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Seit einiger Zeit hört man immer wieder den Begriff Steampunk in der Szene und sieht auch oft auf Events entprechend Gewandete. Aber was ist das eigentlich? Zerlegen wir das Wort doch mal in seine Bestandteile – Steam, also englisch Dampf und Punk, also englisch wörtlich wertlos, mies bzw in der kulturellen Interpretation rebellisch.

Offenbar hat es also etwas mit einer sich auflehnenden Szene und Dampfmaschinen zu tun. Und schon bilden sich assoziierte Bilder vor unserem geistigen Auge. Wenn ich an Dampfmaschinen denken muss, fällt mir ein, dass bereits in der Antike mit Dampfmaschinen einfachster Machart gearbeitet wurde. Richtig groß wurden sie aber in den Vorwehen der Industralisierung und auch mitten in dieser Phase. Also muss es sich hier um ein Genre handeln, welches im 18. und 19. Jahrhundert seine Anleihen entnimmt.

Assoziiere ich weiter, betrachte dabei, dass es ein Teil der Phantastik ist, komme ich schnell auf Jules Vernes fantastische Geschichten. Also muss es hier um abenteuerliche Geschichten in einer Welt gehen, die von Dampfmaschinen beherrscht wird. Vermutlich auch finde ich in dieser Welt weit modernere Technologie als sie damals möglich gewesen wäre, nun aber auf Dampfenergie-Basis.

Und schon schwirren riesige Zeppeline in meinem Kopf herum, schon marschieren dampfbetriebene Roboter über das Schlachtfeld und so weiter. Kleidung und Kultur bleibt in der realen Zeitphase entnommen, alles andere wäre nicht passend.Vermutlich stark vikorianisch beeinflusst. Da war doch mal ein Tischrollenspiel vor vielen vielen Jahren, das aber sang und klanglos in der Versenkung verschwand, da vermutlich die Zeit nicht die Richtige war – wie hieß es doch gleich nochmal? Ah – Castle Falkenstein! Ich hatte selbst nur einmal Charaktere dafür gemacht, aber die Runde fand aus Zeitgründen nicht statt. Wer aber dennoch einen Blick reinwerfen möchte, sollte hier mal vorbeisurfen: Buch (deutsch), Buch (englisch), Buch (pdf)

Aber was nun ist der Punk? Darauf fand ich wenige Antworten im Web. Auch der Artikel der Wikipedia ist zwar erhellend, aber beantwortet nicht endgültig meine Fragen. Also habe ich mich an einige in der Szene bekannte Leute gewandt, dadrunter Oliver Hoffmann, Verlagsleiter von Feder&Schwert (die dem Steampunk mit ihren wirklich lesenwerten Romanen wieder neuen Antrieb gegeben haben), Mirko Schröder (Macher des Theaters der Vampire) und Alex Jahnke, ein Steampunker der ersten Stunde (und Mann hinter clockworker.de).

Mirko Schröder: Steampunk ist ein Genre, das sich, ausgehend von einigen Büchern und Filmen zu einer eigenen Subkultur entwickelt hat. Es handelt sich dabei eine Welt, die eine fiktionalisierte, auch romantisierte Form des viktorianischen Zeitalters darstellt, aber darüber hinausgeht, in dem sie die Zukunftsvorstellungen der damaligen Zeit (sprich die früheste Form der Science-Fiction), insbesondere in technischer Hinsicht, zur Realität erklärt und somit in eine fiktionale Ebene extrapoliert, die von den echten Realitäten abweicht. Dies zeigt sich in einer enormen, stilistischen Bandbreite (Mode, Design), die dennoch immer wieder auf bestimmte, ikonische Muster zurückgreift (Dampfmaschine, Zahnräder, Luftschiffe). Diese Subkultur ist mittlerweile über eine bloße Modebewegung hinausgewachsen, hin zu einem eigenständigeren, philosophischen Ansatz und eine eigene Ästhetik, die eine Rückbesinnung auf „Technik, die nicht nur industriell gefertigtes Mittel zum Zweck“ ist, sondern die Funktion mit handgefertigter Kunst verbindet. Das „Punk“-Element dabei steht zum Einen für die teilweise ausgeprägte Vermischung von modernen Elementen mit viktorianischen Einflüssen, andererseits auch für eine „retro-rebellische“, den Massenkonsum und Mainstream ablehnende Haltung.
Oliver Hoffmann: Unter Steampunk verstehe ich zuallererst und in erster Linie ein Lebensgefühl. Es geht um Wertlegung auf Neugier und Bildung, um Eleganz und Stil (wenn auch auf eine gebrochene, individualistische Weise – hier kommt der Punk in den Steam), um Aufbruchsgeist und um eine Form der Technik, die Ästhetik der Funktion überordnet. Die selbstverständliche Eleganz des viktorianischen Zeitalters tritt an die Stelle moderner Chip-Technologie, zweckgebundener Ergonomie und Vereinheitlichung, wie sie heute gang und gebe sind.

Die gleichnamige literarische Gattung, die nicht selten skurrile, faszinierende, historisierende und oft dystopische, zumeist im viktorianischen Zeitalter angesiedelte, kontrafaktische Geschichte erzählt, ist nur eine von vielen Facetten dieser Welt-Sicht. Steampunk wird meist als Variante der in den Buchläden und in den Köpfen der Leserschaft allenfalls noch ein arges Gnadenbrot fressenden Science-fiction bezeichnet, kommt jedoch oft auch im Gewand einer Steamfantasy-Erzählung daher, die sich durch eine alternative Hintergrundwelt mit typischen Steampunk-Elementen auszeichnet, in der zusätzlich zur Dampfmaschinentechnik auch Magie wirksam ist. Die Werke von Autoren wie Jules Verne und H. G. Wells gehören damit aus meiner Sicht im Sinne einer (literaturwissenschaftlich natürlich nicht haltbaren) retrospektiven Definition heute zum Steampunk, auch wenn der Begriff zum Zeitpunkt ihres Entstehens noch lange nicht geprägt war. Darüber kann man sicher trefflich streiten, unstrittig ist aber, dass sie als Vorlage für diese Literaturgattung gelten. Während die Ästhetik  und die Konzepte dieser frühen Inspirationen in jüngerer Vergangenheit immer wieder Verwendung fanden, wurde der Begriff „Steampunk“ (wohl) erst im Jahre 1987 geprägt, als der bei uns weitgehend unbekannte US-Autor K. W. Jeter in einem Leserbrief an das Locus Magazine eine Genrebezeichnung für den exzentrisch-historischen Stil seiner eigenen Romane und die seiner in Deutschland deutlich renommierteren Schriftstellerkollegen Tim Powers und James Blaylock vorschlug – etwas scherzhaft und in Anspielung auf das damals ebenfalls noch recht neue, aber in der Literatur wie im artverwandten Medium Rollenspiel mittlerweile sehr fest verankerte Genre Cyberpunk (diesen Begriff prägte William Gibson).

In Steampunk-Erzählungen und –Romanen hat Dampfkraft eine deutlich größere Bedeutung erlangt als in der Realität. Nicht nur Eisenbahnen werden naheliegenderweise mit Dampfmaschinen betrieben, sondern auch Computer/Cogitatoren, Flugapparate aller Art und andere phantastische Maschinen. Elektrizität dient anders als im unserem Alltag häufig dazu , Menschen zu heilen oder zu verändern. Magie, Séancen  und Geisterbeschwörungen funktionieren in einigen Werken des Steampunk auch. Mode und gesellschaftliche Werte entsprechen in groben Zügen denen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wobei diese gelegentlich mit moderneren, in der damaligen Zeit noch nicht vorkommenden Einstellungen konfrontiert und kräftig durchmischt werden. Steampunk hat als Genre stets auch eine gesellschaftspolitische Dimension, indem er sich mit der Juxtaposition Mensch/Maschine befasst, Maschinenkritik nicht außen vor lässt (Stichwort: „Love the Maschine, hate the Factory“) und die Frage nach Beherrschbarkeit von Technik stellt. Die malochenden, maschinenunterdrückten Massen in S. M. Peters‘ Die Götter von Whitechapel zeigen augenfällig, dass die zeitliche Nähe zu Marx kein Zufall ist.

Alex Jahnke: Steampunk ist das wohlerzogene Kind, das gegen seine punkigen Eltern mit Bildung, Benehmen und Kunst rebelliert. In einer Zeit, in der der Individualismus das höchste Gut ist, setzt Steampunk klassische Werte, Visionen in Kombination mit wilder Rebellion dagegen.
Geboren aus einer literarischen Idee, vergessen und durch den Erfindergeist von Hackern in ihren Kellern zum Leben erweckt, erfindet sich Steampunk immer wieder neu, inspiriert die Literatur, die ihrerseits wieder die Subkultur inspiriert.
Dabei entzieht sich das Genre immer wieder einer genauen Definition, fügt ständig neue Facetten hinzu und vergisst dafür andere Themen, die gestern noch aktuell waren.
Dabei sind die Werte der viktorianischen Zeit Wissenschaft, Neugier und Forschergeist, die Ideen, die im 21. Jahrhundert von den Fabriken wieder in die Hand der Steampunker kehren.
Love the machine – Hate the factory

Interessiert Euch das Genre? Wollt Ihr Euch mehr damit beschäftigen? Seid ihr vielleicht gar echte Steampunker bereits? Eine interessante und liebevoll gestaltete Website fand ich noch im Nachlauf der Recherchen hier: http://steampunk-chroniken.de/

Artikelbild: depositphotos © RuslanKal
Layout und Satz: Roger Lewin

12 Kommentare

  1. Ihr habt mal wieder ein gutes Timing. Anfang des Jahres wollen wir evtl. eine Castle Falkenstein-Runde anfangen. Vermutlich erstmal das System mit einem One Shot antesten (könnte etwas zu simpel für uns sein). Bin gespannt wie das wird, weil ich noch nie Steampunk gespielt habe. Aber so langsam entwickle ich eine Vorstellung. Kennt Ihr noch weitere Steampunk-Systeme? Idealerweise dürfen sie auch etwas komplexer/taktischer sein.

  2. Adventure! von White Wolf passt sicher noch rein, auch wenn es erst in den 20er Jahren spielt und eher Pulp ist. OGL Steampunk auch noch, wobei ich das nicht gespielt habe. Sorcery & Steam von FFG noch, habe ich aber auch nicht gespielt. Ganz abgefahrene Settings sind dann noch Vampire-The Victorian Age, die mit Steampunk Regeln erweitert wurden ;)

  3. Und abgesehen davon sind die Iron Kingdoms eine Menge, aber kein Steampunk. Das ist schlicht Fantasy mit ein paar Dampfmaschinen und großen, kohlebetriebenen Robotern :) Wenn auch gut gemacht.

  4. Wenn es um Fantasy mit Dampf geht, sollte unbedingt noch Eberron erwähnt werden. Gefällt mir sehr gut, weil es sehr viele clevere Details hat und nicht einfach nur a la „Mash Up ist cool“ daher kommt.

  5. Manchmal sind Worte eben Schall und Rauch.

    Bei Cyberpunk kann man sich noch drueber streiten, wieviel man in das Wort reininterpretieren moechte.

    Steampunk ist einfach eine Variante, die noch dazu mit Cyberpunk sehr wenig gemein hat. Steam steht fuer nicht mehr als Dampfzeitalter, und mit Punk hat das alles genau gar nichts zu tun.

  6. […] Steam­punk ist ein Genre, wel­ches seit eini­gen Jah­ren immer stär­ke­ren Auf­wind bekommt. Der Ver­lag Feder&Schwert hat mit dem Auto­ren­pär­chen Judith und Chris­tian Vogt zwei auf­stei­gende Sterne im Bereich der fan­tas­ti­schen Kri­mi­na­lis­tik ent­deckt.  Die zer­bro­chene Puppe  ent­führt den Leser in eine alter­na­tive und viel­leicht auch zivi­li­sier­tere Welt, in der mäch­tige Luft­schiffe durch die Him­mel glei­ten und Dampf­tech­no­lo­gie die Indus­trie dominiert. […]

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