbild: depositphotos © tommasolizzul 
Layout und Satz: Roger Lewin

6 Kommentare

  1. Ich habe selbst beinah 14 Jahre lang VtM LARP gespielt und in dieser Zeit so ziemlich alles durchprobiert und iregendwie dargestellt.
    Vom kleinen, „lieben“ Vampier von Nebenan, zur Ahnensau, die kurz vor dem Abstieg yur Bestie stand.
    Mir hat dies in jeder Rolle sehr viel Spass bereitet, jedoch fiel mir uber die Zeit auf, das grade juengere Spieler immer weniger „Wert“ auf Menschlichkeit legten und einen niedrigen Wert als Ausrede nutzten um „moglichst cool“ zu wirken und eben nicht den schwierigen Drahtseilakt zwischen Mensch und Bestie darstellen zu mussen.
    Ich bedauerte dies immer sehr und versuchte mit meinem Spiel eben auch diese Aspekte in Spiel einzubringen, erntete jedoch in den letzten Jahren meist nur Unverstandniss und teilweise sogar Spott dafuer, das mein Charakter sozusagen Zwei Gesichter hatte.
    Viele jungere Spieler (pre Twilight) sahen keinen Sinn darin die Wesenszuege ihres Charakters uber das „Ich kann jeden abknallen wie es mir beliebt“ hinaus darzustellen.
    Von meiner Warte aus waren diese Leutchen im falschen System. Von ihrer aus sicherlich nicht.
    Alles ist nunmal Auslegungssache.
    Dennoch war dies einer der Grunde wesewegen ich dieses Hobby an den Nagel haengte. Denn umgeben von „coolen Typen“, die sich lieber stundenlang hinter ihren Sonnenbrillen verborgen anschwiegen, als mal uber ihr Dasein zu philosophieren, fuehlten sich weder mein Charakter noch ich wohl.

    CU
    SaM

    • Die gleiche Beobachtung habe ich auch gemacht und habe auch mit Vampir Larp deswegen aufgehört.
      Eine hohe Menschlichkeit zu haben oder einen jungen Vampir zu spielen hat mir eher Anfeindungen und Frust gebracht als Spaß.
      Vielleicht bin ich im falschen System

  2. … aus meiner Sicht eignet sich VtM solange für ein LARP wie die Spieler zusammen „evolvieren“, also die Gruppe nicht zu sehr unterschiedlich ist von dem was sie wollen. Gerade (viel wichtiger im Live) aber auch mit ihrem Charakter wachsen. Meist ist das Konzept ja doch darauf ausgelegt über einige Jahre gespielt zu werden und ich kann aus eigener Erfahrung sagen, das man irgendwann müde wird.

    Man selbst entwickelt sich weiter und der Charakter der noch vor einem Jahr super für einen darstellbar ist nun ein Problem, warum auch immer.

    Gerade zu unserer aktiven Zeit, wurde natürlich auch noch sehr häufig gespielt und jeder Charakter war ein teil von einem selbst, jedenfalls aus meiner Erfahrung heraus.

    Ganz gemein gesagt, jetzige VtM Live Spieler sind nicht mit einem 2nd Edition VtM Live Spieler Kompatibel, meine ich jedenfalls.

    Von daher, nach diesem wirren schreiben, es ist bedingt ein Live taugliches Rollenspiel.

  3. Hm.
    Ich bin hier grade über „auch lesenswert“ hierher gestolpert und möchte an dieser Stelle kurz Topic-Nekromantie betreiben:
    VtM gibt auch andere Pfade als nur die Menschlichkeit her. In meiner VtM-P&P-Runde werden bespielt, und grade die jetzt frisch angefangene Sabbat-Shovelhead-Kampagne hat da das Potential, in einer sehr.. intressanten Kombination von Moralvorstellungen zu enden. Irgendwann mal. Grade versuchen die Charaktere erstmal, auf das klarzukommen, was eig. mit ihnen passiert ist.
    Das abrutschen zur Bestie ist imho im VtM-Moralsystem eine völlig angebrachte Spielkonsequenz, grade wenn man den Charakter kaltblütig spielt (oder besser anlegt, ergo mit wenig Menschlichkeit startet), aber es gibt eben auch die Alternativen – eben das man nicht in der Figur der geistlosen Bestie endet, sondern die Möglichkeit hat, nach einem völlig anderen Moralkonzept als dem der Menschlichkeit zu spielen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein