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Im Mittelpunkt der meisten länger bestehenden Spielrunden stehen Kampagnen, zusammen mit einer Kontinuität bezüglich Spielern, Charakteren, Regelsystem und üblicherweise auch des Settings. Zwei extreme Formen von Kampagnen treten (zumindest gefühlt) häufiger auf: 

In der ersten Sorte gibt es im eigentlichen Sinne keine Kampagne. Abenteuer werden aneinandergereiht. Die Klammer, die die Geschichten zusammenhält, ist eine Gruppe, die eine Entwicklung durchmacht. Die Module entstammen dem gleichen Setting und es obliegt dem Spielleiter, halbwegs glaubwürdig zwischen den Einzelgeschichten überzuleiten. Das könnten jetzt zum Beispiel einzelne DSA-Abenteuerbände oder Savage Tales aus einem Savage-Worlds-Settingbuch sein.

In der zweiten Sorte gibt es eine vordefinierte Kampagne. Diese kann durchaus epische Züge annehmen und zieht sich durch eine Reihe von miteinander erzählerisch verbundenen Abenteuern. Das kann eine eher skizzierte Plot-Point-Kampagne (SaWo) sein, die noch der Ausarbeitung bedarf. Oder das Äquivalent einiger dicker Schmöker wie Die Sieben Gezeichneten (DSA- Klick).

Manchmal kriegt die Kampagne ihren Überbau auch spät. So gab es im D&D der dritten Auflage den Band Elder Evils. Er enthielt mehrere apokalyptische Bedrohungen, die der Dungeon Master dazu benutzen konnte, um eine Stufe-20-Kampagne episch abzuschließen. Dazu gab es kleine Anleitungen, wie der SL diese mit einem Mindestmaß an Eleganz in eine bestehende Serie von Abenteuern einflechten konnte.

Die Klammer für die Kampagne sind in der ersten Form die Spielercharaktere, und in der zweiten Form die übergreifende Geschichte. Beiden Arten ist gemeinsam, dass die SCs in bestehende Geschichten eingebracht werden. Jegliche Individualisierung obliegt dem Meister, der dann noch versuchen kann, ein paar Eigenheiten der Spielfiguren hervorzuheben.

Hauptdarsteller gesucht

Man stelle sich als Gedankenexperiment Romane oder Filme vor, die nicht auf ihre Hauptfiguren zugeschnitten wären. Rollenspiel ist oft vielseitiger als diese Medien, weil es als Zusammenarbeit entsteht zwischen Abenteuerautor, Leiter und Spielern. Das Kopfkino, das am Tisch entsteht, ist ja eigentlich das Entscheidende. Spieler suchen einerseits Geschichten, an denen man teilhaben kann. Andererseits will man, im Gegensatz zu Roman oder Film, eben nicht auf den Schienen, die der Autor vorgelegt hat, einfach nur ins Ziel einlaufen. Es ist ja nicht nur gemeinsames Erleben, sondern es kann auch gemeinsames Gestalten beinhalten.

Gerade die Kampagne bietet hierfür Spielraum. Hier gibt es eine Kontinuität der Charaktere, und auch das Potential einer Entwicklung. Wenn man das zu nutzen weiß, ist sie mehr als eine Serie von Geschichten.

Eine Inspiration in dieser Hinsicht war für mich Gamemastering (Klick), ein frei erhältliches eBook von Brian Jamison. Er stellt in diesem Buch eine Reihe von Ansätzen vor, um das Gestalten von Spielsitzungen, Settings und eben auch Kampagnen zu verbessern. Seine Ratschläge zum Gestalten möglichst interessanter NSCs finden bei mir schon länger Anwendung.

Jamison ist aber vor allem ein echter Verfechter des Bottom-up-Ansatzes. Das Abenteuer und die Kampagne entstehen aus den Spielfiguren heraus und um die Spielfiguren herum. Nachdem der SL mit einem Pitch (Kurzvorstellung) des Settings sicherstellen konnte, dass die Spieler daran Interesse haben, sieht er die Hauptaufgabe darin, an der Charaktererstellung zu feilen.

Fleisch auf die Knochen

Das völlig systemneutrale Buch bringt es fertig, über dreißig Seiten auf die Erstellung der Spielfiguren zu verwenden. Der Autor sieht das als Prozess, den der SL zusammen mit den einzelnen Spielern durchlaufen sollte, bevor jemals gespielt wird. Sein Grundsatz lautet: „Character Creation Before Adventure Creation“.

Es wird über einen groben Entwurf nachgedacht, eine Art Schablone, die in manchen Systemen durch die Klasse abgebildet wird, und in anderen zum Beispiel durch Archetypen. Fleisch auf dieses Skelett wird dadurch gepackt, dass man nun schrittweise entwickelt, was diese Figur ausmacht. Was sie für richtig und falsch hält. Man entwickelt einen Hintergrund, fügt ein paar Freunde und Feinde hinzu, steckt mögliche Ziele und Motivationen ab. Das Ganze wird mit ein paar Macken und Eigenheiten abgerundet.

Tatsache ist natürlich, dass einiges hiervon in Spielsystemen schon abgebildet ist. Es geht hierbei aber gar nicht um irgendwelche Regeleffekte. Das Ziel ist nicht festzulegen, dass ein nervöser Tick Abzüge bei sozialen Interaktionen gibt. Der Meister muss gerade bei diesem Prozess viel Schützenhilfe leisten, um den Charakter dann auch ins Zielsystem hineinzugießen. Aber selbst in Systemen ohne Regeleinbindung solcher Merkmale geht es dem Autor um weit mehr, als dem Charakter nur Farbe zu verleihen, oder eine Art Spielanleitung für das Ausagieren der Figur zu erzeugen. Die ausgearbeiteten Merkmale werden zur Grundlage der Kampagne selbst.

Man stelle sich mal die Hülle der Informationen vor, die hier generiert wird. Der SL wird ermutigt, das Ganze über ein Indexkartensystem zu verwalten. Ein kleiner Karteikasten mit Reitern und zwei Packen solcher Karten sind in der Anschaffung billig, helfen aber deutlich die Übersicht zu behalten. Der Spielleiter legt Karten an für NSCs (hier gibt es ja schon die Freunde und Feinde), herausragende Fähigkeiten der SCs, SC-Ziele, Team-Ziele (zu Beginn: die Gruppe zusammenführen) und Gelegenheiten für Rollenspiel.

Eine Story mit Charakter

Gerade die letzte Kategorie ist interessant – durch das Gefüge an Einzelzielen, Wertvorstellungen, Freunden und Feinden ergeben sich bereits Reibungspunkte, die das Spiel bereichern können. Vielleicht wollen ja mehrere an Geld kommen, aber haben grundsätzlich verschiedene Vorstellungen davon, wie man dabei vorgehen sollte? Zu große Abweichungen treiben die Gruppe auseinander, aber allzu viel Harmonie ist auf Dauer auch nicht belebend.

Aus diesem Fundus an Information kann man bereits schöpfen. Man weiß jetzt, warum die Gruppe auszieht und was sie erreichen will. Die Fähigkeiten der Gruppe legen fest, was an Hindernissen auch vorkommen sollte, um verschiedenen Mitgliedern einen Anteil am Rampenlicht zu ermöglichen. Spieler wollen die Skills ja auch mal einsetzen, an denen sie ihre Figuren haben feilen lassen. Durch die Ziele ergeben sich oft Hooks, über die einzelne Charaktere oder gleich die ganze Gruppe in Abenteuer hineingezogen werden. Generell bietet die Info aber die Möglichkeit, jedes Abenteuer an seine Protagonisten anzupassen.

Jedes Abenteuer wird diesen Fundus natürlich bereichern. So eine Spielgruppe steigt ja zwangsläufig immer irgendjemandem auf die Füße. Das Wahren der Interessen des einen beinhaltet immer das Benachteiligen anderer Parteien. So sammelt die Gruppe Freunde und Feinde, und über diese und das eigene Spiel auch Ziele. Die Gruppe wird somit zur Klammer der Gesamthandlung selbst, und die Kampagne verändert die Gruppe, und die Gruppe im Spiel die Kampagne.

Genauso wichtig sind die NSCs, gerade diejenigen, die sich als Langläufer erweisen. Durch sie treten die Spieler in Verbindung zur Spielwelt selbst. Das Erzeugen eines oder mehrerer langlebiger Antagonisten ist hier wichtig. Man erschafft gewissermaßen den Widerpart der Gruppe, der sie von ganz alleine zum Handeln motiviert. Genauso wie die Gruppe selbst verändert er sich über die Gesamtgeschichte selbst, und hat ein Geflecht von Beziehungen, die sich auf die Party auswirken.

Hat er mal ein heißgeliebtes magisches Schwert entwendet oder den Freund eines Charakters gekidnappt, wird die Geschichte sehr schnell viel unmittelbarer und persönlicher als „nur mal schnell die Welt retten“.

Abenteuer in Serie

Falls euch dieses Rezept bekannt vorkommt, wundert es mich nicht. Es erinnert mich am meisten an die Rahmenhandlung gerade auch von Science-Fiction-Serien. Sei es nun Star Gate SG1 oder Star Trek: Enterprise wenn die zentrale Handlung sich auf eine Gruppe von Menschen bezieht, dann gehen die Autoren oft ähnlich vor.

Diese Kunstform ist dem Rollenspiel in einer Kampagne meiner Meinung nach wesensverwandt: Mal ist der Fokus auf dem Setting selbst, gerade bei der Einleitung der Geschichte. Die Hauptakteure machen sich Feinde, die wiederum Konflikte erzeugen, und diese Konflikte treiben die Handlung. Seien das nun die Borg, die Xindi oder die Goauld. Die Borg stellen in Star Trek: TNG, Star Trek: Voyager und Star Trek: The First Contact eine wiederkehrende Bedrohung dar, die immer wieder Konflikte erzeugt, ebenso Veränderungen in den Hauptfiguren (Picard, Seven of Nine). Wir könnten die Borg als immer wiederkehrende Nemesis oder Antagonisten mehrerer Kampagnen im Star-Trek-Universum sehen. Sie zeichnet besonders aus, dass das Lösen eines Einzelabenteuers die Bedrohung nicht beendet.

Genauso stellen einzelne Episoden einer Serie auch die Eigenheiten der Einzelfiguren in den Vordergrund, die durch die Autoren vorher bereits herausgearbeitet werden. Ensign Hoshi Sato aus Star Trek: Enterprise wird als schüchterne Figur eingeführt, die so ganz im Gegensatz steht zu dem eher abenteuerlustigen Rest. Manchmal trägt sie die Handlung einer Folge oder einen wichtigen Handlungsstrang, manchmal stehen ihre persönlichen Phobien im Vordergrund, manchmal fügt sie einer größeren Handlung nur ihre persönliche Note hinzu. Genauso fungiert Daniel Jackson aus SG1 manchmal als erzählerischer Gegenpol zu Colonel O’Neill, dann wieder ist seine Bindung zu seiner entführten Frau die Motivation einer gesamten Handlung, oder seine wissenschaftliche Neugier verwickelt die ganze Gruppe in eine Konfliktsituation.

Betrachtet man die Episoden einer Serie als Abenteuer und die Gesamtserie als Kampagne, sieht man wie einerseits die Spielfiguren mehr in den Vordergrund treten können, und wie andererseits trotzdem nicht jede Episode völlig auf die Charaktere fixiert sein muss. Es muss auch nicht nur eine Nemesis sein. SG1 sammelt ja unter den Goa’uld ständig neue Feinde. Und sobald eine Fraktion dieser herrschsüchtigen Parasiten beinahe besiegt ist, taucht plötzlich der längst bezwungene Apophis wieder auf. Es gibt schlicht keinen Grund, warum solche Erzählmechanismen, die Menschen oft über Jahre hinweg an diese Serien binden, nicht auch in Rollenspielkampagnen funktionieren sollten. Und Gamemastering bietet viele der nötigen Elemente an, um eben das auch zu versuchen.

Hierbei packt man die Charaktere genau da, wo es Eindruck machen sollte. Ähnlich wie im Film ist ein NSC nicht einfach nur wichtig, weil der SL das sagt. Er wird in Beziehung gesetzt zu einem Charakter, leistet vielleicht mal der Gruppe Hilfe, hat Macken und Eigenheiten, und plötzlich ist es auch jedem klar, warum man hilft, wenn er entführt wird. Es entwickelt sich eine Interaktion mit den Figuren und der Spielwelt, die den Ereignissen Relevanz verleiht.

Aus diesem Gewebe an Freunden und Feinden, die man aufsammelt, kann der Spielleiter auch gezielt mehrere Abenteuer ableiten, die teilweise parallel laufen. Während man in einer Mordsache ermittelt, schlagen plötzlich die Yakuza zu, die man vor ein paar Wochen erzürnt hat.

Die Geschichten in der Kampagne wirken dadurch weniger linear. Hinweise und Handlungsfetzen sind nicht mehr einfach nur einer Geschichte zuzuordnen. Die Spieler verlassen sich vielleicht dadurch auch weniger auf gewohnte Erzählstrukturen, und handeln den Situationen entsprechend. Man kann sich auch den einen oder anderen irreführenden Hinweis sparen, weil bei zwei Handlungssträngen über mehrere Abende hinweg die Spieler sowieso genug damit zu tun haben, die Übersicht zu behalten.

In der Ursuppe rühren

Wer für seine Spieler auf diese Weise eine neue Kampagne ins Leben rufen will, kann auf vielfältige Ressourcen zurückgreifen. Bestehende Kampagnen und Abenteuersammlungen wie eben die Savage Tales können gefleddert, zerlegt und neu zusammengefügt werden. Man tauscht die Nemesis aus, man generiert neue Herausforderungen, die auf die Teilnehmer zugeschnitten sind, man integriert existierende NSCs oder ersetzt Schlüsselfiguren durch sie. Genauso bietet das Buch Tabellen, die viele typische Ideen bereits zusammenfassen. Auch Szenario-, Begegnungs- und Abenteuergeneratoren sind oft voller Inspirationen für Schauplätze, Abläufe und Hindernisse, die sich in eine solche Kampagne einfügen lassen.

Letzten Endes sind es diese Plot-Versatzstücke, die die eigentliche DNA von Abenteuern ausmachen. Immer wieder neu kombinierbar bilden sie die Grundlage von Romanen, Filmen, Serien und Rollenspielbänden. In Beinahe-Reinform findet man sie in Büchern wie Eureka: 501 Adventure Plots to Inspire Game Masters (Klick). Oder bei IMDB: Wer dort eine Staffel einer Serie anklickt, erhält kurze Handlungszusammenfassungen der Episoden auf einer Seite präsentiert.

Und aus dieser Ursuppe kann man schöpfen, um zuerst Charaktere ins Leben zu bringen, und dann eine Kampagne, die ihnen angemessen ist.

Fazit

Ich habe mich zuletzt als Spieler in einer nach Buch gespielten DSA-Kampagne mehrfach nur noch wie auf einer Achter- oder Geisterbahn gefühlt. Man fährt von Attraktion A zu B zu C, und egal was man macht, die Handlung rollt weiter. Man hat die Wahl zu sterben, seinen Wurf zu verhauen, oder der Handlung ein wenig persönliches Kolorit zu verleihen, aber man ist letztendlich Sklave einer Story. Das empfand ich für mich als höchst unbefriedigend.

Gerade im Kontrast dazu finde ich den Bottom-up-Ansatz aus Gamemastering verlockend. Das Buch ist es definitiv wert, gelesen zu werden, zumal der Preis unschlagbar ist. Ich versuche jedenfalls, solche Ideen in meine selbstgeleitete Kampagne zu integrieren. Vielleicht nicht so radikal wie Brian Jamison das vorschlägt. Aber ich will meinen Spielern dieses Gefühl der Einschienenbahn ersparen, dass sich bei allzu fest gefügten Kampagnen einstellt. Einen Versuch ist es sicher wert

 


Dieser Artikel entstand im Rah­men des Kar­ne­vals der Rol­len­spiel­blogs „Im Mutterleib“, der von d6ideas orga­ni­siert wird. Den eröff­nen­den Bei­trag zum Umzug fin­det man hier: Klick.  

 

 

Artikelbild: ba1969 auf sxc.hu

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