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Nach Jahren also mal wieder Cyberpunk. Um genau zu sein Fieberglasträume, ein von Frank Hebben und André Skora herausgegebener Kurzgeschichtenband mit „14 illustrierten Textfiles von den Avantgardisten des deutschen Cyberpunk“. Letztere kündigt zumindest der Klappentext an. 15 Jahre nach Bruce Sterlings gleichzeitig melancholischem wie hoffnungsvollem Abgesang auf das Genre scheint mir die Ankündigung einer Avantgarde darin äußerst kühn und anachronistisch. Vielleicht ist die deutsche SF-Literatur der amerikanischen nach Meinung der Macher aus dem Begedia-Verlag aber auch nur 30 Jahre hinterher? Wahrscheinlich geht es nur darum, dass man hier einige unbekannte Autoren mit wenigen halbwegs bekannten zusammen veröffentlicht hat.

Zugegeben: Der Anspruch, den der Klappentext behauptet, ist genauso hoch wie der Grad meiner Skepsis, dass der Band ihn erfüllen kann. Vorneweg: Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Interessant dagegen die Idee, die Geschichten zu illustrieren. Meist bleibt ja nach dem Lesen diese eine (mitunter cineastische) Szene im Gedächtnis haften, die man sich immer wieder bildlich vorstellen kann. Ebenfalls schön: da die meisten Autoren und Grafiker nicht unbedingt Megastars sind, werden alle am Ende kurz vorgestellt.

Erscheinungsbild

Das Erste, was bei einem Buch naturgemäß in den Blick fällt, ist das Coverartwork. Im vorliegenden Falle ist es extrem plakativ und sicherlich Geschmackssache. Titten und Technik, nun ja. Vielleicht bin ich verklemmt, aber irgendwie habe ich eher andere Bilder im Kopf, wenn ich an Cyberpunk denke.

Bonuspunkte für die Gestaltung gibt es dank der Illustrationen im Inneren des Buches. Insgesamt 15 farbige Seiten von diversen bekannten und unbekannten Illustratoren passen jeweils zu den Geschichten, zu denen sie gruppiert sind, auch wenn es in den seltensten Fällen um den oben erwähnten „einen Moment“ geht.

Fieberglas_coverVom autodidaktischen Comiczeichner bis hin zu studierten Illustratoren reicht das Spektrum der vertretenen Künstler. Entsprechend vielfältig sind die Stilformen der jeweiligen Bilder, aber sie bewegen sich allesamt auf einem Niveau, wie man es auch in professionellen Rollenspielpublikationen vorfindet. Schöne Idee.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Begedia Verlag Harald Giersche
  • Autor(en): Frank Hebben (Herausgeber), André Skora (Herausgeber)
  • Erscheinungsjahr: 2013
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN: 3943795403
  • Preis: 14,95 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (Klick)

 

Story

Hier gibt es viel Schatten, aber auch einiges an Licht, wobei das bei Anthologien wenig überraschend ist. Spontan fällt mir keine Kurzgeschichtensammlung ein, in der wirklich jeder Beitrag ein Knaller ist. Insgesamt hätte ich mir hier aber etwas mehr Mut zum Risiko und (ja, ich weiß, ich reite darauf rum) zur Avantgarde gewünscht. Die Mehrzahl der von Hebben und Skora ausgewählten Beiträge verlässt sich auf die Standards des Genres aus den 80ern. Das macht die Geschichten ja nicht zwingend schlecht, aber sonderlich originell ist es auch nicht. Oft fühlte ich mich in meine Zeit als Shadowrunner zurückversetzt, in der ich die eine oder andere beschriebene Szene mehr oder weniger genau so erlebt habe, wie sie in Fieberglasträume beschrieben wird.

Zu den „klassischen“ Vertretern gehören Hacks bei den falschen Leuten und deren Folgen oder auch die obligatorische Actionszene, die entweder aus Rache passiert, weil man reingelegt wurde oder weil man etwas bei sich hat, das andere gerne hätten. Auch die Fraktionen sind hierbei die üblichen Verdächtigen: Ganger, Konzerne, KIs und die ewigen Außenseiter als Protagonisten. Üblicherweise handeln die Geschichten konsequenterweise von den Konflikten zwischen diesen Fraktionen. So weit so (oft) gehabt.

Nicht nur altes Öl in neuen Schläuchen

Ein paar der Beiträge nehmen die klassischen Themen und fügen ihnen neue Elemente hinzu, die „damals“ so noch nicht präsent sein konnten. Niklas Peineckes Animatoo etwa überspitzt, was passieren kann, wenn man sich laufend kostenlose Apps herunterlädt, ohne sich Gedanken darum zu machen, warum die einem kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Kabelgott von Sven Klöpping ist ein satirischer Seitenhieb auf Second Life und eigentlich auch MMORPGs. Eine alternative Vorgeschichte zur Matrixtrilogie liefert gewissermaßen Der Sturz von Michel K. Iwoleit – wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen.

Aus Genresicht neu sind eigentlich nur zwei bzw. drei der Geschichten. Das sehr unterhaltsame Demeters Garten von Thorsten Küper hat mit den üblichen vollverdrahteten und muskelbepackten Sonnenbrillenträgern so gar nichts zu tun. Es gibt noch nicht mal explizit einen Cyberspace. Stattdessen finden wir hier einen guten Schuss Big Bang Theory und eine Prise von Chuck Palahniuks Kolonie mit einer Pointe, die wiederum ins Fernsehen weist (zu verraten, worauf genau, wäre ein Spoiler).

Die anderen beiden Geschichten sind eigentlich eine. Zeit der Asche behandelt einen postapokalyptischen Krieg aus der Sicht jeweils einer der beiden Konfliktparteien. Beide Perspektiven werden von jeweils einem unterschiedlichen Autoren geschildert (Frank Hebben für Rheingold bzw. Christian Günther für die Hanse). Hier handelt es sich um ein nur noch sehr entfernt im Cyberpunk verhaftetes Endzeitszenario in dem Biologie und Technik auf ganz andere Art verschmelzen.

Schreibstil

Wie zu erwarten ist auch hier die Qualität sehr unterschiedlich. Manche der Geschichten sollten vielleicht noch einmal lektoriert und korrigiert werden. Andere wiederum sind auf extrem hohem Niveau.

Stilistisch finden sich Imitationen der noir-angehauchten Cyberpunk-Schreibe und mal mehr, mal weniger flott geschriebene Satiren oder Actionszenen, die es eher selten geschafft haben, mich so richtig mitzureißen. Man merkt bei einigen der Autoren eben, dass sie noch ein wenig brauchen, um sich zu entwickeln und ihr Talent sowie ihre Eigenständigkeit zu entfalten. Andererseits kann es Nachwuchs nur geben, wenn dieser auch die Gelegenheit hat, sich zu präsentieren und so sein Publikum zu finden.

Preis-/Leistungsverhältnis

Zuerst einmal dürften die Tantiemen für die Anthologie eher gering sein, da die meisten Autoren noch keine großen Schecks verlangen können. Auf der anderen Seite lässt sich sagen, dass die 14,95 Euro, die das Buch im Handel kostet, allein schon wegen der vierfarbigen Innenseiten gerechtfertigt sind. So etwas ist nicht günstig herzustellen, zumal in (der vom Rezensenten unterstellten) Kleinauflage. Leider ist auch die Homepage des Mülheimer Verlages nicht ergiebig, was Hintergründe, Standing und Ähnliches angeht. Insgesamt würde ich ohne Vorwissen bei dem Preis aber wohl lieber auf Nummer sicher gehen und zu etwas anderem greifen. Da ist es unwahrscheinlich, dass Kurzgeschichten von mir weitestgehend unbekannten Autoren auf der Ladentheke landen.

Fazit

Wie viele Sammelbände ist Fieberglasträume insgesamt durchwachsen. Ein guter Teil der Geschichten kommt wenig originell mit den in Sterlings verlinktem Artikel beschriebenen „easy C-word recognition symbols“ daher. Diejenigen, die einfach mal wieder was aus dem Genre lesen wollen, oder vielleicht auch die Hochzeit des Cyberpunk nicht miterlebt haben (ist ja nun schon eine Weile her…), könnten hier fündig werden – wenn sie hin und wieder eine gewisse Leidensfähigkeit bezüglich des sprachlichen Niveaus mitbringen.

Einige wirkliche Perlen gibt es unter den Autorenbeiträgen aber durchaus auch zu entdecken.  Ebenfalls gefällt die Idee der Illustrationen zu den Geschichten, die sich auf professionellem Level bewegen. Insgesamt gibt es von mir eine Bewertung im soliden Mittelfeld, wobei sich die Sterne für die Story und der Sprache aus dem Mittelwert der jeweiligen Einzelpunkte zusammensetzen.

 

Artikelbild: Mit Genehmigung des Verlages 

 

 

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