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Vor mir liegt die zweite Edition der Quellenbandes „Deutschland – blutige Kriege & goldene Jahre“ für das „Cthulhu 1920“-Setting. Entgegen des Formats der ersten Edition handelt es sich dabei nicht mehr um eine Box (aufgeteilt in: Hintergrundmaterial, Abenteuerband, Deutschland-Karte), sondern nun um ein gewichtiges Hardcover. Ich hätte gerne beide Versionen direkt miteinander verglichen, diese Möglichkeit schied aber leider aus zeitlichen Gründen aus.

Erscheinungsbild

Mit 384 Seiten bekommt man hier auf jeden Fall eine Menge geboten, die Bindung macht trotz der Kombination aus Seitenzahl und Gewicht ebenfalls einen sehr guten Eindruck. Hier werde ich mir vermutlich auch bei längerem Gebrauch keine Sorgen um lose Seiten machen müssen.

Das Layout des Bandes gefällt mir prinzipiell sehr gut, in der Regel sind die Seiten in zwei Spalten aufgeteilt und mit interessanter Bebilderung versehen. Besonders die Menge zeitgenössischer Fotos empfinde ich als durchaus hilfreich, um sich ein wenig besser in die beschriebene Epoche hineinversetzen zu können. Ich hatte lediglich an einzelnen Stellen, aufgrund des Einschubs von Textboxen, gewisse Probleme dem Textfluss zu folgen. Da würde mich interessieren, ob andere Leser dieses Problem auch hatten oder ob es schlicht an mir liegt.

Harte Fakten:

  • Verlag: Pegasus Spiele (2011)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3941976346
  • ISBN-13: 978-3941976344
  • Größe und/oder Gewicht: 30,4 x 21,6 x 2,8 cm
  • Bezugsquelle: Amazon (Link zum Produkt)
  • Preis: 39,95 EUR

Inhalt

Blutige Kriege, Goldene Jahre Cover

Der Band glänzt durch eine klare Sortierung in einzelne Themenkomplexe, ein detailliertes Inhaltsverzeichnis, sowie ein gescheites Stichwortverzeichnis (Index). Weiterhin gibt es netterweise grundsätzlich auf der oberen linken Seite die Möglichkeit durch minimales Aufschlagen der jeweiligen Seite zu erkennen, in welchem Abschnitt des Buches man sich gerade befindet. Eine, wie ich finde, sehr nette Idee zum schnellen Durchsuchen, ergänzt sich in meinen Augen prima mit den sonstigen „Suchfunktionen“.

Unterteilt ist das Buch in insgesamt 12 Kapitel und beginnt zunächst, nach einem kurzen Vorwort, mit einer Beschreibung der politischen Lage im Deutschland der 20er Jahre.

Neben Pflichtthemen, wie dem Versailler Vertrag und dem Ruhrkampf, erhält man hier einen grundsätzlichen Überblick über die politischen Strukturen der Zeit und den schleichend größer werdenden Einfluss der Nationalsozialisten in den späten 20er Jahren.

Als weiteres Basiskapitel folgt dann „Das normale Leben“, mit gut 30 Seiten das längste Themenkapitel. Hier erhält der geneigte Leser in komprimierter Form eine Zusammenstellung der zentralen Themen des alltäglichen Lebens in den nicht immer so goldenen Jahren: Tod, Krankheit, verstümmelte Kriegsheimkehrer, generell schlechte Lebensverhältnisse und Nahrungsversorgung sind eine Seite der Medaille.

Auf der anderen Seite findet sich das, was man gemeinhin mit den 20er Jahren verbindet: Musik, Mode, Exzesse. Neben einer kurzen Abhandlung über die Mode der Zeit findet man hier zudem Hinweise zu Benimmregeln oder gar dem „Speiseplan“, sowohl in der Arbeiterklasse als auch im gehobenen Bürgertum.

Zusätzlich gibt es an dieser Stelle interessante Hinweise zum Hochschulwesen Deutschlands (inklusiver optionaler Regeln für Charaktere aus diesem Milieu), dem Phänomen „Studentenverbindung“ und dem ersten Erscheinen einer fernöstlichen Kampfkunst in Deutschland: Jiu-Jitsu. Auch hier werden direkte Regelhinweise zur Einbindung der neuen Fertigkeit gegeben.

Nach der inhaltlichen Grundsteinlegung in den ersten beiden Kapiteln folgen darauf nun die Themenkapitel: Wirtschaft, Reisen und Verkehr, Freizeit, große Unterhaltung, Lust und Laster, Wissenschaft und Technik, Kriminelles und Rechtliches.

In jedem der Abschnitte erhält der Leser einen guten Überblick über die bestimmenden Aspekte des jeweiligen Themas und gewinnt so zunehmend ein tieferes Gefühl für den „Puls der Zeit“. Gleichzeitig eine gute Möglichkeit für den Spielleiter einige Anhaltspunkte für eventuelle Szenarien zu sammeln.

Kapitel wie bspw. „Reisen und Verkehr“ sind meinem Empfinden nach zentral um zu verstehen, wie sich die zunehmende Mobilisierung der Bevölkerung durch Massentransportmittel sowie die individuelle Mobilisierung durch den Vormarsch des Automobils auf die Gesellschaft auswirkten. Wo man wenige Jahre zuvor noch den Fortschritt durch die Eisenbahn bejubelte, geht es nun um einen noch weit größeren Bewegungsradius durch das Aufkommen der ersten Flugreisen. Die Welt wird zunehmend kleiner, ein Faktor der gerade bei der Entwicklung eines Abenteuers oder einer Kampagne von größter Wichtigkeit sein kann.

Weiterhin halte ich die Abschnitte über Wirtschaft und Kultur der 20er Jahre für unbedingt wichtig, da erst dort klar wird, warum man eigentlich von den „Goldenen Jahren“ spricht. Erst durch die Depression und das Kriegstrauma öffneten sich überhaupt Tür und Tor für die berühmt-berüchtigten Exzesse in den Jazzclubs, die amourösen Abenteuer und das Entstehen der zunehmend wichtigeren Filmindustrie.

Abgerundet wird der Themenkomplex des Quellenbandes durch eine knappe Schilderung des technologischen Fortschritts der 20er Jahre, sowie einem Exkurs über das Rechtssystem der damaligen Zeit. Auch hier wieder ein besonders interessantes Kapitel für Spielleiter, denn hier findet sich nicht nur Handwerkszeug, um das Leben der Charaktere „interessanter“ zu machen, sondern auch Hinweise auf bedrohliche Ereignisse in Deutschland, unter anderem werden hier die Machenschaften des Massenmörders Fritz Haarmann sowie die politischen Morde der Brigade Ehrhardt angesprochen.

Am Ende der Themenkapitel finden sich nun zwei Abschnitte mit besonderem Interesse für den Spielleiter,  nämlich Hinweise auf die damals florierende Esoterik, die Verbreitung der ariosophischen Mystik sowie dem wachsenden Bewusstsein für archäologisch bislang weitgehend unerschlossene „Kulturgüter“ Deutschlands. Auf jeden Fall zwei interessante Kapitel, sollte man nach plausiblen und zeitlich passenden Ansätzen für Mythos-Einfluss im Deutschland der 20er-Jahre suchen.

Im vorletzten, mit gut 50 Seiten sehr umfangreichen, Abschnitt finden sich die sogenannten „Spielhilfen“. Hier werden neben einflussreichen Persönlichkeiten der Zeit unter anderem auch Archetypen für die Erschaffung von Spielercharakteren angeboten oder gar Preislisten für diverse Konsumgüter. Abgerundet wird das Kapitel durch eine knapp geraffte Zeitleiste sowie einem kurzen Text zu den besonderen Schwierigkeiten bei dem Darstellen weiblicher Charaktere innerhalb des bespielten Zeitabschnitts. Auch hier findet sich wieder eine grobe Gliederung ähnlich der Unterteilung der einzelnen Themenkapitel.

Zu guter Letzt findet man am Ende des Quellenbandes drei beigefügte Abenteuer: „Tempus fugit!“, „Gefrorene Angst“ und „Bilderwahn“.

„Umfangreich ausgearbeitet, detailverliebt und mit ansehnlichen Handouts bestückt“ wäre eine Möglichkeit, die drei Abenteuer zu beschreiben, gleichzeitig möchte ich jedoch anmerken, dass mir der Verlauf der Abenteuer ein Stück zu geplant wirkt. Mehr nachgespielter Film als tatsächlich durch die Spieler generierter Handlungsablauf. Sicherlich gelungene Abenteuer, um neue Spieler mit der Welt von Cthulhu vertraut zu machen, zumal die Geschichten teilweise auf den bereitgestellten Charakteren fußen, jedoch weniger geeignet, um sie bspw. in eine eigene Kampagne einzubinden.

Sollte ich Zeit dafür finden, möchte ich mir da noch eine fundierte Meinung bilden und eines der Abenteuer testweise spielen. Interessantes Gimmick: Jedem der Abenteuer ist ein kleiner Erfahrungsbericht aus einer Testrunde angehängt.

Ein besonderes Schmankerl findet sich am Ende des Buches: auf der Innenseite des rückwärtigen Einbandes ist ein kleines Täschchen mit einer zeitgenössischen Karte Deutschlands im Format Din-A2 versteckt. Der erste Eindruck ist ein wenig verwirrend, auf der Rückseite der Karte sind jedoch zu vielen Städten Koordinaten aufgelistet, um die Orte schneller auf der Karte lokalisieren zu können.

Preis-/Leistungsverhältnis

„Blutige Kriege & goldene Jahre“ bringt für knapp vierzig Euro eine Menge mit: historisch fundierte und gut ausgearbeitete Themenkapitel, brauchbare Spielhilfen sowie drei Out-of-the-box-taugliche Abenteuer. Gratis dazu noch eine hübsche Karte.

Bonus/Downloadcontent

Die Handouts aus den drei Abenteuer sind als Reintext-PDF über die Pegasus-Seite erhältlich, meiner Meinung nach aber unpraktisch, da nicht wirklich spieltauglich formuliert, aber zumindest in einem einfach lesbaren Schrifttyp. Wer sich also nicht durch die teilweise in Handschrift-Layout verfassten Handouts arbeiten möchte, kann hier die Abkürzung nehmen.

Fazit

Ich kann nur erahnen, wie viel Recherche-Arbeit hinter den einzelnen Themenkapiteln steckt, habe aber aus meinem Geschichts-Studium eine vage Vorstellung davon, wie schwierig es mitunter sein kann, an konkreten Daten zu kommen. Ein Beispiel: die Auflistung der damals verfügbaren Tageszeitung inkl. Auflage-Stärke, Ausgabenanzahl, Gründungsjahr usw. sowie ihrer politischen Einordnung (Kapitel „Spielhilfen“). Noch genauer wird es vermutlich auch in rein zu akademischen Zwecken angelegten Quellensammlungen nicht zu finden sein. Wer sich nun die Autorenliste durchliest wird feststellen, dass die Liste der Beteiligten entsprechend lang ist und demnach vermutlich etliche Arbeitsstunden bei der Neuauflage der erfolgreichen Box eingesetzt wurden.

Einzelne Punkte aus den jeweiligen Kapiteln habe ich übrigens flüchtig nach-recherchiert und bin dabei bislang auf keine Diskrepanzen gestoßen. Im Gegenteil bin ich sogar auf einige Dinge gestoßen, die mir bislang unbekannt waren und sich in der Zukunft vermutlich für eine eigene Runde als nützlich erweisen werden. Vor der geleisteten Arbeit des Autorenteams möchte ich daher meinen Hut ziehen.

Die Kehrseite dieser Darstellung ist meiner Ansicht nach, dass die Cthulhu-spezifischen Verknüpfungspunkte ob der eigentlich großen Bandbreite des Quellenbandes eher schmal ausfallen. Unter den Personenbeschreibungen (Kapitel „Spielhilfen“) findet sich zum Eintrag „Adolf Hitler“ eine erklärende Box mit einem Hinweis darauf, dass man sich zwar dem Einfluss der Person für die damalige Zeit durchaus bewusst sei, dass man aber aus offensichtlichen Gründen darauf verzichte, besagte Person stärker in das Spielgeschehen einzubinden, als es die persönliche Historie Hitlers vermutlich zugelassen hätte.

Der spätere „Führer“ war immerhin ein fanatischer Anhänger der Ariosophen und zugleich eine zunehmend wichtigere Figur in der politischen Landschaft Deutschlands. Schlussfolgere ich daraus, dass man dann u.U. auch in anderen Punkten ähnlich defensiv verfuhr, würde sich zumindest erklären, warum man die archäologischen Bestrebungen der Ariosophen nicht beispielsweise als Kultisten-Aktivitäten verwendete.

Befasst man sich ein wenig mit den Projekten des O.T.O. oder Personen wie Liebenfels, Weißthor oder von Sebottendorf, könnte man nämlich durchaus mutmaßen, dass vielleicht die eine oder andere Entität aus dem reichhaltigen Mythos-Sortiment seine Finger im Spiel gehabt haben könnte.

Aber die Welt ist durchaus größer als der braune Horizont zulässt. Von daher wäre eine Frage/Antwort-Runde mit den Autoren mal interessant, um diesen Punkt konkret anzusprechen. Über ein Statement zu diesem Punkt würde ich mich freuen.

Letztlich muss sich jeder Spieler bzw. Spielleiter selbst überlegen, wie weit er mit den Vorbereitungen für eine Runde bzw. ein Setting gehen möchte. Material bekommt man hier genug geboten, vielleicht sogar mehr, als man tatsächlich brauchen wird. Man sollte sich jedoch  auch der Tatsache bewusst sein, dass man als Spielleiter eine gewisse Verknüpfungsarbeit zu leisten hat, um für ein eigenständiges Kampagnen-Setting die dargebotenen „losen Enden“ mit Cthulhoidem zu füllen.

Positiv gewendet könnte man aber auch sagen: der Band ist nicht nur für Cthulhu nützlich, sondern aufgrund seiner begrenzten Menge an Hinweisen auf den Mythos prinzipiell auch für jedes andere in der Zeit angesiedelte Rollenspiel tauglich. Unter anderem spielt Adventure! in dieser Zeit.

Artikelbild: © Pegasus Spiele

7 Kommentare

  1. Die Quellenbücher zu Cthulhu scheinen mir immer ein wirklich hohes Niveau zu halten, zumindest was ich bisher gehört und gesehen habe. Etwas schade finde ich (da stimme ich Dir zu), dass es wenig Informationen über den Mythos gibt – grade das hätte ich interessant gefunden. Aber das liegt wohl in der Natur der Sache – der Mythos ist halt nicht an jeder Ecke zu finden :)

  2. Ich hab die Box, und der gegenüber scheint sich nicht viel geändert zu haben. Zustimmung hierzu:

    „Die Kehr­seite die­ser Dar­stel­lung ist mei­ner Ansicht nach, dass die Cthulhu-spezifischen Ver­knüp­fungs­punkte ob der eigent­lich gro­ßen Band­breite des Quel­len­ban­des eher schmal aus­fal­len.“

    Gerade deswegen habe ich die Box immer gemocht, denn ich mag den Horror in Weimar, aber mit „kosmischem Grauen“ konnte ich stets wenig anfangen.

  3. @ Michael: freut mich wenn dir der Text gefallen hat. Wenn zu Zeit und Lust haben solltest, schreib doch mal ein paar Zeilen wenn du das Buch in Händen hattest. Mich würde dein persönlicher Eindruck interessieren.

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