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Dies ist ein Gastartikel für (nicht über) Shadowrun in den 90ern und heute von Daniel. Er schreibt mit ein paar anderen Autoren auf  www.d6ideas.com.


Shadowrun ist für mich eines der Spiele, wenn nicht das Spiel, das ich am stärksten mit den 90ern verbinde – und das dabei immer noch eine mehr als antiquarische/nostalgische Relevanz hat. Nach drei Editionen in den 90ern, die schon für sich genommen das Spiel nach und nach immer stärker geändert, von innen nach außen und wieder zurück gekehrt haben, hat es jetzt in seiner jüngsten – nicht 90er – Inkarnation noch einmal sein Gewand komplett gewechselt, wenn überhaupt, dann gründlicher als jemals zuvor, dabei aber gleichzeitig auch wieder einmal Altes aufgreifend.

Über das Für und Wider all dieser Änderungen lässt sich bekanntlich trefflich streiten. Das brauche ich im rollenspielenden Internet wohl niemandem zu erzählen. Anstatt das zu tun (obwohl ich mich lang und breit dazu auslassen könnte), will ich lieber einen Blick zurück werfen, und zwar nicht um Änderungen als besonders positiv oder negativ darzustellen, sondern um aus den hintersten Winkeln der 90er Dinge hervorzukratzen, mit denen sich mit wenig Mühe auch heute noch etwas anfangen lässt (wenn die grundsätzliche Idee denn gefällt).

Die Änderungen an der Matrix werden allgemein als die augenfälligsten zwischen „damals“ und „heute“ dargestellt. Meiner Ansicht nach betreffen die weitreichendsten Änderungen an Shadowrun allerdings das Gegenteil – die Magie. Vielleicht stechen diese weniger hervor, weil sie graduell, schon während der 90er Editionen, und nicht erst mit dem letzten Wechsel stattfanden. Mit einem Blick in das 1990 erschienene Grimoire der ersten Edition (das nie ins Deutsche übersetzt wurde) wird das deutlich.

Dieses Buch ist meiner Meinung nach ohnehin ein Quell unerschöpflicher Weisheiten, aber damit will ich heute niemanden weiter (und wieder) belästigen. Mir geht es stattdessen um eine ganz kleine Regel – die sich allerdings in diesem Buch (und nur in diesem) findet, und darum, was sie bedeutet, und wie sie sich eben auf spätere Editionen (sowohl die zweite und dritte, aber natürlich ganz besonders auf die aktuelle) übertragen lässt. Wovon spreche ich nun?

„Benefits of Initiation
[…] One universal bonus for shamans is that they add their Initiate Grade to their Totem Advantage dice. This applies in all cases of Totem advantage, whether Spellcasting or Conjuring.”
-Grimoire (1st Edition), Seite 19

Davon. Alle Totemboni von Schamanen werden um ihren Initiationsgrad erhöht. Schon das deutsche Grimoire, seines Zeichens die Übersetzung des gleichnamigen Zusatzbandes der zweiten Edition (Original und Übersetzung 1993), enthielt diesen mehr als kurzen Absatz nicht mehr.

Normalerweise entpuppt es sich ja gerne als schwierig, Regeln aus alten Editionen auf aktuellere zu übertragen und Shadowrun bildet da keine Ausnahme. Aber diese Regel hier ist so einfach gestrickt und greift auf so konstante Elemente des Systems zurück, dass sie letztlich ohne Anpassung eins zu eins auf jede Edition, auch die aktuelle, anwendbar bliebe. Bloß, warum sollte jemand das wollen? Schließlich ist diese Regel ja bestimmt nicht ohne Grund schon mit der zweiten Edition verschwunden.

Und über diesen Grund kann es auch nicht viele Diskussionen geben (außer im Internet natürlich). Immerhin versinnbildlicht die Regel geradezu all die großen Probleme ihrer eigenen und überhaupt der älteren Editionen, mit denen die Regeln in ihrer Entwicklung (besonders ihrer jüngsten) aufgeräumt haben: Die umständliche Trennung von magischen Traditionen mit eigenen Subsystemen, die fehlende Balance, die eskalierende Machtspirale.

Ja.  Ja, all das ist erschreckend kompakt in nur zwei Sätzen konzentriert.
Ja, aber.

Zum einen sehe ich ganz persönlich nichts davon als so ein grässliches Problem (heute übrigens noch viel weniger als in den 90ern, in denen ich viel größerer Stromlinienfreund war), aber diesen privaten Kreuzzug will ich hier gar nicht führen, da davon niemand etwas hat (wer ihn doch ausfechten will, der weiß wohl im Zweifelsfall wo er mich finden kann). Außerdem verstehe ich die Sicht- beziehungsweise Herangehensweise ja, die ein Abschleifen und Eliminieren von Ausnahmeregeln und das Einebnen einseitiger Vorteile begrüßt.

Statt also über Sonderregeln (ja, es ist eine) und deren Balance (nein, sie hat keine) zu streiten, will ich mit meinem „aber“ auf eine andere Spur, und zwar auf den Hintergrund der Spielwelt. Es gibt ein paar Hintergrunddiskussionen, die für mich die Shadowrun-(Internet)szene (oder den Teil davon, in dem ich mich bewegt habe) in den 90ern dominiert haben. Anders als alte Regeldiskussionen haben diese dabei in meinen Augen höchstens einen Teil ihrer Relevanz über die Jahre hinweg eingebüßt. Zwei davon sind „die indianische Frage“ und Hand in Hand mit ihr das Mysterium arbeitsloser Magiebegabter.

Unser kleiner Absatz aus dem ersten Grimoire, mit seiner so simplen und dabei so grandios unstromlinienförmigen und unbalancierten Regel, aus Hintergrundperspektive betrachtet, leistet Erstaunliches, um diese vermeintlichen Paradoxien aufzulösen.

Magie war schon immer ein großer Teil der Antwort auf die Indianerfrage („Wie konnten die Indianer überhaupt ihren Krieg gewinnen, geschweige denn ein riesiges Staatengebilde wie die NAN aufbauen?“). Mit dieser Regel wird dieser Teil der Antwort dick und fett und rot unterstrichen. Denn selbst mit niedrigen und mittleren Initiationsgraden explodiert das Gefahrenpotential von Schamanen bei Anwendung dieser Regel. Der Schockeffekt und die Effektivität der indianischen Geheimwaffe steigt selbst ohne die Massenvernichtungsmagie des großen Geistertanzes in Höhen, die wenigstens für mich den offiziellen Verlauf nur noch verständlicher, nachvollziehbarer und plastischer machen als jemals zuvor (nicht, dass ich persönlich je ein großes Problem damit gehabt hätte, aber da sind wir schon wieder bei anderen Klageliedern).

Gleichzeitig war eine Argumentationslinie in den parallel geführten Magierdiskussionen („Warum hat nicht jeder Magiebegabte einen Konzernjob und ein mehr als (un)anständiges Gehalt?“) immer das Misstrauen, die Angst und er daraus erwachsende Hass normaler (Meta)menschen auf Magie. Und genau das wird durch den oben beschriebenen Effekt der noch brutaleren Schamanen in meinen Augen ebenfalls unterstrichen (vielleicht nicht ganz so dick und rot wie die Indianersache).

Gerade auch weil es eben keine allgemeine Effizienzsteigerung aller Magie bedeutet, sondern für den „wissenschaftlicheren“, den gesellschaftlich akzeptableren (und nicht mit indianischen Terrorkommandos und drohender Weltvernichtung verbandelten) Zweig ein verschlossenes und unlösbares Mysterium bleibt. Magie ist nicht nur unberechenbar und gefährlich, sie ist auch umso gefährlicher je unberechenbarer sie ist. Indem Verständnis (Erkenntnis?) und Beherrschbarkeit reduziert werden, gehen Misstrauen und Angst in die Höhe. Und auf dieser Grundlage sitzen auch Magiebegabte in der Gosse – „Magiermangel“ hin oder her.

Weil diese Regel aus den frühen 90ern den Hintergrund auf ihren Schultern trägt, hat sie auch heute noch einen Platz in Shadowrun verdient – zumindest aber, dass man sich an sie erinnert. Wie auch an einige andere Dinge aus den 90ern. Aber darum kümmern sich Andere.

Artikelbild: depositphotos © ammmit

1 Kommentar

  1. Auch wenn ich kein SR-Experte bin find ich es doch interessant zu lesen, dass manche Regel nur eine kurze Überlebenszeit hat :) Dieser Zeitpunkt war vor meiner SR-Karriere, aber ich kann mich daran erinnern, wie manch einer von den alten Hasen vom Schamanen geschwärmt bzw. über ihn geflucht hat – jetzt weiss ich ja, warum :) Eine wirklich interessante Ausführung Daniel, auch die Klärung der Indianerfrage.

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