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Es gab eine Zeit und eine Welt vor WoW und vor EVE, kaum zu glauben. Und das waren die Neunziger Jahre, ab deren Mitte sich die ersten MMORPG an die Öffentlichkeit trauten. MMORPG, also Massive Multiplayer Online Roleplaying Game, ist natürlich eine gnadenlose Übertreibung für die ersten Spiele dieser Art, aber egal.

Das tatsächlich erste Spiel dieser Art ging in Deutschland im Oktober 1997 an den Start: Meridian59 (auch wenn Ultima Online-Spieler darüber noch immer gern diskutieren mögen). Man lud sich mittels seines Modems die Software von heute niedlichen 90 MB auf den PC, meldete sich an und war dann dabei, zunächst im „Tal der Trauer“ (TdT), so hieß die erste Version des Spiels. Aus heutiger Sicht ist die Grafik des Spiels natürlich absolut grottenschlecht, aber man muss die Dinge ja nach dem Standard von damals bewerten, und da war Meridian59 zwar längst nicht ganz vorn, zumindest aber auch eine ganze Weile lang nicht völlig hinten.

Man konnte ein paar optische Merkmale seines Charakters verändern, beispielsweise Haarfarbe, Frisur und Hautfarbe, doch wichtig war vor allem, wie man die zur Verfügung stehenden Punkte auf seine Grundwerte (Stärke, Konstitution, Gewandtheit, Genauigkeit, Magie, Klugheit) verteilte. Im Grunde gab es nämlich drei Optionen, einen effektiven Charakter zu erstellen: Einen reinen Kämpfer, einen reinen Magier, oder aber man wagte sich an einen Mischcharakter, der am effektivsten, jedoch auch am zeitintensivsten war. Zeitintensität war damals noch ein Faktor, denn die Neunziger Jahre bedeuteten nicht nur Internet via Modem, sondern auch Minutentaktung. Flatrates gab es damals noch nicht, so dass der Aufbau eines Charakters in Meridian59 sowie überhaupt die gesamte Spielzeit extrem ins Geld gehen konnten. Seinen Charakter beim Start zu „verskillen“, kostete praktisch bares Geld, wenn man das Spiel nicht nur als grafisch hinterlegte Chatoberfläche ansah, sondern an den Features des Spiels teilhaben wollte.

Apropos Features: Meridian59 hatte in einigen Dingen schon damals die Nase vorn, und das änderte sich auch nicht mit Erscheinen folgender MMORPG, selbst das 1999 erschienene „Everquest“ konnte bei manchen Sachen nicht mithalten. Grafisch gesehen, hinsichtlich der Weltengröße, des Umfangs, der Serverkapazitäten … natürlich waren spätere Spiele da haushoch überlegen, doch Meridian59 hatte nicht nur Charme, sondern auch hervorragende Spielmerkmale.

So konnte man selbst eine Gilde gründen, die man bei einem Gildenmeister kaufte, bei dem man auch die Namen der Ränge und so weiter festlegte. Doch das war nur die halbe Miete. Viel spannender war, dass es im Spiel verschiedene Gildenhallen zu unterschiedlichen Wochenpreisen gab, die man erwerben konnte, insofern sie noch zu haben waren. Somit musste jedes Mitglied einer Gilde einen bestimmten wöchentlichen Obolus zahlen, um die Gildenhalle erhalten zu können, was bedeutete, dass die Gilde eine große Anzahl an Mitgliedern haben musste – durchaus bedeutungsvoll in einem Spiel, bei dem die Kapazitätsgrenze eines Servers bei etwa hundert Spielern online erreicht war – oder aber, dass sie aus anderen Gründen über reichlich finanzielle Mittel verfügte. So eine Gildenhalle bot geschützten Raum für Gildenrollenspiel und –sitzungen, Kisten, in denen man Ausrüstungsgegenstände für andere Gildenmitglieder hinterlegen konnte und bedeutete insgesamt einen gewissen Status. Wer die Kosten nicht zahlen konnte, verlor die Gildenhalle … oder man verlor sie, weil eine andere Gilde einen angriff. Man konnte sich in eine solche Halle einschleichen und die Mitglieder dann in ihrer eigenen Halle töten oder von dort vertreiben. War niemand der Besitzergilde mehr dort, jedoch feindliche Charaktere, galt die Gildenhalle als übernommen.

Überhaupt war das PvP-System von Meridian59 ziemlich ausgereift und zog eine ganz eigene Dynamik hinter sich her. Startcharaktere zwischen zwanzig und dreißig Lebenspunkten waren geschützt, danach war man Freiwild für zahlreiche Playkiller (PK), die oftmals selbst nicht sonderlich stark waren, aber beispielsweise durch einen „Säuregriff“ 35-40 Punkte Schaden verursachen konnten. Für einen noch recht frischen Charakter fast immer eine letale Dosis, selbst für die älteren Semester von bis zu maximal hundert Lebenspunkten noch eine Herausforderung. Und dieser Herausforderung stellten sich auch einige Spieler, die als so genannte Hunter unterwegs waren, um die Playerkiller zu richten und die Welt von Meridian59 somit ein bisschen ruhiger und beschaulicher zu halten.
Wer starb, und zwar ganz egal, ob durch einen anderen Spieler oder im Kampf gegen ein Monster, war vollständig lootbar, also die gesamte mitgeführte Ausrüstung, Rüstung, Reagenzien und Geld … alles konnte von jedem Dahergelaufenen einfach mitgenommen werden, was für einige Leute durchaus schon den Reiz ausmachte, eine PK-Karriere anzustreben. Wer sein Hab und Gut sichern wollte, konnte eine begrenzte Menge Gegenstände in der Bank lagern, außerdem waren die Rüstungsgegenstände sehr übersichtlich: Kettenhemd oder Plattenpanzer, eine wie auch immer geartete Waffe, fertig. Lediglich Zauberreagenzien und Dinge wie ein Stärke verleihender Berserkerring nahmen neben Nahrung und Wasser, die man ebenfalls stetig brauchte und verbrauchte, Platz im Inventar ein. In späteren Spielversionen („Renaissance“, „Dark Auspice“) konnte man sich im Spiel auch eigene Zimmer mieten und dort bis zu zwei Holzkisten deponieren, um Gegenstände einzulagern.

Der Support des Spiels erfolgte nicht nur außerhalb des Spiels, sondern ebenso innerhalb. Es gab so genannte Barden mit eingeschränkten Rechten und vergleichbar mit Moderatoren sowie Guides, vergleichbar mit Administratoren. Während letztere größere Events veranstalteten wie Monsterübergriffe auf eine Stadt, das Auftauchen rätselhafter NSC und derlei mehr, an sich aber eher selten im Spiel zu sehen waren, hatten Barden eine hohe Präsenz im Spiel. Das lag vor allem daran, dass es sich bei Guides um Angestellte der Betreiberfirma handelte, die noch so einiges andere zu tun hatten, derweil Barden selbst Spieler (eines anderen Servers) waren, die ehrenamtlich diese Aufgabe übernahmen.

Bis 1999 erreichte Meridian59 trotz zunehmender Bugs, die mangels Support nicht mehr behoben werden konnten (die US-Entwicklungsfirma war längst bankrott) durchschnittliche Spielerzahlen von bis zu achtzig Leuten, im „Tal der Trauer“ (ein Server wurde dauerhaft für Neueinsteiger und aus nostalgischen Gründen weiter betrieben) waren es eher um die dreißig. Diese Zahlen nahmen dann nach Erscheinen von „Everquest“ 1999, das es auch heute noch gibt, deutlich weiter ab, so dass 20-30 Leute zu den Stoßzeiten üblich waren, darunter einige Leute, die parallel 2-3 Charaktere eingeloggt hatten. So zog es sich weiter, bis 2001 alle Server endgültig abgeschaltet wurden.

Endgültig? Nicht ganz. Nach der Schließung entstanden ein paar nicht wirklich legale, jedoch geduldete Freeshards, nachdem es einigen Leuten gelungen war, an die Software zu gelangen. Zwei dieser Freeshards liefen sogar dauerhaft ziemlich erfolgreich. Parallel dazu entstand in den USA „NearDeathStudios“, ein Team von zwei ehemaligen „Ur“-Entwicklern des Spiels, die die Rechte des Spiels erwarben und sich daran machten, einen Relaunch des Spiels zu ermöglichen. In Deutschland buhlten gleich mehrere Firmen um die Lizenz und MDO-Games erhielt den Zuschlag, eine Firma, die sich im Kern aus ehemaligen Spielern und Guides zusammensetzte. Im Juni 2002 startete dann tatsächlich eine Neuauflage, in Deutschland erst mal die mit dem Titel „Liberation“.

Heute ist das Thema Meridian59 natürlich ein alter Hut. Der begeistert aufgenommene Relaunch hielt nicht ewig vor, im Gegenteil zeigte sich nach einigen Monaten, dass die Spieleranzahl von anfänglich bis zu 120 Spielern pro Server auf etwa sechzig Leute zu Stoßzeiten absank. Eine Weile später wurden die ersten Server zusammengelegt, weil die Auslastung einfach nicht wie erhofft gegeben war. Irgendwann musste man dann trotz aller Mühen das alte Ross doch gehen lassen. Zwar kann man das Spiel wohl immer noch – und zwar mittlerweile kostenlos – auf US-Servern (http://www.meridian59.com/index.php) spielen, aber 2009 wurde in Deutschland wirklich endgültig abgeschaltet.

Ich finde es immer noch bemerkenswert, mit welchem Biss, mit welchem Feuereifer, mit welcher Leidenschaft Meridian59 über so viele Jahre hinweg existierte, ad acta gelegt wurde, wieder auferstand und so weiter. Einen solchen Enthusiasmus habe ich bislang bei keinem anderen Spiel erlebt, ob nun bei ebenfalls kleineren Vertretern wie „Die dritte Offenbarung“ und „Saga of Rhyzom“, oder bei den Großen wie eben „Everquest“ ab 1999 und später Spielen wie „World of Warcraft“. Darum ist eine Hommage an dieses alte schnuckelige Spiel der Neunziger definitiv gerechtfertigt.

Artikelbild: © meridian59.com

5 Kommentare

  1. Na, das ist wohl ein ganz altes Schätzchen :) Das Spiel kannte ich bis zu diesem Artikel noch gar nicht. Ich war aber auch nie so der MMO-Zocker, das war mir immer zu gefährlich, weil ich für sowas extrem suchtanfällig bin… ich hab mal in WOW reingeschnuppert, aber dann Gott sei dank rechtzeitig den Absprung geschafft – was auch daran lag, dass viele Leute, mit denen ich gespielt habe gegangen sind. Und alleine war es nicht so spaßig.

  2. Das habe ich ganz kurz gespielt, und bin dann auf Everquest hingeqwiesen worden, so 1998 muß das gewesen sein.

  3. Ach ja war das schön, damals,

    was dieses Spiele aber ausmachte war das (a)soziale Mitteinander der Spieler es war wie eine Familie, jeder kannte jeden. Heut zu Tage sind Spiele sehr unpersönlich und „der andere“ ist eigentlich Mittel zum Zweck, sich zu persönlkich zu verbessern. Wenns mal einen deutschsprachigen Freeshard, vor diesen neueren Versionen(Ressurection etc.), geben würde wäre ich gerne wieder mit dabei.

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