Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Der neue Stephenson ist endlich wieder High Tech, wenn er es auch nur bis in die Gegenwart geschafft hat. Als besonderes Schmankerl für das hiesige Blog sei erwähnt, dass ein MMORPG eine zentrale Rolle spielt. Aber auch außerhalb von T’Rain macht der Roman eine Menge Spaß.

Erscheinungsbild

Als ich das Buch bei meinem lokalen Händler bestellt habe, war ich erstmal baff ob des Preises: knappe 20€ für ein englisches Paperback (bei Amazon 15€)?! Die liegen doch sonst eher um die sieben?! Was soll’s. Snow Crash war einer der besten Romane der zweiten Generation des Cyberpunk-Genres und Cryptonomicon war ein herausragender High Tech-Thriller für alle Technik Freaks und Computer Geeks. Nachdem ich den Barock-Zyklus irgendwie verschlafen habe, lockt Stephensons aktueller Roman, Reamde, nun mit einer Story, die sich um MMORPGs dreht. Her damit.

Als das Buch dann da war, habe ich verstanden. 1,2 Kg bringt der Schmöker auf die Waage und sprengt mit seinem übergroßen Format zumindest meine Vorstellung von einem ‚Taschenbuch’. Trotz des Umfanges von über 1000 Seiten kann man es vernünftig lesen, ohne dass die Bindung zerfleddert oder sich auch nur diese hässlichen Wülste am Buchrücken bilden. Wer noch die guten alten Heyne Taschenbücher kennt, weiß das sicherlich zu schätzen (ich sag nur: Moorcocks Sage vom Ende der Zeit). Auch der Seitenschnitt ist ausreichend großzügig bemessen, so dass dem Lesevergnügen weder Finger noch der Mittelknick im Weg sind. Das Cover kommt im edlen Prägedruck. Warum habe ich nur immer wieder den Eindruck, dass in UK und USA mehr Liebe in die Gestaltung gesteckt wird als in Deutschland?

Die Fakten:

  • Autor: Neal Stephenson
  • Broschiert: 1044 Seiten
  • Verlag: Atlantic Books; Auflage: Trade Paperback. (September 2011)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: 1848874502
  • ISBN-13: 978-1848874503
  • Bezugsquelle: Amazon (zum Produkt)

Story

Wie auch in seinen anderen Büchern liefert Stephenson hier eine Menge sehr plausibler Charaktere mit eigenen Motivationen, woraus sich gleich mehrere Handlungsstränge ergeben. Diese werden immer wieder anhand unterschiedlichster Personenkonstellationen und Ereignisse verknüpft, um sich danach wieder ihrem eigenen Fortgang zu widmen.

Die zwei Einstiegsplots seien kurz angerissen: Richard Forthrast, ein sympathischer ehemaliger Marihuana-Schmuggler, hat sein Vermögen in ein MMORPG namens T’Rain investiert und dank eines sehr cleveren Marketings sowie zahlreicher grandioser Details den bisherigen Marktführer WoW an den Rand gedrängt. Wer schon seit längerem ein Online-RPG zu programmieren plant, sollte sich allein schon als Inspiration für ein Geschäftsmodell Stephensons Wälzer zulegen ;) Geheimnis des Erfolges ist unter anderem, dass das Spiel einige Features bietet, die chinesischen Goldfarmern die Arbeit massiv erleichtert. Einige besonders kreative Verdiener sind nun auf die Idee gekommen, per Virus die Daten einzelner Spieler zu verschlüsseln und sie erst dann wieder freizugeben, wenn in einem bestimmten Landstrich T’Rains eine Menge Goldstücke deponiert wurde.

Dummerweise wird mit diesem Virus auch der Computer eines Mittelsmannes der russischen Mafia infiziert, als dieser gestohlene Kreditkartendaten einkauft. Seine Auftraggeber sind darüber natürlich gar nicht glücklich und kidnappen kurzerhand den Verkäufer der Daten sowie dessen Freundin – eine Nichte Forthrasts -, um mit deren beiden Computer-Know How die Virusprogrammierer ausfindig zu machen und zu stellen. Der Sturm auf die Unterkunft der Hacker in einem Wohnblock in Südchina führt dabei zu einer sehr entscheidenden Wendung des Romans, die zwar sehr unwahrscheinlich ist, aber nichtsdestotrotz möglich. Ab hier geht’s dann richtig rund.

Schreibstil

Reamde kommt in gut verständlichem Englisch daher. Leute mit nur kleinem Vokabular sollten aber zur Sicherheit ein Wörterbuch daneben liegen haben. Man merkt, dass da jemand nicht nur beim Ersinnen der Story kreativ ist, sondern auch mit Sprache umgehen kann. Insgesamt liest sich das Buch daher sehr flüssig und schnell. Auch der für Stephenson typische Humor ist vertreten, wenngleich er hier etwas dezenter daherkommt (deswegen aber nicht weniger witzig).

Was negativ auffällt ist, dass der Autor zwischendurch den Überblick verloren zu haben scheint, so dass es zu unnötigen Doppelbeschreibungen und Anschlussfehlern in einzelnen Szenen kommt. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um Dinge, die relevant für die Story sind, aber lästig ist es allemal. Als Beispiel seien Gäste genannt, die ein bereits leeres Internetcafe während einer Konfrontation zwischen Hauptcharakteren verlassen, oder eine Figur, die sich erst mit falschem Namen vorstellt, aber später trotzdem für beide Seiten völlig selbstverständlich mit ihrem richtigen Namen angesprochen wird.

Preis-/Leistungsverhältnis

Ich weiß ja nicht, wo derzeit der Papierpreis liegt, aber ich habe durchaus schon weniger Buch für mehr Geld gekauft. Und ich habe mich auch schon bei gleichem Preis schlechter unterhalten gefühlt. Das hier ist ein echter ‚Bang for the buck’. Ich wäre nicht überrascht, wenn die deutsche Ausgabe in zwei Bänden á 15€ käme. Wer dieses Buch aber in der Bahn lesen will, sollte die zusätzliche Anschaffung eines kleinen Rucksacks mit einplanen ;)

Fazit

Bis auf die erwähnten, kleineren Mankos ein großartiges Buch. Reamde liefert ein paar süffisante Seitenhiebe auf WoW und Konsorten, legt etwa ab Seite 250 ein Tempo vor, dass man den Roman nur schwer wieder beiseite legen kann – und behält dieses bis zum Ende fast durchgängig bei. Dabei gibt es sowohl in der virtuellen als auch in der realen Welt eine Menge Action, die die der jeweils anderen immer wieder beeinflusst. Definitive Kaufempfehlung für alle Fans von komplexen High Tech Thrillern, Leser mit einer Vorliebe für schnelle, unterhaltsame Geschichten sowie zur Selbstironie fähige Spieler von MMORPGs.


Daumen5maennlich

Artikelbild: © Atlantic Games

6 Kommentare

  1. Schöne Rezi (und vor allem umfangreich!), hört sich gut an und klingt nach einem Buch für mich :) Allerdings schreckt mich der schiere Umfang doch etwas ab, da ich normalerweise eher weniger mit einem Rucksack unterwegs bin… mal gucken.

  2. Was Umfang und auch Preis angeht hilft dann ein Kindle / die Kindle App auf einem Tablet nach Wahl… da kostet das „Buch“ dann auch unter 6 EUR :)

  3. […] Near-Science-Fiction Roman Reamde von Neal Stephenson wurde vom Teilzeithelden Günther analysiert und kommt dabei durchaus gut weg. […]

  4. Zu den angeblichen „Mankos“:

    1) Es ist bereits morgens, als die Gäste anlässlich der Auseinandersetzung das Internet-Café _wieder_ verlassen. Auf den Umstand, dass dieses es zuvor betreten haben wurde hingewiesen.

    2) Die Identität der Figur wird von Richard (der Zugriff auf T’Rains Datenbank hat) enthüllt. Erst danach wird er mit seinem richtigen Namen angesprochen.

    Spitzfindigkeiten zu Spitzfindigkeiten :)

  5. @haknam

    Ich meinte nicht die Szene mit Seamus kurz vor dem Showdown. Auch wenn ich gern wüßte, wie er direkt weiß, daß der Soldat, der vor ihm steht, eben jener ist (und warum der widerum sich nicht wundert). Ich meinte vielmehr die British Spy Chick, deren echten Namen Richard am Ende wohl per göttlicher Eingebung erfährt ;)

    Wegen des Internet-Cafes müßte ich jetzt nochmal suchen… Ist ja doch ein ziemlicher Wälzer.

    Aber Du hast eh recht: es sind Spitzfindigkeiten, die zumindest bei mir den Lesespaß schlimmstenfalls sekundenweise getrübt haben. Wie findest denn Du den Roman?

  6. eine wirklich gute rezension. ohne eher abgeschmackte verrrissversuche.Klar und vernünftig beschrieben.bleibt nur die hoffnung auf eine gute Übersetzung.denn imCryptonomicon gehts wirklich erst ab Seite1000 oder so.ich meine im Sinne von flüssig. danke jflls.für die gelungene Empfehlung

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