Geschätzte Lesezeit: 10 Minuten

Schon die Rezension von Hell4Leather hat gezeigt, dass man von BoxNinja Rollenspielsysteme mit unkonventionellen Ansätzen erwarten darf. Diesmal stelle ich Euch ein weiteres,  umfangreicheres, Spiel vor: Das Near-Future-Erzählspiel „Remember Tomorrow“.

Erscheinungsbild

Das recht dünne Heft im Format A5 kommt als Softcover mit 48 s/w-Seiten daher. Die Verarbeitung ist angemessen, die Bindung ist ordentlich. Das Schriftbild ist flüssig lesbar und durch passende Grafiken aufgelockert. Der Schreibstil passt zum Cyberpunk-Genre, der Text ist bis auf ein, zwei Haker gut lesbar und verständlich.

Die harten Fakten:

  • Softcover: 48 Seiten
  • Verlag: BoxNinja
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: nicht auffindbar
  • ISBN-13: nicht auffindbar
  • Bezugsquelle: BoxNinja, DriveThruRPG
  • Preis: 3,62 EUR bei DriveThruRPG (PDF), 10 Dollar bei BoxNinja (Print)

 

Die Spielwelt

Remember Tomorrow hat sich dem Near Future Roleplaying verschrieben und wendet sich an Fans des Genres. Deshalb hat man sich eine komplexe Weltbeschreibung erspart. Stattdessen spielt das Spiel „20 Minuten in der Zukunft“ an einem Ort genannt „Elsewhere“ („Irgendwo anders“).

Die Geschichten konzentrieren sich dabei nicht nur auf ausgesuchte Hauptcharaktere und deren gemeinsames Abenteuer, sondern stattdessen auf eigenständig handelnde Charaktere mit eigenen Zielen und eigenen Ansichten. Davon gibt es sogar mehr als Spieler am Tisch sitzen.

Diese Charaktere verfolgen ihre Ziele, und der Laufe der Geschichte sorgt dafür, dass sich dabei ihre Wege des öfteren kreuzen. Das Spiel ist im ständigen Fluss, es gibt keine klare Abgrenzung, wann das Szenario geschafft oder das Abenteuer bestanden ist. Als Abgrenzung einzelner Episoden gilt: Wenn drei Charaktere oder Gegenspieler ihre Ziele erreicht haben, ist eine Episode beendet. Wer das sein wird, hängt von der gemeinsamen Erzählung aller Spieler ab.

Es werden im Text Tipps gegeben, wie man diese fiktive Welt besser darstellen kann, beispielsweise durch Namenslisten zum Auswürfeln, typische Schauplätze, typische Professionen für die Charaktere etc. Im Großen und Ganzen muss man aber sagen: Wenn sich die Spieler unter einem Cyberpunk-Setting etwas vorstellen können, dann haben sie auch eine Spielwelt. Können sie sich dagegen unter Cyberpunk nichts vorstellen, wird ihnen auch nur wenig Hilfestellung geboten. Das System wendet sich also eindeutig an Genre-Kenner.

In der Testrunde gab es noch eine interessante Anmerkung: Das System ansich kann auch für alle möglichen anderen Genres funktionieren, es ist also durchaus nicht auf das Cyberpunk-Setting festgelegt. Es eignet sich für alle Settings, in dem es viele Personen mit eigenen Zielen gibt, beispielsweise wurde eine Wildwest-Kleinstadt genannt.

Die Regeln

Das Spielprinzip von Remember Tomorrow ist völlig anders, als man es vom klassischen Rollenspiel gewohnt ist. Wie bereits erwähnt, handelt hier nicht eine Gruppe von Charakteren, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Stattdessen handeln eine handvoll eigenständiger Charaktere, um jeweils ihre eigenen Ziele zu erreichen. Dazu kommt, dass es bei Remember Tomorrow keinen Spielleiter gibt. Zumindest keinen feststehenden.

Es gibt zwei Arten von Charakteren: „Gehaltene“ („held“ engl.) Charaktere und Pool-Charaktere. Gehaltene Charaktere sind die Charaktere, die ein Spieler vor sich liegen hat und aktiv spielt. Jeder Spieler hält dabei immer genau einen Charakter. Pool-Charaktere sind alle Charaktere im Spiel, die gerade von keinem Spieler gehalten werden.

Charaktere

Jeder Charakter hat neben seinem Namen und seiner Profession ein persönliches Ziel. Das Ziel kann der Spieler frei festlegen, es sollte allerdings im Kontext der Geschichte Sinn machen.

Zusätzlich hat jeder Charakter drei Parameter: Ready, Willing und Able (Bereit, Entschlossen und Fähig). Diese Parameter bestimmen, wie gut die Chancen des Charakters sind, sein persönliches Ziel zu erreichen.

Damit ein Charakter sein persönliches Ziel erreicht, müssen auf seinem Charakterbogen im Laufe der Geschichte drei Häckchen in drei Felder gesetzt werden, die ebenfalls Ready, Willing und Able heißen. Dann wird der Charakter aus der Geschichte herausgeschrieben, und der Spieler darf beschreiben, wie der Charakter sein Ziel erreicht.

Es gibt für jeden Charakter noch 10 positive und 10 negative Konditionen (PCons, und NCons). Das sind Konditionen wie „Überzeugt“, „Vernetzt“, „Wütend“, „Bewaffnet“ (positiv) oder aber „gedemütigt“, „verletzt“, „im Sterben begriffen“ (negativ). Bei der Charaktererschaffung wählt der Spieler eine positive und eine negative Kondition, die einfach auf dem Charakterbogen angekreuzt wird.

Zusätzlich zu den Charakteren gibt es noch Gegenspieler, sogenannte Factions. Diese können Einzelpersonen oder Gangs sein, oder was auch sonst den Spielern einfällt. Eine Faction hat nicht die drei Parameter Ready, Willing und Able, sondern stattdessen nur den Parameter Influence. Auch Factions haben PCons, NCons und ein Ziel.

Würfeln

Würfe bei Remember Tomorrow sind einfach: Man würfelt 3W10. Bei Interessengemeinschaften vergleicht man alle drei Würfel mit dem Einfluss-Parameter, bei Charakteren weist man jeden Würfel einem der drei Parameter Ready, Willing oder Able zu (nach dem Wurf). Danach zählt man alle Würfel, die kleiner oder gleich dem Parameter sind, als Erfolge.

Controller und Szenen

Im Spiel selbst wechseln sich die Spieler reihum in der Rolle des sogenannten „Controllers“ ab. Der Controller beschreibt, wenn er an der Reihe ist, genau eine Szene. Dabei gibt es drei verschiedene Typen von Szenen:

Einführungsszenen (Introduction)

In einer Einführungsszene stellt der Controller einen Charakter oder eine Faction vor. Er erzählt dabei auch vom verfolgtem Ziel, und erläutert die vorhandenen Konditionen. Auf diese Weise erfahren die Mitspieler von vornherein die bei der Charaktererschaffung ausgedachte Vorgeschichte und die Motivation des Charakters.

Danach würfelt er einmal für die Interessengemeinschaft oder den Charakter. Jeder seiner Erfolge erlaubt ihm, eine positive Kondition anzukreuzen, eine negative zu entfernen oder aber einen Parameter anzuheben.

Deals

Bei einer Deal-Szene macht der eigene gehaltene Charakter des Controllers einen Deal mit einer der Interessengemeinschaften. Dies erhöht den Einfluss der Interessengemeinschaft und bringt sie ihrem Ziel näher. Im Gegenzug darf der Spieler wie bei der Einführungsszene würfeln und den Charakter verbessern.

Manche Deals werden bei der Interessengemeinschaft notiert und können ihre weiteren Handlungen beeinflussen.

Beispiel: Joe macht einen Deal mit dem Mob, um sich Waffen zu verschaffen. Er erhöht den Einfluss des Mob damit um 1, dann würfelt er einen Erfolg und darf ihn verwenden, um die Kondition „armed“ (bewaffnet) anzukreuzen.

Konfrontationen (Face Off)

Das Herzstück des Spieles sind die Face Off-Szenen. In diesen Szenen sucht sich der Controller einen der gehaltenen Charaktere der anderen Spieler aus (nicht den eigenen) und beschreibt eine Konfrontation mit einer Interessengemeinschaft, einem Pool-Charakter oder dem eigenen gehaltenen Charakter.

Dabei beschreibt er ein Szenen-Ziel, welches beispielsweise ist, dem ausgewählten Charakter eine negative Kondition zu verpassen, einen seiner Ziel-Marker zu entfernen oder aber einen seiner Parameter zu senken.

Der betroffene Spieler beschreibt jetzt ebenfalls ein Szenen-Ziel, beispielsweise „dem Angriff entkommen“ oder „dem Angreifer seine Waffen wegnehmen“ (und selber „armed“ ankreuzen).

Danach würfeln beide Seiten und zählen ihre Erfolge. Hier kommen Konditionen ins Spiel: Vor dem Wurf darf man eine positive Kondition entfernen, um einen automatischen Erfolg zu erhalten. (Beispiel: Joe benutzt seine Waffen, um sich Zutritt zum Club zu verschaffen. Er streicht „armed“ wieder weg und erhält einen Auto-Erfolg.). Man darf alternativ auch nach dem Wurf eine positive Kondition streichen, um den Wurf zu wiederholen.

Der Spieler mit den meisten Erfolgen ist der Gewinner der Szene. Bei Gleichstand gibt es Regeln, um einen Gewinner zu bestimmen Steht am Ende kein klarer Gewinner fest, sind alle Beteiligten Gewinner der Szene.

Gibt es einen klaren Gewinner, dann gibt es auch einen klaren Verlierer. Der Verlierer einer Szene darf jetzt noch eine negative Kondition des Gewinners streichen, um dessen Vorsprung an Erfolgen zu verringern. (Das ändert aber nichts mehr daran, dass er der Verlierer der Szene ist.)

Der Gewinner einer Szene bekommt sein Szenen-Ziel geschenkt (darf also beispielsweise dem Gegner die angedrohte „verletzt“-Kondition geben. Zusätzlich darf er noch die Erfolge, die er als Vorsprung hat, ausgeben, um damit sich oder dem Gegner Konditionen zu geben oder zu streichen (Positiv oder Negativ, das ist egal), Parameter zu erhöhen oder zu senken (auch beim Gegner) oder, und das ist beinahe das wichtigste, versuchen, seinem Ziel einen Schritt näher zu kommen. Dazu würfelt er mit einem Würfel auf einen der drei Parameter R, W oder A und darf bei einem Erfolg das entsprechende Feld beim Ziel ankreuzen.

Wenn der Controller mit einem Charakter gewinnt, der nicht sein eigener (also ein Pool-Charakter) ist, darf er sich einen Edge-Würfel nehmen und bei irgendeinem folgenden Wurf einsetzen, um seine Chancen zu verbessern.

Charakterwechsel

Am Ende einer Szene darf der Controller seinen gehalteten Charakter gegen einen der Pool-Charaktere austauschen.

Verbindungen zwischen Szenen

Wenn beim Würfeln ein Pasch fällt, hat die aktuelle Szene Auswirkungen auf die Folgeszene. Ein Dreier-Pasch erzeugt dabei eine Stärkere Verbindung als ein Zweier-Pasch.

In diesem Fall beendet der Controller die Szene ganz normal, der nächste Controller muß aber irgendein Element der Szene in die nächste Szene mitaufnehmen. Das können ein Charakter oder eine Faktion sein, die an der Szene beteiligt waren, oder aber beispielsweise auch eine Reaktion auf die Handlung der Szene.

Spielbarkeit und Spielbericht

Wenn man sich einmal an das völlig andere Spielprinzip gewöhnt hat, spielt sich das Spiel sehr flüssig. Die Szenen gehen schnell von der Hand, und die Pasche erzwingen mehr und mehr Verflechtungen zwischen den einzelnen Geschichten.

Bei der Testrunde waren einige Punkte am Anfang unklar, aber die Blicke ins Regelbuch sind spätestens seit der fünften Runde immer seltener geworden.

Wenn man sich einmal von der Vorstellung, „seinen“ Charakter zu spielen, gelöst hat, gibt man diesen auch mal in den Pool gibt, damit er sich entwickeln kann. Im Pool steht der Charakter prinzipiell jedem zur Verfügung, aber er verbessert sich dort auch am stärksten – weil er bei mehr Face-Offs eingesetzt werden kann, als wenn er vor einem liegen würde. Um allerdings eine Zielbox zu markieren und damit den Charakter seinem Ziel näher zubringen, muss er gehalten werden, und ein anderer Controller muss ihn in einen passenden Face-Off verwickeln.

Diese Mechanik sorgt dafür, dass die Controller sich untereinander die Bälle zuwerfen müssen und keiner nur für sich spielen kann. Ein Spiel gegeneinander kommt damit gar nicht erst auf.

Uns ist aufgefallen, dass Interessengemeinschaften sehr schnell Erfolg in ihren Zielen haben und raus geschrieben werden, wenn man nicht aufpasst. Hier sind alle Spieler gefragt, denn die Antagonisten sollten im Spiel bleiben, da sonst einige Charaktere ihre Ziele nicht mehr erreichen können. Allerdings, wenn das geschieht, ist es kein Fehler – es kann durchaus passieren, dass der korrekte Bulle, der die Korruption der Polizeigewerkschaft auflösen will, leer ausgeht, weil die Gewerkschaft sich soweit festigt, dass sich alle Köpfe in der Politik festsetzen und unser korrekter Bulle sie nicht mehr zu Fassen kriegt. That’s Life.

Außerdem ist uns aufgefallen, dass man die Face-Offs nicht nur negativ spielen muss. Es ist durchaus erwünscht, eine Konfrontation mit gemeinsamen Zielen zu schaffen. Beispielsweise könnte also ein Gangmitglied von einem anderen Charakter angesprochen werden, mit dem Ziel, ihm Waffen in die Hand zu drücken (ihm die Kondition „armed“ zu geben). In diesem Fall gibt es keine „Gegner“, sondern beide Seiten arbeiten beim Face-Off (und beim Würfeln) auf das gleiche Ziel hin.

Abschließend sind wir nach dem Spieltest übereingekommen, dass das Spiel wahrscheinlich mit mehr als 3 Spielern noch interessanter wird, aber auch mit 3 Spielern gut spielbar ist. Es ist ein schönes Spiel für zwischendurch, das Konzept funktioniert überraschend gut (nach dem reinen Lesen der Regeln hatte ich da noch einige Zweifel.) Man braucht ein paar Runden, um sich in die Mechaniken einzufinden, sobald man aber einmal raus hat, wie der Hase läuft, läuft es gut.

Preis-/Leistungsverhältnis

Für 5 Dollar bekommt man ein kurzweiliges, wenn auch eigenwilliges Spiel geboten, welches im Großen und Ganzen überzeugen kann. Für Kampagnenspiel ist das Spiel theoretisch geeignet, praktisch denke ich aber ist es eher ein typisches Zweitsystem für verregnete Nachmittage oder ausgefallene Hauptrunden. Dafür ist es sein Geld aber mehr als wert.

Bonus/Downloadcontent

Auf der Webseite zum Spiel findet man neben Charakterbögen zum Drucken auch eine sehr praktische Regelübersicht. Diese ist zwar nicht so einfach zu verstehen, wenn man den Text der Regeln nicht kennt – hat man aber beides, ist das eine durchaus nützliche Spielhilfe.

Das Spiel kann auch komplett als PDF erworben werden.

Fazit

Ein schönes Spiel für zwischendurch, nicht unbedingt geeignet für Kampagnen. Die Regeln sind schnell erlernbar, und das Konzept ist durchaus interessant.

Artikelbild: © BoxNinja

5 Kommentare

  1. Klingt für mich gar nicht nach dem, was ich unter Rollenspiel verstehe. Eher nach einem Würfelspiel mit textpassagen.

  2. Weitere Bezugsquelle: beim Sphärenmeister für 9,95€

    http://www.sphaerenmeisters-spiele.de/epages/15455106.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/15455106/Products/BNGRT01

    Schön, darüber mal eine Rezension zu sehen.

    Ich habe es selbst noch nie testen können. Freunde, die es gespielt haben, berichteten weniger übers Würfeln…
    Es ist halt ein Spielleiter-loses Rollenspiel – ist das nicht immer anders, als das was man unter Rollenspiel ursprünglich kennengelernt hat?

  3. Ich habe letztes Jahr mit Gregor Hutton auf der Spiel gesprochen und da hat er erwähnt, dass eine dt. Übersetzung in Planung sei. Ich weiß nicht ob es da einen tatsächlichen Termin gibt oder ob das Projekt vielleicht gestrichen wurde.

    Das interessiert den einen oder anderen vielleicht. Kurz nach Ostern sollte ich mehr wissen.

  4. […] Remember Tomorrow – ein Rollenspiel ohne Spielleiter […]

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