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2004 stellte White Wolf nach einer 13-jährigen Erfolgsgeschichte die Classic World of Darkness (CwoD) und ihr Flaggschiff, Vampire: The Masquerade (V:TM), ein, um sie anstelle einer neuen Edition durch eine alternative WoD und Vampire – The Requiem (V:TR) zu ersetzen. Die ungewöhnliche Entscheidung des Verlages, ein leben­di­ges, detail­rei­ches und belieb­tes Spiel­uni­ver­sum zugunsten einer vollständig neuen Version zu köpfen, sorgte für einigen Unmut. In den Untiefen des Internet lassen sich noch heute etliche getrocknete Blutspuren finden, die die monumentalen Verbalschlachten der Zeit hinterlassen haben. Hierzulande scheint der Bedarf nach einer neuen WoD bzw. einem neuen Vampir-Rollenspiel klein gewesen zu sein – klein genug, um den deutschen Versionen der neuen WoD-Bücher den Todesstoß zu versetzen.

Seit 2011 nun hat sich die Situation grundlegend verändert. Vampire: The Masquerade feierte nach Jahren des Komas mit einer 20th Anniversary Edition (V20) seine Wiedergeburt; dank E-Publishing und PoD sind zudem viele der alten Bücher wieder erhältlich. Mittlerweile gibt man sich bei der „neuen“ federführenden Firma Onyx Path Publishing eine Menge Mühe, die Spielerbasis in offenen Entwicklungsprozessen miteinzubeziehen. Diese ebenso erstaunlichen wie glücklichen Fügungen sollen Anlass genug sein, beide Spielsysteme und ihre Entwicklung in einer entspannten Bestandsaufnahme nebeneinanderzustellen.

Goth Fashion of the 90s

Als Vampire – The Masquerade im Jahr 1991 das Licht der Rollenspielwelt erblickte, gelang dem Spiel aus dem Stand heraus ein bahnbrechender Erfolg. Seine Nachbeben haben große Bereiche des Hobbys bis zum Anfang der 2000er beeinflusst. Ein Teil dieses Erfolgs war mutmaßlich dem Zeitgeist wie der ihn widerspiegelnden Entwicklung in der Phantastik geschuldet. Zum Hintergrund hatte Vampire eine mit den Schlagworten Gothic-Punk bedachte, düstere Version unserer Gegenwart erkoren, in deren Schatten das Übernatürliche lauert – eine Art unheimlich-romantisierter Gegenentwurf zur rational-wissenschaftlich erfassbaren Lebenswelt. Wie sehr das Spiel mit seiner Stimmung zum richtigen Zeitpunkt den Nerv traf, dürfte sich am Erfolg von Filmen wie Interview with the Vampire und The Crow erkennen lassen, deren Einfluss im Genre über Jahre hinweg spürbar war.

Obwohl die Ansätze von V:TM (natürlich) nicht jedermanns Geschmack trafen und fundamental kritisiert worden sind, ist wohl nicht zu bestreiten, dass sie eine Menge frischen Wind und neue Konzepte ins Rollenspiel brachten. Ein Jahrzehnt zuvor hatte Call of Cthulhu schon erfolgreich tragende Aspekte des Horror-Genres auf den Spieltisch transportiert; Rollenspiel war aus der Fantasy in andere Genres vorgedrungen, und Geschichten wie auch lebendigere Figuren hatten sich einen höheren Stellenwert erarbeitet. Ein großer Teil des Hobbys beschäftigte sich aber weiterhin mit klassischen Sword&Sorcery-Themen, insbesondere der fachgerechten Tranchierung von Monstern und sonstigen Antagonisten mittels Stahl, Feuerball oder vollautomatischen Waffen.

Wie es Anne Rice, Nancy A. Collins und die Dark Shadows-Serie vorexerziert hatten, wählte V:TM nun klassische Monster aus Buch und Film als Protagonisten. Die besonderen Kräfte der übermenschlichen Hauptfiguren, die vampirischen Disziplinen, dürften mit einem sachten Hauch düsteren Superheldentums einen wesentlichen Beitrag zur Attraktivität des Spiels geleistet haben. Im Spielstil will es die Atmosphäre und die erzählten Geschichten betonen, hinter deren Dramaturgie die Regelmechanik zurücktritt. Das „Spiel um persönlichen Horror“ legt bei den in Graustufen gezeichneten Charakteren hohen Wert auf deren psychische Entwicklung. Moralische Dilemmata, das verzweifelte Ringen um Menschlichkeit, innere Konflikte sollen an dieser Stelle wichtige Themen sein, die dem Spiel freilich auch Abwertungen als Vehikel für simplen Kitsch eingetragen haben.

Aus theatralischem Pathos, Mysterien und BadAss-Coolness hatte White Wolf ein eigentümliches Gebräu zusammengerührt und damit den Grundstein für den Erfolg der CWoD gelegt. In den folgenden Jahren sollte sie zahlreiche weitere Spiellinien hervorbringen und – bis an den Rand der Überbevölkerung und der Glaubwürdigkeit – ein Spielplatz vieler weiterer übernatürlicher Wesen werden.

Die Welt der Maskerade – Lestat, Wolverine & der Pate

V20 CoverV:TM entwirft eine Hintergrundwelt, in der sich die machtvollen Blutsauger seit Jahrhunderten in den Schatten der menschlichen Gesellschaft verbergen und von dort aus die Geschicke der Welt zu lenken suchen. Als urbane Jäger sind sie in eine eigenständige vampirische Sozialstruktur eingebunden, die an feudalistische Systeme angelehnt und von beständigen politischen Intrigenspielen, Paranoia und Machthunger gekennzeichnet ist. In tieferen Schichten der verborgenen Welt tobt der Jyhad, die geheimnisumwitterte Auseinandersetzung uralter Vampire, in der ihnen die Jüngeren als Schachfiguren dienen.

Die Vampire der Maskerade (auch: Kainiten) führen ihre Existenz auf den biblischen Kain zurück. Von ihm ausgehend wurde der Fluch Generation um Generation weitergegeben, aber die Macht des Blutes immer schwächer. Noch in der dritten Generation vermutet man Kreaturen von gottähnlicher Macht, die Vorsintflutlichen, Gründerväter/mütter der dreizehn vampirischen Clans. Die Gesellschaft der Vampire wie auch die einzelnen Figuren werden von den Clans geprägt. Diese Blutlinien bringen nicht nur besondere Kräfte und mystische Schwächen mit sich, sondern dienen auch dazu, in den Grundzügen Charaktere zu archetypisieren und ihre gesellschaftliche Rolle grob zu umreißen. In den Clanbüchern wird der Hintergrund der Clans in enormer Detailfülle ausdifferenziert und ihre über Tausende von Jahren hinweg reichende Geschichte ausgeleuchtet. Im Laufe der Zeit sind die Clans Gegenstand einer erstaunlich großen Anzahl von Glühbirnenwitzen und zu einem mit Klischeebildern beladenen, prägenden Markenzeichen der V:TM-Welt geworden.

Harte Gräben kaum überwindbarer Differenzen verlaufen zwischen den global agierenden Sekten. Da diese sozialen Verbünde von klaren, konfliktreichen Fronten getrennt werden, lassen sie sich am besten als unterschiedliche Vampire-Spielvarianten verstehen. Die Camarilla, quasi die Standard-Perspektive, hat sich der Aufrechterhaltung der Maskerade verschrieben, der Verschleierung der Existenz von Vampiren gegenüber den Sterblichen. Daneben stützt und fördert sie eine traditionelle, feudale Gesellschaftsstruktur unter den Kainskindern, in der das Alter eine große Rolle spielt. Der Sabbat hingegen steht für unmenschlich-fremdartige Vampire, die ihre Wildheit und Fremdartigkeit zelebrieren. Die Anarchen schließlich verkörpern weniger eine Sekte oder geschlossene Gruppierung als vielmehr eine Ideologie, deren Kerngedanken gerade aus Unabhängigkeit und Freiheit bestehen.

Verlegerische Erzählonkelei: Kanon und Metaplot

In der zweiten Hälfte der 90er war der WW-Erfolgsmotor nach kometenhaftem Aufstieg ins Stocken geraten; vielen Experimenten mit neuen Spiellinien blieb anhaltende Popularität auf dem Niveau der ersten WoD-Spiele verwehrt. So sollte zukünftig der Metaplot der WoD maßgeblich dazu beitragen, die Bücher von Vampire, Werewolf, Mage zu verkaufen, die Linien in Cross-Promotion untereinander zu stützen und zum Sprungbrett neuer Spiele und Quellenbücher werden.

Nachdem die zweite Edition die Welt der Vampire noch fragmentarisch gezeigt und in Folgepublikationen schrittweise erweitert hatte, präsentierte die dritte (revised) Edition des Regelbuchs 1998 ein konsolidiertes Universum mit klaren Strukturen und Prämissen. Bereits vorher hatte sich V:TM durch einen extensiven, offiziellen Hintergrund ausgezeichnet, der mit tragenden Charakteren, Handlungssträngen, Verflechtungen und sich über Jahrhunderte erstreckenden Verschwörungen stetig weiter wuchs. Der Schwerpunkt hatte, von kryptischen Prophezeiungen abgesehen, zunächst eher in der Erforschung der zahlreichen Geheimnisse in der Vergangenheit der Spielwelt gelegen. 

Mit der dritten Edition von V:TM rückte nun (passend zum nahenden Jahrtausendwechsel) mit endzeitlicher Stimmung Gehenna, eine Art kainitische Apokalypse, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. V:TM erzählte über die folgenden Veröffentlichungen hinweg mit gestiegener Konsequenz eine fortlaufende, epische Geschichte voller Wendungen und Verknüpfungen, die die Spielwelt in die Zukunft trieb und zu dominieren begann. Dieser Metaplot umfasste nicht nur Quellenbücher und Chroniken, Romane, Comics und das in der Vergangenheit angesiedelte Dark Ages: Vampire, sondern ergriff auch die anderen Spiellinien der CWoD. So wuchs die CWoD über ein reines Spieluniversum hinaus und sprach den Spieler auch als Leser an, der den Handlungsstränge in verschiedenen Büchern, Spielen und Medien folgen konnte.

So fesselnd sich die reichhaltige und lebendige Welt dadurch auch gestaltete: der Metaplot brachte nicht wenige Probleme mit sich, von denen zahlreiche Widersprüche und die wuchernde Komplexität des Hintergrundes schon vergleichsweise kleine waren. Er wurde mit diesen Handlungsfäden eben nicht nur an spielerischen Bedürfnissen ausgerichtet; manches Mal tat man sich bei White Wolf schwer damit, die konzipierte Entwicklung überhaupt sinnvoll in spielerisch verwertbares Material umzumünzen. Die kanonischen Erzählstränge schleiften das latente und unbefriedigend aufgelöste Dilemma der Deprotagonisierung mit sich. Im Schatten unglaublich mächtiger NSC, den Globus umspannender Verschwörungen und vorbestimmter Entwicklungen schwebte die stetige Frage über der Spielwelt, wie SC denn mehr als Statisten oder Zuschauer sein können.

Das Metaplot-Korsett bremste zudem die Kreativität der Autoren in zunehmendem Maße aus; alle Elemente waren ja im Grundsatz dazu gedacht, gleichzeitig in derselben Welt zu existieren, und mussten daher aufeinander abgestimmt bleiben. Fragwürdige Ideen wie spirituelle Nuklearwaffen und andere reißerisch-überzogene Wuchtschläge trugen andererseits ihren Teil dazu bei, Themen zu konterkarieren, die eigentlich nahe am Kern von V:TM hätten bleiben sollen. Der offi­zi­el­le Kanon bot zwar zunächst vielerlei Potential, stand aber der Wei­ter­ent­wick­lung der Linien schließlich auch im Wege.

Als die Revised-Versionen der CwoD-Hauptspiellinien allmählich das Ende ihres Produktzyklus erreicht hatten, sah sich White Wolf sinkenden Verkaufszahlen gegenüber und hatte sich mit der Publikationspolitik in gewis­ser Hin­sicht in eine Sack­gasse hin­ein­geschrieben. Man wird spekulieren können, dass der Metaplot von einer Lösung zu einem Problem geworden war. Im finalen Gehenna-Band ließen sie dann jenes prophezeite Armageddon tatsächlich eintreten und schlossen den Metaplot mit einem denkwürdigen Knall ab; dieser und weitere Time of Judgement-Bände sollten die gesamte CWoD endgültig zu Grabe tragen.

Die Zeit ist über das Wörtchen „endgültig“ hinweggegangen. In der 2011er-Jubiläumsausgabe ist V:TM als V20 in einer behutsamen Modernisierung wiederauferstanden, die den früheren Metaplot-Entwicklungen neutral gegenübersteht; als PDF oder im PoD-Format ist jener reichhaltige Hintergrund (wieder) der Plünderung zugänglich, der einen großen Teil der Anziehungskraft dieses Universums ausmacht. Die Geschichten, die sich von der Revised Edition bis nach Gehenna gesponnen haben, haben sich von „offiziellen“ Bausteinen zu Optionen verwandelt.

Vampire: The Requiem – Kennen wir uns nicht irgendwoher?

Requiem CoverAls Vampire – The Requiem nach dem Untergang der CWoD zusammen mit einer neuen WoD die Bühne betrat, war der Applaus gerade in Deutschland allenfalls verhalten. Viele dürften ent­täuscht gewesen sein, anstelle einer neuen Inkarnation der liebgewonnenen Masquerade einerseits ein neues Spiel vorzufinden, dass andererseits aber nicht eigen­stän­dig genug wirkte. Aus der Distanz betrachtet gruppiert das ursprünglich nicht als Alternative, sondern gereifter Nachfolger gedachte Spiel hauptsächlich aus dem Vorgänger bekannte Elemente neu. Aus der V:TM-Richtung kommende Spieler verspürten offensichtlich wenig Bedarf, in ein solches Universum überzusiedeln. Was sich einerseits als Abwurf massiven Ballastes verstehen lässt, wirkte andererseits eben auch wie eine drastische Beschneidung.

Erst ein näherer Blick auf V:TR, die Erweiterungsbände und die Entwicklung der neuen WoD-Familie offenbart die besonderen Qualitäten des Spiels und seine zunehmende Emanzipierung.

An unzähligen Nuancen zeigt sich, dass das Spieldesign auf 13-jähriger Erfahrung mit einem ähnlichen Spiel beruht. V:TR entwirft aus dem Stand heraus ein abgerundetes Bild moderner Vampire und bettet sie in eine schlüssige, auf Spielbarkeit abgestimmte Sozialstruktur ein. Im Ton gibt es sich leiser, bedächtiger und bodenständiger. Trenchcoat&Katana-Action-Horror weicht in Rückbesinnung auf Tugenden der 2nd Edition persönlichem Schrecken; das Schicksal des einzelnen Vampirs rückt stärker in den Mittelpunkt. Damit einher geht ein lokaler Fokus und ein weit weniger episches Spielgefühl. Weltweite Vernetzungen, globale Verschwörungen, allumfassender Metaplot sind aus dem Setting grundsätzlich verschwunden; in erster Linie soll die einzelne, für sich allein stehende Stadt das Spielfeld darstellen.

Die augenfälligste Änderung gegenüber dem Vorgänger betrifft die Neukonzipierung der vampirischen Charaktere. Die handelnden Figuren entstehen aus dem Spannungsfeld zweier Faktoren, Clan und Bund, quasi den X- und Y-Koordinaten der Charaktererschaffung. Die fünf Requiem-Clans bilden klassische Vampir-Archetypen ab und stehen in erster Linie für die Blutsfamilie – besondere Eigenschaften, Schwächen und Kräfte, aber nicht politische Positionen. Wem das zur Individualisierung nicht ausreicht: für weitere Varianz sorgen unzählige Blutlinien, denen sich Charaktere anschließen können. Als zweiter definierender Faktor tritt das Bekenntnis zu einem von fünf Bünden hinzu. Diese Fraktionen repräsentieren Zusammenschlüsse aus politischen und/oder spirituellen Strömungen innerhalb der Gesellschaft der Vampire; aus ihrem Zusammenwirken erwächst ein Großteil des Intrigengeflechtes innerhalb einer Domäne. Verhärtete Kriegsfronten, wie sie die Sektenkonflikte kennzeichnen, kennt V:TR in dieser Form nicht; die Auseinandersetzung findet primär in der politischen Arena statt, nicht auf einem Schlachtfeld.

Nicht ganz so sehr ins Auge stechend, aber für die Dynamik des Hintergrundes von großer Wichtigkeit sind die veränderten Maßstäbe für die Machtfülle eines Vampirs. Sie bemisst sich nicht mehr nach der Generation, in der ein Vampir von einem Urvater entrückt ist, sondern steigt mit zunehmendem Alter. Je mehr der Untote altert, desto mehr steigt die Macht seines Blutes; das führt allerdings auch dazu, dass es ihm schwerer und schwerer fällt, sich angemessen zu nähren und aktiv zu bleiben. Die Verdickung des Blutes zwingt ihn schließlich in Starre/Torpor, in der sich ein Teil seiner Erinnerungen in fiebrigen Traumbildern auflöst, während sich die Macht aus seinem Blut ausbrennt. Wo also die Strukturen des V:TM-Universums von uralten und übermächtigen Kreaturen stabil gehalten werden, treffen wir hier auf ein dynamischeres Sozialgefüge. Das relativierte Machtgefälle zwischen jungen und alten Vampiren lässt höhere soziale Mobilität zu. Der Macht der Alten sind natürliche Grenzen gezogen, die Spielercharakteren mehr Handlungsfreiheit gewähren.

Der Torpor-Mechanismus beeinflusst ebenfalls den Umgang des Settings mit der Vergangenheit der Vampire. Weil die Starre das Gedächtnis auch der ältesten Vampire beeinträchtigt, bleibt der Ursprung der Vampire im Nebel der Geschichte verborgen. Man mag bei der Lektüre des Regelbuches nun den reizvollen Aspekt altertümlicher Geheimnisse und Rätsel schmerzvoll vermissen; in der Tat erscheint es zunächst so, als hingen die Requiem-Vampire ahistorisch im Limbo der Neuzeit. Weitere Veröffentlichungen wie Mythologies nehmen sich des Themas jedoch mittels modularer Hintergrundbausteine intensiver an und lassen den Weg, den V:TR nimmt, deutlicher erkennen.

V:TR wie die gesamte neue WoD haben sich nämlich konzeptionell von ultimativen, kanonisierten Wahrheiten und offiziellem Metaplot verabschiedet. An die Stelle eines festgefügten Hintergrundes tritt eine breite Werkzeugkiste optionaler Elemente, mit denen sich die individuelle Spielwelt gestalten lässt. Jede Spielrunde mag ihre Ausprägung der WoD selbst frei definieren. Auch wenn das vereinheitlichte Regelkostüm Crossover-Spiel maßgeblich vereinfacht, bleibt schon im Ansatz offen, ob all die übernatürlichen Wesen der WoD tatsächlich in derselben Welt existieren. Frühe Requiem-Bücher befassten sich noch, wenn auch in offener Form, mit grundlegenden Prämissen der Spielwelt wie Bünden oder Ghulen. Spätere Werke folgen konsequent dem Baukastenprinzip, indem sie mögliche Hintergrundelemente für Geschichten schildern. Damnation City, ein massives, universelles Städtebau-Kompendium, ist das prägnanteste Beispiel dieses Toolkit-Ansatzes. Recht spät (in den Clanbüchern, Requiem for Rome, Ancient Mysteries/Bloodlines und den Night Horrors Bänden) schwenkt V:TR in Richtung und Schwerpunkt, um tiefer in das Setting einzutauchen und es markanter als Story auszugestalten.

The Danse Macabre löst sich schließlich sogar von bis dahin als grundlegend verstandenen Eckpfeilern und verkörpert mit zahlreichen Optionen, alternativen und ergänzenden Mechanismen den bisherigen Höhepunkt der Pilgerreise. Es zerlegt V:TR, nimmt den Motor auseinander und sinniert freimütig darüber, wie man ihn neu und anders zusammenbauen kann. So enthält das Buch beispielsweise Re-Designs der Bünde als globale Verschwörungskonstrukte, wie sie bis dato V:TM vorbehalten waren. Damit ist die Ausgestaltung von V:TR als Regel- und Hintergrund-Sandbox vorläufig vollendet; zugleich steht es an der Schwelle einer Art neuer Edition.

Ausblick

Im Jahre 2013 werden Requiem und Maskerade zwar leider nicht (mehr) in deutscher Sprache fortgeführt, stehen aber in den Originalausgaben gleichberechtigt nebeneinander und werden von Onyx Path Publishing parallel unterstützt. Auch in unbeobachteten Momenten scheinen sie nicht mehr nacheinander zu schnappen, und nur gelegentlich ist ein leises Knurren zu hören. Trotz vieler Gemeinsamkeiten verfügen beide Spiele über genug Alleinstellungsmerkmale, um unterschiedliche Geschmäcker anzusprechen. Nicht nur geruchssensible Gemüter werden bei näherer Betrachtung ihre Reviermarkierungen riechen können. Würde man mich zwingen, die Grenze zwischen den beiden Welten mit möglichst wenigen, polemisch vergröbernden Worten auf den Punkt zu bringen: das Vampire: The Masquerade Universum verfügt dank seines episch-fantastischen Hintergrundes über prägnante Identität und kräftige Würze – Vampire: The Requiem aber ist stärker darauf ausgerichtet, den Anforderungen an eine offene Spielwelt und persönliches Drama gerecht zu werden. Wer Lust verspürt, aus beiden eine Schimäre züchten, erhält übrigens im Vampire Translation Guide interessante Einblicke und brauchbare Handreichungen.

Getrennt voneinander führen die Pfade beider Spielsysteme in die Zukunft. Children of the Revolution für V20 bietet in bester (oder bedenklichster) CWoD-Tradition nur bedingt als Spielmaterial verwertbare Figuren mit mal mehr, mal weniger interessant zu lesenden Charaktergeschichten. The Hunters Hunted II holt die Jäger ins 21. Jahrhundert, und eine beunruhigende Menge weiterer Büchern befindet sich in der Entwicklung. Für die Zukunft deutet sich an, dass starke, vernetzte Hintergrundbestandteile ein wichtiger Teil der Linie bleiben sollen, Metaplot-Ergänzungen aber nicht zu erwarten sind.

Für V:TR steht mit Blood and Smoke: The Strix Chro­ni­cles eine grundlegende Überarbeitung in den Startlöchern. Ähnlich wie (bzw. aufbauend auf) God-Machine Chronicle enthält es eine Generalüberholung der Grundregeln und einen Kampagnenhintergrund; der Gratis-Schnellstarter Reap the Whirlwind erlaubt erste Einblicke in „Requiem 2.0“. Bis zu einem fundierten „quo vadis?“ werden wir uns aber noch ein Weilchen gedulden müssen.

 Artikelbilder: White Wolf Publishing, Onyx Path Publishing

 

 

 

24 Kommentare

  1. Irgendwie ist in der Gegenüberstellung der Text zu Requiem nur knapp ein drittel so groß wie jener zur Maskerade? (Fällt mir so als V:tM Fan auf)
    Hinsichtlich der V20 bot der Companion noch vor Children of the Revolution Spielmaterial.
    Erwähnenswert ist im Kontext von V:tM vielleicht das OPP plant nächstes Jahr Dark Age Vampire aus der Versenkung zu heben.

    • Den Rückblick in die 90er sehe ich schon als so etwas wie die gemeinsame Vorgeschichte beider Spiele. Hinzu kommt, daß man einige Ausführungen vergleichsweise knapper fassen kann, wenn man Requiem als das chronologisch nachfolgende Spiel in Relation zur Maskerade darstellt. Children of the Revolution finde ich deswegen im Zusammenhang hervorhebenswert(er) als den…mmmh…wenig befriedigenden Companion, weil das Buch Schlußfolgerungen darüber zuläßt, wie OPP in zukünftigen Veröffentlichungen mit dem Hintergrund umgehen wird, der für V:TM so immens wichtig war (und ist). Demnächst wird das Buch hier wohl ausführlicher vorgestellt. Da bin ich auch mal sehr gespannt, wie Backstory-lastig (oder eben universell) V20: Dark Ages wohl wird, jetzt, wo klar ist, daß die 20er-Reihe sich auf absehbare Zeit ausdehnen wird.

      • Der nölende Maskerade-Fan hat genölt das ihm die Requiem Vorstellung zu kurz geraten war.
        Nicht ganz so klassisch :P
        Auch nicht so wirklich männlich, for what it matters.

        Hinsichtlich des Rückblicks finde ich besteht durchaus ein Unterschied zu V:tM das auf Basis der 80er entstand und in die 90er organisch reingewachsen ist, und V:tR das auf Basis der 90er enstand und sich dann entlang der 00er hangelte.

    • „Ers­ter Kom­men­tar: nölen­der Masquerade-Fan über Nich­tig­kei­ten. *classy.“

      Hmmm, das kann ich aus dem Kommentar beim bösesten Willen nun trotzdem nicht herauslesen.

  2. Das ist ein durchaus spannendes Thema. Meines Erachtens stehen viele grundlegende Designentscheidungen Requiems auf den Schultern der Maskerade und der Entwicklungen im Medium Rollenspiel, spiegeln aber vergleichsweise wenig die populärkulturelle Entwicklung wieder. Als man sich mit Strange, dead love schließlich der paranormal romance annahm, war der Boom auch schon in vollem Gange. Wenn man bedenkt, wie viel sich da im Genre seit 1991 getan hat, eben auch unter Einfluß von V:TM…
    Für grundlegende Analysen dürfte es zwar arg früh sein, aber spekulieren ist ja nicht illegal: die ersten Eindrücke aus Reap the whirlwind und diversen Vorab-Entwürfen deuten darauf hin, daß Blood & Smoke verstärkt neuere Genre-Facetten aufgreift und das Vampirbild stärker daran orientiert.

    • Natürlich hat man die Designentscheidungen der ’neuen‘ World of Darkness und Requiems auf den Schultern der eigenen Erfahrungen sowie generellen Entwicklungen hinsichtlich Rollenspielen getroffen, dennoch – zumindest ist das so mein Eindruck – hat man versucht eine andere Atmossphäre zu schaffen.

      Wie in dem Artikel ausgeführt hat Maskerade sehr stark Elemente die in Richtung Trencoat & Katana gehen. Meiner persönlichen Meinung nach auch bereits vor der dritten Edition zu finden und in den Regelwerk selber mit dem Begriff „Gothic-Punk“ umschrieben. Wobei die Punk Elemente gerade gegen Ende hin immer dominanter wurden und zu einer „coolness“ Spirale führten die irgendwann den Machern keine Lust mehr machte.
      Das heißt salopp gesagt, irgendwann Anfang der 00er hatte man ‚die Schnauze‘ von Blade und Underworld voll konnte aber auch nicht mehr wirklich zurück.

      Requiem zeichnet sich imho als ein Aspekt von mehreren dadurch aus das der Gothic Aspekt wesentlich stärker hervorgehoben wurde als der verbliebende Punk-Aspekt. Wobei dieser wiederum substiler und desillusionierter war als (überzeichnet) „Mad Max und die Donnerkuppel“. Das heißt ein Kommentar den ich aus meinem Umfeld bemerkenswert fand ist das allein von dem Artwork her Requiem doch mehr Gothic sei als Maskerade.
      Bezogen auf die 00er fand sich der Trend auch in Rollenspiel-Büchern wie Annalise wieder.
      Das heißt man hat schon eine populärkulturelle Entwicklung aufgegriffen, nur nicht derart erfolgreich wie die Jahre zuvor. Zumal die vorangegangene noch in das neue Jahrtausend hinein strahlte.

      Ein bisschen vielleicht – das mag vielleicht ein blöder Vergleich sein aber mir kam der Einfall grad – wie Tim Burtons Batman gegenüber Nolans Batman.

  3. Ich schrieb schon im internen Forum, dass ich zu denen gehörte, die VtR damals verteufelt haben. Mir war der Schritt von der cWoD weg nicht groß genug, alleine dass manche Clansnamen wiederverwendet wurden, stieß mir sauer auf. Mittlerweile habe ich mich aber dank Karsten (Lob für den Artikel!) mehr damit beschäftigt und hätte fast, wenn meine Zeit es erlauben würde, wieder Lust, (An)Protagonisten mit Fangzähnen dazustellen.

    • …Deine legendäre Kairo-Runde war seinerzeit übrigens mein letztes großes Erlebnis mit Vampire :) , danach kamen aus der WoD nur noch Mage und Orpheus. Nach vielen Jahren mit anderen Spielen fand ich die Rückkehr zur Fangzahn-Phantastik unter anderen Vorzeichen trotz diesbezüglichem medialen Overkills sehr angenehm. Interessant auch, daß das Thema bei alten und neuen Spielern immer noch „greift“. Still Cookies on the dark side…

    • Also, mir hats bis zum Ende hin sehr viel Spaß gemacht, aber nach all der Zeit gabs natürlich allgegenwärtige Ermüdungserscheinungen. Die Charaktere hatten da längst das Ende ihrer Entwicklung erreicht und begannen, zu „erstarren“ – darob mußte es wohl um uns herum bunt werden :)

  4. Der Vergleich mit den Batman-Versionen ist so schlecht nicht – wie schon geschrieben, sehe ich das größtenteils ähnlich. Das ebenso umstrittene wie beliebte Dirty Secrets of the Black Hand (1994) gilt wohl im Nachhinein als Höhepunkt der „Vampions“-Ära, vom Chaos Factor reden wir mal gar nicht . In der Revised hatte man schon versucht, in einigen sinnigerweise aus diesem und anderen Gründen (elegische Weitschweifigkeit zB) weniger populären Büchern da Distanz zu schaffen; der revised Players Guide bringt das ganz gut auf den Punkt – und zeigt auch eine gewisse dahingehende Frustration. Für 10 Blood Magic wird maximal 1 State of Grace über den Tisch gegangen sein. Während sich also Blade und Buffy in Film und TV an die Spitze gesetzt hatten, ging der Blick im RPG eher zurück zu den Wurzeln. Die Entwicklungslinien in der Fiction im einzelnen nachzuvollziehen, bereitet ab einer gewissen Grenze gehörige Kopfschmerzen – darüber könnte man nicht nur ganze Bücher schreiben, das haben etliche Leute getan :) Da sieht man, denke ich, Gegenläufigkeit: während Underworld im Kino noch die Maskerado anno 94 besuchte, blickte Requiem schon zu weniger grellen Gothic-Tönen.

  5. Vielen Dank für die Zusammenfassung.

    Vielleicht hätte das Thema Computerspiel und das geplante MMO noch irgendwo rein gepasst. Letzteres im Abschnitt „Ausblick“.

    Die Formulierung, dass „Blood and Smoke: The Strix Chro­ni­cles“ (bzw. die God-Machine Chro­ni­cle) ein „Requiem 2.0“ (bzw. ein nWoD-Update) ist, finde ich persönlich irreführend und nicht ganz richtig. Es geht ja nicht wirklich um ein Update, sondern darum, wie du eine nWoD Geschichte vor einem ganz bestimmten Metaplot spielen kannst.

    This book combines both setting and rules info to create a default Chronicle for Vampire: The Requiem that still allows the sandbox play that the World of Darkness is known for. The Chronicle focuses on the legends of the Strix — the owl spirits that prey on vampires. A threat unique to Vampire and used to great effect in the historical Rome books, this book will show the effects of a world where the threat of their return has warped vampire society. Will contain default tweaks to the rules and in-depth history and backstory of just such a setting.

    Damit wird „Blood and Smoke: The Strix Chro­ni­cles“ ein Schritt zurück in Richtung Metaplot, allerdings eine ganz andere Art diesen zu nutzen als bei VtM.

    • Zunächst sah es auch für mich so aus, als würde aus Blood&Smoke in erster Linie ein spezifisches Kampagnensetting zum Thema Strix werden, zusammen mit dahingehenden Regelmodifikationen etc., was ich in Abgrenzung zu V:TM mal „tieferes Setting“ oder „stärkerer Hintergrund“ nennen würde.
      Mittlerweile hat sich allerdings so einiges in den Ankündigungen getan – das Projekt, daß, soweit ich mich erinnere, mit der Absicht begann, die Disziplinen zu überarbeiten, ist irgendwie über ein reines Chronicle Book hinausgewachsen.

      Fest steht wohl, daß es sich um ein Standalone-Buch handeln wird, dh es wird sogar eine verkürzte Fassung der WoD Grundregeln enthalten. Dazu tritt eine neue Version der Requiem-Regeln mit überarbeiteten Disziplinen und vielen anderen Anpassungen, die nicht nur mit Strix-Spezifischem zutun haben. Das alles wiederum bezieht die generellen Updates aus der God-Machine Chronicle mit ein und baut darauf auf. Secrets of the Covenants jedenfalls wird die entsprechende Covenant-Ergänzung.
      Damit wird das Buch wohl zu einem komplett überarbeiteten, alternativen Regelbuch, ein „Re-Imagining“. Viel deutet darauf hin, daß es ein tragendes Fundament der Spiellinie für die Zukunft werden wird. Vor dem Hintergund halte ich den WW-Forenslang von Requiem 2.0 schon für ganz passend – man könnte auch über Requiem b) oder Requiem 1 a) diskutieren ;)

  6. Woher ist die Information das es selbstständig wird? *neugierig*
    Nachdem was ich bisher dazu hörte und gelesen habe benötigt es sowohl noch das Grundbuch als auch Requiem.

  7. Oh, das ist mal cool :D
    Was den Wort Count angeht hoffe ich einfach das sie von der Kunst gebraucht machen (bzw. sie entwickeln) sich knapp und präzise ohne allzuviel Laberei/Flufferei auszudrücken. ^^;

  8. Blood Sorcery, der Development-Testlauf, kam schon erstaunlich komprimiert daher und hatte mit den elegischen Besinnungsaufsätzen in einigen früheren Werken wenig gemein. Das Requiem-Regelbuch hingegen erschöpfte an mancher Stelle nicht nur das Thema, sondern auch den Leser.
    Aber auf 280 Seiten? Das wird eine Herausforderung…

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