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Unserer Umfrage im Dezember 2012 folgend, haben wir nicht wenige Leser, die sich mit den kleineren oder auch innovativen Rollenspielsystemen unabhängiger Autoren auseinandersetzen und mehr über diese kleinen Perlen (so sie denn welche sind) lesen wollen. Diesem Wunsch wollen wir nachkommen. Wir werden in regelmäßigen Abständen unsere Suchscheinwerfer auf Produkte richten, die entweder nahezu unbekannt sind, über innovative Regelsysteme verfügen oder schlicht als Exoten gelten können. Diese werden mal als klassische Rezension, mal als subjektiver Einblick vorgestellt.

Zu Beginn schauen wir uns TNT (The Narrative Toolbox) an, welches im Dezember 2012 bei LakeSide Games erschienen und über DriveThruRPG.com erhältlich ist. TNT betrachtet sich laut Titel und Werbetext als universelles und generisches Regelwerk der narrativen Gattung. Mit dem System soll es möglich sein, jeden Traum im Rollenspiel zu realisieren.

Erscheinungsbild

Bei der aktuellen Welle an pdf-Veröffentlichungen von kleinen Verlagen und eigenständigen Autoren könnte ein neues System versuchen, durch eine gewagte oder auch einfach hübsche Erscheinung aus der Masse zu stechen. TNT verzichtet darauf, wohl in dem Wissen, dass das ein sehr kostspieliges Unterfangen sein kann. Die drei Buchstaben des Titels werden gut ins Blickfeld gerückt – mit Flammen gefüllt vor schwarzem Hintergrund. Vielleicht möchte Leonard A. Pimentel, der Autor, uns damit sagen, dass sein Spiel Sprengstoff ist? Wenn ja, dann liegt er falsch – denn sein Spiel geht zu wenige neue Wege. Doch dazu später mehr.

Das Innenleben ist schwarzweiß gehalten und wird immer wieder von Illustrationen aus der Hand des Autors aufgefrischt. Textsatz und Zeilenabstand erinnern mehr an einen Roman als an ein Rollenspiel-Quellenbuch. Alles in allem ist der Text gut lesbar und auch eingängig wie nachvollziehbar formuliert.

Die harten Fakten

  • Format: pdf
  • Verlag: LakeSide Games
  • Autor: Leonard A. Pimentel
  • Seitenanzahl: 56
  • Preis: 6,99 USD
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG.com (Klick)

Die Spielwelt

Da sich das System als universell einsetzbar betrachtet, gibt es keine mitgelieferte Spielwelt. Es wird zwar erläutert, was zu beachten ist, wenn man das Erzählrecht in verschiedenen Welten wie Sword&Sorcery, Pulp, Agententhriller, etc., verwaltet, aber das war es auch schon. Vielleicht ist das keine dumme Idee, denn es gibt genau so viele schlechte Weltenbeschreibungen dort draußen bei den kleinen und großen Verlagen, wie es wenige gute gibt. Haken wir das Thema also ab.

Die Regeln

TNT_Cover

Regeln in TNT sind anders aufgebaut als in einem üblichen Rollenspiel. Es geht bei diesen Regeln nicht darum, ein Problem zu lösen (das Schloss zu knacken, das Auto auf eisiger Bahn in der Spur zu halten, den Feind mit der Pistole zu verletzen), sondern darum, das Erzählrecht zu erhalten.

Was bedeutet das? Auf die Grundzüge herunter gebrochen, nichts anderes, als das ein Spieler entscheiden kann, wie eine Szene weitergeht, ja, sogar dabei andere Spielercharaktere töten kann. Könnte wäre die besser Aussage, denn es geht immer um die Maximierung des Spielspaßes aller Beteiligten. Gut und wichtig finde ich den Hinweis, dass TNT nicht für Anfänger geeignet sein könnte, da die Macht des Erzählens sehr abstrakt ist und eine Vorkenntnis klassischer Systeme nicht schaden kann.

Unterschieden wird zwischen einfachen und dramatischen Aktionen. Einfache Aktionen klassifizieren sich dadurch, dass ein Erfolg oder Misserfolg sich nicht auf den generellen Verlauf der Geschichte auswirkt. Das Ergebnis einfacher Aktionen wird immer von dem Teilnehmer der Spielrunde erzählt, der die Aktion unternommen hat.

Interessanter werden die dramatischen Aktionen. Hier geht es oftmals um alles oder nichts. Ein Erfolg oder Misserfolg hat maßgebliche Auswirkungen auf den Verlauf der gemeinsam erzählten Geschichte. Grundsätzlich werden diese Aktionen vom Spielleiter erzählt, er darf jedoch nicht einen Spielercharakter dabei töten oder ihm anderweitig extrem schwer zusetzen. Das erscheint mir wichtig hervorzuheben.

Mag ein Spieler nicht, was ihm aufgetischt wird, kann er um das Erzählrecht würfeln. Dazu werden zwei gleichfarbige W6 und ein weiterer W6, der critical die, gewürfelt. Was der critical die jedoch macht, verschweigt uns das Regelwerk leider. Der Wurf entscheidet, ob der Spieler die Szene voll erzählen darf, Anregungen für die SL geben darf oder die SL Einfluss auf die Erzählung des Spielers nehmen kann. Würfelt der Spieler einen Dreierpasch, übernimmt er volle Kontrolle über die Szene und hat dabei sehr weitläufige Freiheiten, die nur von der Logik und Stimmung der Spielwelt oder blanken Lügen eingegrenzt werden. In der Wüste kann z.B. niemand von einem Hai gefressen werden.

Spieler können mehrfach versuchen, die Kontrolle über eine Szene zu übernehmen, müssen dann aber einen Malus von -1 auf das Ergebnis ihres Wurfes in Kauf nehmen.

Die oben genannte Probe nennt sich auch plot roll. War dieser ein kritischer Erfolg, also ein Dreierpasch, erhält der Spieler einen sogenannten plot point. Punkte sind uns nicht mehr unbekannt seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts und wer nun mutmaßt, dass diese eingesetzt werden können, um das Erzählrecht auch so zu kaufen, erhält einen Punkt. Plot Points erhält man ebenso durch Ausspielen von Schwächen und Erzählen negativer Konsequenzen für den eigenen Charakter, aber auch gutes Rollenspiel und einiges mehr. Woher kennen wir das zu Teilen? Unter anderem Savage Worlds. Richtig. Noch einen Punkt gewonnen.

Besonders schwere Szenen oder auch Gegner müssen öfter als einmal „übererzählt“ werden. Der Spielleiter kann z.B. festlegen, dass der Drache vier Mal „übererzählt“ werden muss, bevor er besiegt ist. In diesem Fall müssen die Spieler dann vier Mal ihren Charakteren helfen, eine Aktion gegen den Drachen zu führen – je nach Wurf durch Beeinflussung oder kurzzeitige Übernahme der Geschichte. Diese mehrfachen „Übererzählungen“ werden empowered roles oder empowered actions genannt.

Zu einem Charakter gehören auch sogenannte „roles“, also spezielle Funktionen, die der Charakter übernimmt. Auch diese können empowered sein. Das Regelwerk gibt das Beispiel eines Cyborgs, der die empowered role brute hat. Ein SC mit einer empowered role kann komplette Erzählkontrolle über eine Aufgabe nehmen, die nicht empowered ist. In dem Beispiel könnte der Cyborg jede normale Tür durchbrechen, ohne dass die SL einschreiten darf.

Beteiligen sich mehrere Spieler an dem Ringen um das Erzählrecht, gewinnt der höhere Wurf. Spieler sind auch die einzigen, die andere Spieler töten dürfen. Dafür gibt es einen eigenen PvPTeil im Regelwerk, der bei mir jedoch einen bitteren Beigeschmack hinterlässt. Letztendlich geht es um den höheren Wurf und vier Punkte Abstand zum nachfolgenden Würfelergebnis, um einen anderen SC zu töten, ohne dass dieser eine Chance hätte, dagegen anzukommen, wenn er keine Plot Points mehr hat. Schlimmer ist es noch beim Massen-PvP, denn wer hier eine 9 würfelt, kann einen Ausschnitt der Szene erzählen. Spieler ohne Erfolg schauen dumm zu. Wichtig ist, dass ein Plot Point ausgegeben werden muss, um fatale Auswirkung auf den Gegner zu legen.

Zusammenfassend: Plot Points können ausgegeben werden, um das Erzählrecht zu erhalten, um den eigenen Schwächen zu widerstehen, wenn diese vom SL angespielt werden, oder fatale Auswirkungen auf andere Spieler zu legen.

Plot Points werden verdient, wenn der Spieler sich den Schwächen seines Charakters hingibt, einen Dreierpasch würfelt, einen seiner persönlichen Plots löst (s.u.) oder etwas tut, dass die Runde insgesamt amüsiert und die Geschichte vorantreibt.

Über einen Punkt bin ich jedoch gestolpert. Wenn ein Spieler eine Szene ausspielt, die nur rollenspielerische und darstellerische Wirkung hat, bekommt er dafür auch einen Plot Point. Wirklich? Ich meine, wofür machen wir das hier? Gutes Rollenspiel sollte jeder Spieler ohnehin betreiben, warum dann auch noch eine Belohnung? Runterwürfeln und Punkte ausgeben kann ich in einem Brettspiel deutlich besser. Der Absatz lässt mich mit einem Kopfschütteln zurück. Was habe ich hier? Gamismus für Narrativspieler? Narrativität für gamistische Spieler? Seltsam.

Was mir fehlt und was ich auch nach mehrfacher Lektüre nicht gefunden habe, ist die Möglichkeit für den Spielleiter, die Erzählungen der Spieler mit einem Veto zu belegen. Üblicherweise würde der Spieler dann dafür einen Plot Point bekommen. Fehlt es wirklich, ist das ein eklatanter Designfehler.

Charaktererschaffung

Die Charaktererschaffung verläuft im weitesten Sinne punktebasiert. Definierend sind die sogenannten Roles, vergleichbar zu Fähigkeiten, wie z.B. Detective, Brute, Scientist und Thief. Hinter den Roles verbirgt sich aber weit mehr. Ein Dieb kennt sich nicht nur mit Einbrüchen aus, nein auch mit Sicherheitssystemen, Schwarzmarkt-Hehlern, ist vermutlich recht athletisch usw. usf. Die Roles beschreiben also nicht nur, was der Charakter kann, sondern auch zu Teilen, wer er ist.

Aus einer festen Liste können Roles gewählt werden und in zwei Stufen Punkte darauf gelegt werden. Aufbauend existieren für manche Settings spezielle Roles, wie z.B. Healer und Ghost.

Da es in TNT um Geschichten geht, ist es nun an der Zeit, die Roles zu erklären und eine Geschichte unter dem Charakter legen. Um diese mit den nötigen Gewürzen zu versehen, bringt das Regelwerk zwei Werkzeuge mit. Flaws und Plot Threads. Flaws sind genau das, wonach es klingt. Nachteile, Schwächen und Laster, von denen jeder Charakter (mindestens) eine hat.

Plot Threads sind ein Mittel für den Spieler, dem Spielleiter mitzuteilen, was er spielen möchte. In diesen werden die Ziele der Charaktere festgelegt und Spielleiter, die hier mehr Moderatoren sind, werden angehalten, tunlichst die Plot Threads anzuspielen und aus Ihnen die Geschichten zu entwerfen.

Spielbarkeit aus Spielleitersicht

TNT macht eine Sache sehr gut. Es erklärt, wie gemeinsames Erzählen funktionieren muss, damit alle am Tisch ihren Spaß behalten. Auf die Bereiche Verantwortung, Spannung, Spielspaß und Dramatik wird mehrfach gut hingewiesen und es wird auch erklärt, weswegen diese Bereiche wichtig sind.

Das Regelwerk ist sehr eingängig, leicht zu verstehen und auch sicher funktional. Aber eines ist es nicht: Sprengstoff. Fast jede Mechanik scheint mir hinreichend aus anderen Systemen bekannt zu sein. Das erleichtert andererseits natürlich den Einstieg ungemein.

Die Position des Moderators ist zugegebenermaßen eine andere als die in klassischen Rollenspielsystemen, weicht aber auch nicht von den größeren bekannten narrativen Systemen ab. Sollte allerdings tatsächlich kein Vetorecht für Spielleiter existieren, dann enthält das Spiel einen schweren Designfehler und ist meiner Ansicht nach nicht spielbar. Stelle ich mir nur einmal vor, dass ich eine wilde Meute von Spielern am Tisch habe, deren Aktionen ich nicht entgegenwirken kann, wenn sie denn komplett hirnrissig sind, stelle ich die Anwesenheit eines Moderators generell in Frage. Sollte ich einfach blind sein, entfällt diese massive Kritik natürlich und TNT reiht sich ein in die Reihe vieler anderer Systeme.

„Neu“ sehe ich hier nur das absolut tödliche PvPSystem. Hier bemüht sich aber das Regelwerk, die Spielebene zu klassifizieren und so verschiedene Ebenen der Letalität zu erzeugen. Ist verstümmeln erlaubt? Ist Zerstören von Ressourcen erlaubt? Dürfen sich SCs gegenseitig umbringen?

Spielbarkeit aus Spielersicht

Als Spieler brauche ich vor allem eines – Verantwortung und Ideenreichtum. Ich darf das Spiel der anderen nicht entwerten, auch wenn ich hier die Möglichkeit dazu habe. Charaktere sind schnell gemacht, allerdings sollten sie dennoch gut durchdacht sein. Schließlich muss ich bereits zu Start wissen, worauf ich hinaus spielen möchte.

Sonst auch hier – üblicher narrativer Indiestandard.

Preis-/Leistungsverhältnis

Für 7 USD bekomme ich ein Independent-Regelwerk, welches sich an den großen Vorbildern orientiert und das auch an sich gut macht. Es ist in sich komplett und wird offenbar vom Designer auch gut durch beispielhafte Spielszenen und Charakterbögen soweit wie nötigunterstützt. Der Preis ist angemessen.

Bonus/Downloadcontent

Auf der Seite des Designers auf DTRPG finden sich einige andere, teils kostenlose, Downloads: Klick

Fazit

TNT ist kein Sprengstoff, das ist sicher. Es ist aber dennoch ein gutes System für Spieler, die mit der narrativen Spielrichtung einsteigen möchten und lernen möchten, gemeinsam eine Geschichte zu erzählen. Wie aus dem obigen Text ersichtlich fand ich wenig Neues und wenig Inspirierendes, daher ordne ich das Spiel im Mittelfeld ein. Es hat Potential, nach oben zu wachsen, aber es fehlt das Alleinstellungsmerkmal, was es aus der Masse herausstechen lässt. Das reißerische Cover verspricht auf jeden Fall Dinge, die ich so nicht finden konnte. Designfehler erzeugen darüber hinaus einen schalen Beigeschmack in meinen Augen.

Daumen3maennlich

 

 Artikelbild: LakeSide Games

 

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