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Kultur – eine Definition

Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung

Gesamtheit der von einer bestimmten Gemeinschaft auf einem bestimmten Gebiet während einer bestimmten Epoche geschaffenen, charakteristischen geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen

(Quelle: http://www.duden.de/rechtschreibung/Kultur)

Es geht also um die Gemeinsamkeiten und Leistungen einer Gemeinschaft von Individuen als Ganzes. Der Duden benutzt zwar noch das Wort „menschlich“, jedoch lasse ich dies hier bewusst weg, da in der Phantastik die Rassen bekanntermaßen eher selten nur auf Menschen eingeschränkt sind.

Im nachgehenden Text möchte ich mich ein wenig damit beschäftigen, welche Aspekte fremder Kulturen im Liverollenspiel zum Tragen kommen, was man beim Ausarbeiten dieser Aspekte beachten sollte und Anregungen geben, wie man diese darstellen könnte. Dieser Text versucht nicht allumfassend zu sein, sondern eine grobe Struktur zu erörtern, an der man sich bei Bedarf entlanghangeln kann.

 Grundgedanken

Das erste was ich tun sollte, wenn ich vorhabe eine eigene Kultur im Larp zu erschaffen, ist, mir klarzumachen, wo ich hin will.

Was ist das Ziel der Darstellung? Möchte ich Spiel mit anderen/Außenseitern oder möchte ich internes Spiel innerhalb der Kultur fördern? Je nachdem, wie diese Entscheidung ausfällt, kann ich die weiteren Überlegungen mehr oder weniger stark vom Status Quo abweichen lassen. Will ich mehr Interaktion mit anderen Kulturen, dürfen die Unterschiede nicht zu weit von den Vorstellungen heutiger Gesellschaften abweichen – die Kultur darf nicht zu fremd erscheinen. Wenn ich jedoch vor allem Spiel innerhalb dieser Kultur erschaffen will, kann, darf und sollte ich ruhig krasser werden.

ork

Hier liegt für viele auch gleichzeitig der Reiz dieses Spiels: sich von gesellschaftlich etablierten Normen abzuwenden und etwas ganz Neues, Anderes auszuprobieren. Ein soziales Experiment sozusagen. Die prominentesten Beispiele hierbei sind wohl die Orks und die Drow. Orks nach heutigem Standard findet man im Larp nicht mehr in jeder Abenteurergruppe, wie es früher vielleicht einmal der Fall war.

Orks leben unter sich, haben eine interne Struktur und vor allem: Spiel untereinander. Sie sind weitab von jedweder Norm, die wir kennen. Ihre Gesetze und Strukturen unterscheiden sich erheblich von der unsrigen, ihr Aussehen tut das Übrige. Eher selten kriegt man wirklich viel Spiel zwischen Nicht-Orks und Orks zustande. Sicher: Es kommt vor. In den meisten Fällen ist dieses Spiel sogar grandios, wie mir berichtet wurde. Dennoch findet der Hauptaspekt des Orkspiels eher intern statt.

Ähnlich verhält es sich mit Drow. Zu feindlich sind sie den nicht schwarzhäutigen Völkern gesinnt, zu extrem sind die Regeln nach denen sie leben. Drow-Spieler berichteten mir, dass sie ganze Großcons lang das Lager der Drow nicht verlassen hatten und dennoch dort jahrelang gutes Spiel hatten, nur halt drow-intern. Sollte ich also ein eher internes Spielerlebnis suchen, sollte ich die Kultur eher ins Extreme und Fremde ausbauen.

Das Skelett oder: das Vorbild

Nachdem ich mich also für ein Spielziel entschieden habe, fehlt mir zunächst ein Hintergrund. An was lehne ich die Kultur an? Welches Vorbild hat sie? Nicht außer Acht zu lassen sind hierbei auch Querverbindungen. Gibt es bereits bespielte Kulturen mit ähnlichen Vorbildern? Wenn ja, wie nah oder entfernt von dieser Kultur möchte ich mich ansiedeln und mögen sich die Kulturen grundsätzlich oder nicht?

Hier liegt meist viel Potential, welches aber frühzeitig entdeckt werden muss, sonst sorgt es im Nachhinein für einen massiven konzeptionellen Arbeitsaufwand. Anregungen hierfür müssen nicht nur aus Filmen und Büchern stammen. Für mich bietet vor allem die menschliche Geschichte viele Anregungen. Ich muss nur einmal über meinen eigenen Kulturkreis hinaus schauen, und erkenne vieles, das mir fremd vorkommt und ins Liverollenspiel einfließen kann – seien es nun Zigeunerfamilien mit Südländern und Mafia gemischt wie bei den De la Roccas oder Castellanis oder sei es ein Blick gen Osten nach Japan und China. Die besten Beispiele hierfür sind das Fürstentum Makrabar (stark asiatisch eingefärbte Kultur) sowie das Khanat Hassar (mit Reitervölkern als Vorbild wie den Hunnen) aus der Broken-Crown-Kampagne (http://www.broken-crown.de/)

Die Organe oder: Das Wertesystem

Sollte ich mich für ein Vorbild entschieden haben, lege ich die grundlegenden Werte fest, nach denen die Mitglieder dieser Kultur handeln. Ist die Kultur zutiefst religiös geprägt (im Fantasy-Liverollenspiel sehr gern gewählt) oder eher weltlichen Dingen zugewandt? Ist es eine Kultur die stark familienorientiert ist, den Familienzusammenhalt achtet und die Ahnen außerordentlich ehrt?

Was sind also die Grundfesten, nach denen meine Kultur ihr Handeln ausrichtet? Dies ist äußerst wichtig, denn hieran misst sich, wie leicht oder schwer es den meisten Spielern (und damit auch mir selbst) fallen wird, diese Kultur zu bespielen. Ich muss bedenken, dass meine Handlungen im Spiel natürlich wirken sollten. Ich als Spieler darf nicht zu lange darüber nachdenken, wie mein Charakter reagieren würde. Dies ist umso einfacher umsetzbar, je näher diese Handlungsgrundlagen an meinen eigenen liegen.

Da das Ziel einer fremden Kulturdarstellung allerdings die Darstellung des Anders sein an sich ist, ist hier ein Balance-Akt gefragt. Wie weit kann ich mich von den geltenden Werten entfernen, um es fremd genug wirken zu lassen, aber dennoch natürlich genug rüberzukommen? Im Tischrollenspiel mag dies einfacher geschehen, da ich hier mehr Zeit habe darüber nachzudenken, wie mein Charakter reagiert. Diese Zeit habe ich aber eben im Liverollenspiel nicht. Hier tritt auch mit am stärksten die Entscheidung zutage, die ich bei den Grundgedanken getroffen habe. Je extremer ich das Wertesystem anlege, desto mehr entferne ich mich von externem Spiel und bewege ich mich zu kulturinternem Spiel hin.

Desto eher setze ich die Prämissen für externes Spiel aber auch auf Konfliktspiel. Denn unterschiedliche – fremde – Ansichten zu den grundlegendsten Werten führen unweigerlich zu Konflikten wenn diese aufeinander treffen. Dies ist aber auch ein äußerst effektiver Hebel, mit dem ich die Reaktionen, die meiner entstehenden Kultur entgegenschlagen werden, zu einem gewissen Grad lenken kann. Da Liverollenspiel vor allem Interaktion mit anderen Spielern bedeutet und die Konfrontation mit anderen Kulturen mit Sicherheit unvermeidbar ist, sollte man sich zumindest auch darüber Gedanken machen, wie der eigene Kulturkreis mit Andersdenkenden/Außenstehenden umgeht. Zweifel, Misstrauen, Gastfreundschaft, Neugier, Hass… dies sind nur einige der möglichen Reaktionen, die man in allen denkbaren Kombinationen erleben und darstellen kann.

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Zusammenprall der Kulturen

Das Fleisch oder: Besonderheiten und kleine Rituale

Wenn diese ganze Arbeit getan ist – die Entscheidungen getroffen wurden – ist es an der Zeit, dieses Konstrukt mit Leben zu füllen. Bisher wurde ein Skelett erschaffen und mit den wichtigsten Organen gefüllt, nun gilt es, Fleisch, Haut und Haare hinzuzufügen. Ich brauche Rituale, Kleinigkeiten, Angewohnheiten. Mit aus der Asche der Ahnen gefertigte Schminke die Augen zu umranden unterstützt eine Ahnenverehrung (und damit gleichzeitig den Familienzusammenhalt). Exzentrische Statussymbole wie Orden weisen auf eine stark hierarchische Struktur hin und fördern den Ehrgeiz.

Man ist darauf bedacht, Status zu erlangen und zu zeigen. Die Frau, die Männer abwertend behandelt und der Mann, der immer drei Meter hinter der Frau geht zeigen die matriarchalische Gesellschaft sehr gut oder weisen zumindest auf ein starkes Frauenbild innerhalb der Kultur hin. Gebete oder ganze Messen zu verschiedenen Gelegenheiten und Tageszeiten untermalen sehr schön die religiöse Ausrichtung der dargestellten Gesellschaft. 

Rundum: Diese Besonderheiten zeigen das gewählte Wertesystem nach außen. Sie sind die Spielansätze, die Anderen angeboten werden. Sie sind das, was der Kultur den letzten Schliff gibt. Das, was das Wort „fremde“ in den Ausdruck fremde Kulturen bringt. Sie sind das Salz in der Suppe, das meiner Kultur die letzte Note gibt. Sie sind aber nicht nur für die anderen Leute wichtig, sondern auch für mich. Denn nicht nur andere essen diese von mir gekochte Suppe, sondern auch ich. Und nur mit solchen kleinen Ritualen kann ich mich ganz in diese Rolle versetzen und erfahren wie es ist, in solch einer Kultur zu leben.

Nur hierdurch werde ich mehr als ein verkleideter Mensch. Es ist das, was letztendlich die „Rolle“ im Rollenspiel für mich ausmacht. Hierdurch lebe und erlebe ich diese fremde Kultur selbst. All die bisher geleistete Arbeit kann noch so gut sein – wenn man sie nirgends sehen kann, bleibt sie unbemerkt. Das führt dazu, dass niemand die Kultur als solche erkennt, nur man selbst. Und weil sie aber niemand als fremd anerkennt, geht das Spielziel verloren. Die Konflikte, die von den unterschiedlichen Werten ausgehen werden so nie entstehen, da niemand diese Werte erkennen wird.

Der ganze Rest

Nun habe ich ein hintergrundtechnisches Vorbild, sei es nun eine phantastische Rasse/Kultur oder aber eine historische oder aktuelle Kultur außerhalb meines aktuellen Kulturkreises. An dieses lehne ich zumeist auch meine Gewandungen an von der Grundstruktur her. Sollte ich bereits halbwegs ausgearbeitete Kulturen bespielen wie die Drow oder die Orks, habe ich zumeist sogar recht spezifische Gewandungsvorgaben, hangele ich mich jedoch an historischen Vorbildern entlang, bleibt mir sehr viel mehr Freiraum, diese Vorgaben zu variieren und meinen Wünschen anzupassen.

Ich habe ein Wertesystem entwickelt und es wahrscheinlich an das hintergrundtechnische Vorbild angepasst. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie extrem ich das Kulturkonzept gestalten und bespielen will und ob es vor allem intro- oder extrovertiert ist vom Spielstil her. Ich habe mir auch Gedanken darüber gemacht, wie gut sich dieses darstellen lässt. Ich habe das Ganze mit Leben gefüllt und bin nun bereit, diese Kultur auf die Welt loszulassen. Was nun?

Natürlich kann ich als einzelner Vertreter dieser Kultur auftreten und durch die Lande ziehen. Doch meistens ist es eher das Ziel, dass mehrere Leute diese Kultur bespielen. Eine oder gar mehrere Gruppen, wie man es bei den großen Larp-Kulturen sieht (Orks, Zwerge, Drow, Elfen etc.) sollen das Konzept bespielen. Diese Leute gilt es zu finden und für das Konzept zu begeistern. Außerdem ist jederzeit (auch während des Gestaltungsprozesses) Feedback äußerst wichtig. Ich sollte also Rücksprache halten und mir mehrere Meinungen einholen, um mich nicht komplett in unausgegorenen Konzepten zu verrennen. Meist führt allein dieser Prozess schon dazu, Spieler für mein Konzept – meine Kultur – zu finden, oftmals führe ich den Gestaltungskonzept auch gar nicht allein, sondern mit einem Grundstock an anderen Interessierten durch.

Habe ich nun eine ausreichende Anzahl Spieler (wie groß/klein diese auch immer sein sollte) geht es ans Spielen. Anfänglich sind vielleicht erst kleinere und/oder eigene Veranstaltungen angebracht, um sich ins Konzept einzufinden und es in der Praxis zu erproben, um mit den anderen Spielern auf Tuchfühlung zu gehen und eventuell Änderungen einzuführen. Hier wird natürlich vor allem der interne Spielfaktor ausgetestet, und der externe erst einmal vernachlässigt. Sollte meine Kultur auf internes Spiel ausgelegt sein, ist dies nicht weiter tragisch, da es ja genau das gewünschte Ergebnis bringt. Wenn ich jedoch auf externe Spielerlebnisse Wert lege, darf ich nicht vergessen, dass mir durch dieses Vorgehen externe Meinungen entgehen. Ich sollte also, sobald sich die Gruppe eingefunden hat, auch auf andere Veranstaltungen gehen und meine Charaktere, und damit ihre Kultur, auf die Welt des Liverollenspiels loslassen.

Ein Teufelskreis

Wer jedoch denkt, damit hätte das alles ein Ende, der liegt falsch. Eine florierende Larp-Kultur muss sich verändern und wachsen – nicht unbedingt in der Quantität, aber in der Qualität. Sie muss mit mehr Fleisch angefüttert werden. Neue Spieler bringen andere Anforderungen, aber auch neue Ideen mit, welche die Kultur erweitern und verbessern können. Es ist ein ständiger Prozess von Feedback, ausprobieren, konzeptionellem Arbeiten, erweitern…

So wie das Liverollenspiel sich immer weiterentwickelt und nie wirklich stillstehen wird, sollte sich auch die erschaffene Kultur immer weiterentwickeln und versuchen, zu einem noch volleren Ganzen zu werden.

Artikelbilder: Drachenfest auf dem Quast nahe Diemelstadt, DF 2011 und 2012 (jeweils letzte Juli-Woche), Fotograf: Nabil Hanano


Dieser Artikel ist Teil der Thementage Fremde Kulturen. Hier geht es zur Übersicht: Klick

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