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Warum ist es reizvoll, einen fremdartigen Charakter zu spielen? Statt eines Blicks auf die immer wieder thematisierten Probleme, liefern wir euch hier einen Überblick über Chancen durch fremde Kulturen und Völker und einige Tipps zur praktischen Umsetzung.

 

Warum spielt man einen fremdartigen Charakter?

Einen SC (Spielercharakter) aus fernen Landen zu spielen hat meist eine von zwei Ursachen:

  1. Man ist mit dem Setting und der Spielwelt derart vertraut, dass es etwas langweilig geworden ist. Das Spiel soll wieder spannender werden, und dazu nutzt man die Option eines ungewöhnlichen Charakters, eben eines, der aus einer weit entfernten oder ungewöhnlichen Gegend kommt.
  2. Im Rollenspiel jemanden darzustellen, der möglichst anders als die eigene Person ist, ist ein besonderer Anreiz für viele. Was liegt da näher, als entsprechend einen Charakter auszusuchen, der sich nicht nur in seiner Persönlichkeit abgrenzt, sondern auch hinsichtlich seiner Kultur?

Beide Ursachen bieten Chancen, aber auch entsprechende Stolpersteine. Welche Probleme daraus resultieren können, haben wohl die meisten Rollenspieler irgendwann einmal hautnah miterleben dürfen. Dieser Artikel hingegen soll sich vorrangig um die Chancen und Lösungen drehen.

Weniger ist oft mehr

Im Grunde bietet der Ansatz, aus Langeweile einen fremdartigen Charakter spielen zu wollen, die optimalen Umsetzungsmöglichkeiten für solche Charaktere. Kennt man die Spielwelt wie die eigene Westentasche, fällt es umso leichter sich zu überlegen, wie dieser Charakter wohl auf andere Figuren im Spiel reagiert. Zu unterscheiden sind hier die Kreationen im Rahmen eines rein fiktiven Settings und solche im Umfeld einer an die Realität angelehnten Spielwelt. Es macht einfach einen deutlichen Unterschied, ob es um die Kreation eines Charakters von der Erde der in etwa realen Gegenwart, eines Charakters aus einem fernen Sternensystem oder einer Figur aus einem Fantasy-Setting geht.

Wichtig ist, dass man sich bei dieser Hauptmotivation vor allem überlegt, wie die Fremdartigkeit das Spiel verbessern soll. Um mehr Spannung ins Spiel zu bringen, braucht es Konflikte, doch diese können auf ganz unterschiedliche Art und Weise geschaffen werden.

Soll die Fremdartigkeit sich also vor allem auf das äußere Erscheinungsbild beziehen? In diesem Fall sind die optischen Merkmale besonders deutlich herauszuarbeiten, aber eben auch, wie andere Völker und Kulturen vermutlich auf dieses reagieren werden. Das Erste, das einem wohl in den Sinn kommt, sind physiologische Auffälligkeiten, etwa zusätzliche Gliedmaße, ein Auge zu viel oder am falschen Ort, ein ungewöhnlicher Teint, nicht selten abstoßende Details der Anatomie … das sind die Aspekte, die man selbst beeinflusst. Es kann jedoch durchaus spannend sein, hier nicht zu dick aufzutragen, sondern eher subtil an die optische Fremdartigkeit heranzugehen. Vielleicht ist der Charakter schlicht besonders klein oder besonders groß. Solche Feinheiten können schon ausreichen, wenn sie sich mit dem Umfeld geschickt arrangieren lassen.

Hierzu ein Beispiel aus einem Science-Fiction-Setting:

In diesem Fall spielte jemand einen besonders kleinen Humanoiden mit blauer Haut und zwei Kopftentakeln (ja, man darf hier gerne an die Andorianer aus Star Trek denken). Dargestellt wurde ebenfalls eine eigene Kultur, die unter anderem eine stammesartige Gesellschaftsstruktur und einen gewissen Hang zur Aggressivität aufwies. Doch das war nicht allzu entscheidend, schon gar nicht zu Anfang des Spiels, denn die anderen Charaktere reagierten natürlich zuerst auf die sichtbaren Merkmale. Im Verlauf bot der Charakter Ansatzpunkte, indem man ihn ausgiebig untersuchte und biologische Unterschiede zu finden versuchte, parallel dazu erfolgte dann das Einstreuen der kulturellen Unterschiede im Gespräch sowie die Nutzbarmachung der Besonderheiten (im Klartext: Die Tentakeln ermöglichten dem Charakter ein hoch entwickeltes empathisches Vermögen).

Die offensichtlichen Konflikte ergaben sich aus der Andersartigkeit des Charakters im Vergleich zu einer noch nicht an außerirdische Kontakte gewöhnte Menschheit. Der Charakter sorgte somit quasi „von alleine“ für Themen, bei denen er im Mittelpunkt stand, sowohl innerhalb der Spielgruppe als auch außerhalb dieser in der Kommunikation mit NSC. Die einzelnen Charaktere waren gezwungen sich zu überlegen, wie sie auf diesen Charakter reagieren, wie sie ihm gegenüber treten und mehr noch: wie sie der Umwelt in Bezug auf ihn gegenüber treten. Will ihn jemand der Forschung zur Verfügung stellen? Will ihn jemand ausliefern oder gar zu verkaufen versuchen? Setzt man diplomatisches Geschick ein, um ihn zu schützen oder distanziert man sich von ihm?

Wenn man anders ist, ohne es zu wissen …

Der Spieß mit der fremden Kultur lässt sich im Übrigen auch umdrehen. Womöglich gibt es auf der anderen Seite ein Volk, in dessen Mythen bestimmte Merkmale auftauchen, die sich mit dem eigenen SC (nach Rücksprache mit der SL) anspielen lassen und zugleich – zeitweise oder dauerhaft, als Nebenstrang oder Hauptlinie – einen Plot kreieren?

Ebenfalls in einem ScienceFiction-Setting gespielt, aber in jedes beliebige andere Setting, insbesondere in ein Fantasy-Setting, zu transportieren, ist folgende (sicherlich vielen bereits bekannte) Situation:

Die Charaktere sind Otto-Normal-Helden und treffen ihrerseits auf ein fremdes Volk, vermutlich gar ein humanoides mit sehr wenigen Unterscheidungsmerkmalen zu den Charakteren. Lediglich die Kultur ist eine gänzlich andere, der technologische Stand unterscheidet sich ebenso – doch zur Überraschung der Heldengruppe werden sie als Lichtbringer, Retter, Gottheiten oder ähnliches angesehen. Das ergibt jede Menge Konflikt- und Spielmaterial, obwohl es im Grunde keine äußeren Unterscheidungsmerkmale gibt und kulturelle Unterschiede aus Sicht der SC nicht in Hülle und Fülle erkennbar sind.

Weltenbauer

Ist man mit dem Gruppenspiel an sich zufrieden und es geht einem eher darum, einfach etwas ganz Besonderes haben zu wollen, bieten fremde Kulturen unglaublich viel Futter eben dazu an. Gerade wenn man sich selbst sehr für Geschichte, Kulturen, Religionen und derlei interessiert, kann man sich bei einem Charakter aus einer fremden Kultur so richtig austoben. Auch für Weltenbauer ist so etwas eine sehr dankbare und ergiebige Möglichkeit.

Auch hierzu ein Beispiel:

Ich habe mal in einer Fantasy-Runde gespielt, in der wir lediglich ein grobes Gerüst als Ausgangspunkt festlegten. Es gab einen Kontinent mitsamt Kartenmaterial (dank eines Geographen in der Runde mit entsprechender Software sozusagen aus dem Ärmel geschüttelt) und den Konsens einer Art „Mittelreich“, alles andere war frei. Die verschiedenen Bereiche der Karte wurden eingeteilt und bedarfsweise zugeteilt. Somit hatte jeder einen Bereich der Karte, für den er Städte, Wetterbedingungen und derlei mehr relativ frei kreieren konnte. Einige beschränkten sich darauf und auf den Bereich des Städtebaus, der Agrarkultur und des Handels, andere setzten ihren Schwerpunkt bei vorherrschenden Göttern, Glaubensvorstellungen und Kulten, wieder andere entwickelten eigene Rassen und fremdartige Völker. So entstanden ziemlich klassische Hobbits ebenso wie grundsätzlich kahlköpfige Humanoide, die stark an die Schatten aus Shadowbane angelehnt waren, ein Volk lebender Vogelscheuchen in der Art von Oz, Zentauren und vieles mehr.

Doch die Kreationen beschränkten sich nicht allein auf das Festlegen optischer Merkmale, sondern jeder schrieb ein entsprechendes Skript, das die gewohnte geographische Umgebung, vorherrschende Glaubensvorstellungen, Beziehungen zu anderen Völkern, übliche Handelswaren und so weiter beinhaltete, mit der Zeit zudem typische Schmuckstücke, Glücksbringer, Mode und derlei mehr. Es entstand eine selbst gemachte, komplexe Welt, die inplay wie outplay viel Spannendes zu bieten hatte. Das Spiel selbst erfolgte ganz traditionell mit einer Spielleitung, doch dieser bediente sich der bestehenden Skripte, und wurde ein Thema besonders angeschnitten, war auch der jeweilige Spieler, der all das entworfen hatte gefragt, wenn es um Beschreibungen und Details ging. Die Aufmerksamkeit aller beim Spielen war entsprechend durchgängig ziemlich hoch in dieser Runde.

Do it yourself!

In diesem Zusammenhang auch ein kurzer Verweis auf einen – wie ich finde – Denkfehler: Man möchte Setting X bespielen und braucht dazu unbedingt auch das entsprechende Regelwerk oder wartet sehnsüchtig darauf, dass sich irgendwer erbarmt, eines zu veröffentlichen. Schade. Leute, die Regelwerke und Quellenbücher veröffentlichen, sind doch in der Regel auch nichts anderes als Spieler, die bestimmte Ideen zu Papier bringen – nur dass sie dies mit einem bestimmte(re)n Ziel tun und das Ganze in ein verkaufbares Gerüst verpacken. That’s it.

Du willst also eigentlich nicht allein einen fremdartigen Charakter, sondern im Grunde ein Stück deines Lieblingsspiels, -films oder ähnlich ins Spiel bringen können? Geht natürlich, allerdings kann man auch im Setting von World of Warcraft, X-Men oder sonst was spielen, ohne dazu ein spezifisches Regelwerk zu kaufen. Ob nun D20, nWoD, GURPS, Savage Worlds oder etwas anderes: Der Transport eines Settings in ein Regelsystem ist (fast) immer ebenso möglich wie das Einbinden eines einzelnen Charakters. Und bedenke: Die Rollenspielpolizei wird nicht bei dir klingeln, weil du beispielsweise World of Warcraft nicht nach dem offiziellen D20-Regelwerk spielst, sondern nach den Regeln der WoD. Versprochen!

Es ist alles nur geklaut …

Wem das Weltenbaubeispiel zu viel des Guten ist, wer sich aber dennoch einen SC wünscht, der einer anderen Kultur entspringt, der kann sich einfach vor der realen Haustür bedienen. Man kann einen japanischen Charakter erstellen und sagen: „Der kommt aus Japan.“ Oder man sagt etwas wie „Wie ein typischer Japaner halt, näh/woll/gell?“. Man kann aber auch einfach spielen, was man sich da vorgenommen hat. Und das, so werden viele rasch feststellen, ist gar nicht so einfach. Rasch wird sich vielen dabei zeigen, dass die Darstellung einer fremden Kultur nicht von Animes, Koi-Karpfen, Sushi und Bonsais abhängt. Doch was ist spannender als zu versuchen, sich einer realen Kultur anzunähern, die über zahlreiche Jahrhunderte hinweg wirklich gewachsen ist und sich entwickelt hat?

Anfangs steht auch hier viel Recherche auf dem Plan, wenn man es ernsthaft und authentisch angehen möchte. Das beliebte „Show, don’t tell“ gilt nämlich stets auch für SC, und so sind obige Beispielzitate im Grunde genommen nichtssagend. Was ist denn wirklich typisch japanisch, indisch, russisch, peruanisch …?

Keine Sorge, man muss nicht erst zahlreiche Bücher und Reiseführer lesen, bevor man sich an einen solchen Charakter wagen kann – auch wenn es sicherlich hilfreich ist. Man kann ruhig mit einer Klischee-Kultur beginnen und sich dann im Verlauf der Vorlage annähern, so wie man sich sowieso in einen Charakter erst ein wenig einspielen muss. Die Möglichkeiten sind allerdings quasi grenzenlos,

Langeweile sollte eigentlich nicht aufkommen, wenn das Herausarbeiten der Kultur konsequent fortgesetzter Bestandteil des Spiels ist – spannend für einen selbst, aber durchaus auch spannend für andere, vom tatsächlichen (Weiter)bildungseffekt nebenher einmal ganz abgesehen.

Und natürlich kann man reale Kulturen auch einfach „umtaufen“. Dann ist der Peruaner eben ein Perolyt oder der Russe ein Gorlewuk … andere machen es auch nicht anders. So haben die World of Darkness und World of Warcraft auf den ersten Blick wenig gemeinsam bis auf die ersten beiden Worte ihres Titels. Aber sowohl die Ravnos-Vampire der WoD und auch die Kuei-Jin, als auch die Pandaren aus World of Warcraft beziehen sich stark auf (unterschiedliche) asiatische Kulturen und Mythologie – und beide ließen sich dabei nicht davon abhalten, wild Japanisch, Chinesisches, Indisches … einfach zu mischen. Also nur Mut zu eigenen Kreationen und zur Vertiefung bestehender!

Fazit

Wie man sieht, kann man schon allein durch Kleinigkeiten etliches innerhalb der Spielgruppe auslösen. Darum mein Tipp: Nicht zu „groß“ denken. Es sind wie so oft eher die kleinen Dinge, die Veränderungen bewirken. Von Änderungen durch Kleinigkeiten profitiert man erfahrungsgemäß länger, als wenn man einen „Ober-Drow“ oder ein „Super-Alien“ erschafft, dem mit ziemlicher Sicherheit eine eher kurze Lebensdauer als SC beschieden ist.

Über kurz oder lang werden SL oder die anderen Spieler wohl meutern, wenn der fremdartige Charakter allen anderen zu sehr das Wasser abgräbt, ob nun bewusst oder unbewusst. Dennoch darf man auch Mut für Ungewöhnliches und Umfassendes zeigen, was die eigenen Kreationen betrifft, so lange man eben die Balance der Gruppe an sich berücksichtigt. Klare Absprachen untereinander wirken da wie zumeist Wunder.


 

Dieser Artikel ist Teil der Thementage Fremde Kulturen. Hier geht es zur Übersicht: Klick

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 Artikelbild: Aood auf sxc.hu

3 Kommentare

  1. Es kann noch einen dritten Grund geben einen fremden SC zu spielen: Die anderen Mitspieler sind mit dem Setting vertraut, man selbst aber kaum. Wenn ich nun einen SC aus Fernhausingen spiele, habe ich die Freiheit, den so zu gestalten wie ich will, weil die anderen Spieler kaum eine Vorstellung von Fernhausingen haben und unsere Vorstellungen daher nicht miteinander kollidieren. Gleichzeitig kann ich als Fernhausinger die Welt der Nahhausinger kennenlernen und es passt zum Charakter Fragen zu stellen, wenn ich etwas nicht gleich verstehe.

  2. Ein weiterer Grund für bestimmte fremde Kulturen kann leider auch Powergaming sein.

    Es werden z.B. asiatisch inspirierte Kulturen genommen, da so der Charakter ein Katana (was manchmal in den Regeln besser ist als ein Schwert) oder eine andere asiatische Waffe ohne Probleme nehmen kann.

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