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Auf einer Con passierte mir Folgendes: Jemand hatte eine Runde Pathfinder angeboten, Charaktere wurden gestellt und ein Kaufabenteuer gespielt. Die Basisstory war einem jeden bald klar – Kleriker wurden ermordet. Wir hatten einen Kleriker gleichen Glaubens in der Gruppe. Die Situation schrie förmlich danach, selbst eine Falle mit der Priesterin als Lockvogel auszulegen. Meine Erwartung war, dass alle am Tisch in diese Bresche schlagen würden. Warum auch nicht?

Die Partie zog sich weit über 4 Uhr morgens in die Nacht hinein.

Warum? Zum einen erforschte die Spielerin der Klerikerin über weite Teiles des Abends hinweg Möglichkeiten, die offensichtliche Gefahr zu vermeiden, weil das ja ihren Charakter in Gefahr bringen würde. Und zum anderen unterstützten sie mehrere männliche Spieler dabei, die anscheinend Schutzreflexe für das weibliche Geschlecht hatten. Besonders unterhaltsam war das alles nicht, bis ein anderer Spieler und ich im Off mal Tacheles redeten und die Gruppe dann doch noch dem eigentlichen Handlungsfaden folgen konnte.

Natürlich ist das nicht die einzige Lösung. Man könnte es jetzt dem SL vorwerfen, aber der kann ja auch nicht alle Spielertypen glücklich machen und alle Erwartungen erfüllen. Jeder Spieler bringt mehr an den Spieltisch mit, als er so denkt – Erwartungen an das Spiel und eventuell die Spielwelt, und sein eigenes Verhältnis zu Immersion und Metaspiel.

Da wäre zum Beispiel die Spielerin. Durch vorherige Rollenspielrunden geprägt hatte sie eine Regel verinnerlicht: „Halte den Charakter am Leben!“ Aber eine Partie auf einer Con ist kein über Monate angelegtes Spiel. Die Investition in den Charakter war zu diesem Zeitpunkt gleich Null – er war ja ein vorbedrucktes Stück Papier, das man vor zehn Minuten erhalten hatte. Von meiner Warte aus war es irgendwann den anderen Spielern gegenüber unfair, den Fortgang des Abenteuers so lange aufzuhalten. Die acht Stunden Spiel wurden dadurch ja nicht bereichert, sondern nur künstlich hinausgezögert.

Man könnte meinen, zumindest beim Handeln der Spielerin handele es sich um Immersion, sie sei halt so im Charakter gewesen, und das wäre ja nur konsistent. Das stimmt aber nur dann, wenn der Charakter selbst keine Geschichte und keine eigenen Motivationen hat. Spieler agieren gerne vorsichtig, aber wie wird man eigentlich Kleriker fünfter Stufe, der auf Abenteuer auszieht? Ohne gezieltes Risiko? Und wäre es einer Klerikerin das Risiko nicht wert, wenn es darum geht, Glaubensbrüder und -schwestern vor dem Tod zu bewahren?

Wir hatten also zwei Fälle von Metaspiel am Tisch – das Ausspielen der Regel „Mein Charakter muss überleben!“ und das Einschreiten der Spieler, die irgendwann das Abenteuer zu Ende spielen wollten.

Böses, böses Metaspiel

Metaspiel hat oft einen ganz schlechten Ruf. Der Begriff umfasst Aktionen, die man macht, weil man Regeln, Spielwelt und die Struktur von Geschichten als Außenstehender verstanden hat. Es ist das Gegenteil von Immersion, weil wir ja nicht durch die Motivation der Spielfigur agieren, sondern weil wir mehr wissen, als der Charakter selbst.

Der schlechte Ruf rührt daher, dass viele Spieler heutzutage Immersion wollen. Außerdem riecht Metaspiel oft nach dem Erlangen von Regelvorteilen und Powergaming. Und das ist ja auch oft der Fall – erfahrene Spieler kennen nun mal z.B. die Regelnachteile vieler Monster und wissen mehr über die Spielwelt als ihre Avatare. Sie können sich also gezielt Vorteile verschaffen, die ihrer Spielfigur so nicht offen stehen.

Trotzdem will ich Metaspiel nicht pauschal verurteilen, weil es ja umgekehrt bedeuten würde, dass Immersion immer gut ist. Das stimmt aber je nach Spielsystem, gewähltem Abenteuer, der Spielanlage des SLs und der äußeren Spielsituation eventuell gar nicht. Wie eben auch hier: Auf einer Con hat man nicht beliebig viel Zeit und kann auch nicht immer später mal weitermachen. Ich habe die Betreffenden seit über einem Jahr nicht mehr gesehen – ich kannte sie ja nur von der Con.  Die Spielsituation rechtfertigte unser Metaspiel, weil es uns darum ging, zum interessanten Teil des Abenteuers überzugehen – einem Kampf, einer Verfolgungsjagd und dem Ausforschen eines Dungeons. So empfinde ich das jedenfalls.

Es gibt also stets einen Kontext, in dem wir uns als Spielende bewegen. Ein Bewusstsein dieses Kontextes kann manchmal das Spiel eben auch bereichern. Das wird relativ schnell klar, wenn Spielererwartungen mit diesem Kontext kollidieren.

Rollenspiel geht so…

Rollenspiel ist ein recht vielfältiges Hobby. Wer sich nur in einem System oder mit nur einer Sorte Spieler vergnügt, kann schon mal aus den Augen verlieren, dass die Annahmen, die wir in einem System machen, sich in anderen Systemen gnadenlos rächen. Das führt dann oft dazu, dass ein System als schlecht bezeichnet wird, weil es unsere Erwartungen nicht erfüllt. Aber es ist zunächst mal nur anders, als wir uns das so denken. Wenn wir unsere Erwartungshaltung zum einzigen Kriterium erheben, erleben wir andersartige Systeme oder Kontexte oft auch als Enttäuschung. Oder anders formuliert: Eine allgemeingültige Art, wie man rollenspielt, gibt es nicht.

„Meine Spielfigur muss überleben!“ kann sehr schnell zu Verdruss führen, wenn das im Design des Systems nicht vorgesehen ist. Horrorrollenspiel bedient diese Erwartung nämlich nicht. Viele Horrorrollenspiele sehen das Überleben der Figur nicht unbedingt als erstrebenswert an, und Puristen-Cthulhu-Abenteuer können gerade auch bei fröhlichem Massensterben unterhaltsam sein. Entscheidend ist, dass die Story vorangetrieben und erlebt wird. Wer also mit der Erwartung an den Tisch geht, es wäre gutes Rollenspiel, nur das Überleben der Spielfigur zu optimieren, dem werden diese Systeme vielleicht nicht gefallen.

Old-School-Renaissance-Systeme zeichnen sich im Stile des ursprünglichen D&D auch oft durch eine hohe Charaktersterblichkeit aus. Einerseits werden hier die Überlebensspieler nicht unbedingt glücklich werden, wenn ihr mühsam gehegtes Pflänzchen plötzlich abnippelt. Andererseits dürfte es auch für viele Spieler neuerer Systeme ungewohnt sein, dass selbst mittelstufige Charaktere mit ein paar Würfen auch mal ganz schnell das Zeitliche segnen.

Beide Varianten zeichnen sich dadurch aus, dass sie andere Spielstile belohnen. Das liegt in der Kombination aus System, Abenteueraufbau und Spielleiterhaltung begründet. Wer sich diesen Kontext bewusst macht, ist vor Enttäuschungen weitestgehend gefeit und kann anderen Spielweisen oft auch viel Gutes abgewinnen.

Dazu muss man auch die eigenen Erwartungen identifizieren. Für manche ist es genau nur dann Rollenspiel, wenn man eine Figur wertetechnisch immer weiterentwickeln kann, eine Haltung an der D&D und Computerrollenspiele nicht ganz unschuldig sind. Andere wollen keine Nachteile im Spiel hinnehmen, oder versuchen zu „gewinnen“. Ganz andere ignorieren den zielorientierten Aspekt eines Abenteuers völlig und wollen nur ihr eigenes Stimmungsspiel durchziehen. Alles das bringen wir an den Spieltisch mit, und immer wieder auch zu Lasten anderer, die unsere Erwartungen nicht teilen.

Mit anderen Augen

Erstaunlicherweise ist es sehr häufig Metaspiel, wenn ein Spieler sagt „Das würde mein Charakter nie machen!“. Oft versteckt sich dahinter ein „Das würde ich nie machen!“ viel mehr als irgendeine Form von Immersion. Die Abgrenzung ist dabei oft banal einfach: Geht es dabei darum, sich keinen Nachteil einzuhandeln, sollte man sich vielleicht an die eigene, metaspielende Nase fassen. Verweigert man sich hingegen einem spielwerten Vorteil, dann sieht die Sache schon eher nach Immersion aus.

Verhalten sich unsere Charaktere stets wie wir das tun würden, ist fast keine Immersion vorhanden. Sie handeln lediglich so, wie wir das tun würden, wenn wir in einem Dungeon wären. Das klingt mehr nach Bausparvertrag als nach kalkuliertem Risiko. Da zieht jemand aus, um Held oder reich zu werden, aber in der Spielanlage spiegelt sich das nicht wieder. Das wirkt vor allem dann ungewollt komisch, wenn sich das auf besonders auffällige Art mit dem Archetypen des Charakters beißt: Ein barbarischer Berserker begibt sich halt gern in risikoreiche Situationen – vielleicht durchaus überlegt, aber nicht mit endlosem Kalkül.

Eine andere Art scheinbarer Immersion entwickelt sich gern, wenn man die Motivation des Charakters zu eng fasst. „Wir haben einen Auftraggeber und machen nur das, was der Auftraggeber gesagt hat!“ könnte man es auf den Punkt bringen. Das wäre ja so, als würden wir nur denken, was unser Chef denkt, sobald wir das Büro betreten. Wer ist denn so? Nehmen wir also an, unser gewähltes System erlaubt oder belohnt Immersion. Was ist dann zu eng an dieser Art der Spielanlage?

Zuallererst sollte die Spielfigur selbst eine Motivation haben, und die verschwindet auch nicht plötzlich, nur weil man einen Auftrag angenommen hat. Ähnlich verhält es sich bei Spielern, die aufgrund eines Aspekts ihres Charakters alle anderen Zwänge, die auf ihre Figur wirken, ignorieren. Es ist immer eine Abwägung zwischen Motiven der Figur selbst, und der Gruppe, in der sie agiert. Summiert man alle diese inneren und äußeren Einflüsse, kann man sich überlegen, wie die Figur in der Welt agieren könnte, und könnte das zu Recht Immersion nennen. Genau dann bemüht man sich nämlich, die Spielwelt mit den Augen eines Anderen zu sehen, und das kann ein unglaublich reizvoller Aspekt unseres Hobbys sein.

Sachte, sachte, DeNiro!

Damit will ich jetzt keinen auffordern, zum Method Actor zu werden, und die eigene Spielfigur zu leben, zu atmen und zu fühlen, bis man die Figur ist. Das würde meiner Meinung nach dem Ganzen die spielende Komponente an sich nehmen. Es sei denn man sieht Rollenspiel als Drama, was ja auch legitim ist.

Aber die Motivation der eigenen Figur und die Abwägung aller anderen Einflüsse – der anderen Figuren und der Umwelt – sind immer noch nur die halbe Miete. Es gibt ja noch den Kontext. Wer sein Stimmungsspiel mitten in einem OSR-Dungeon aufziehen will, macht damit wahrscheinlich seine Mitspieler nicht glücklich. Und wer allzu sehr auf Motivation und Immersion herumreitet, kann eine Geschichte oder ein Abenteuer auch mal ganz schnell gegen die Wand fahren.

Ein Spielleiter sitzt hier in der Zwickmühle. Er hat ja nicht unbegrenzt Zeit, Kreativität und Voraussicht, um auf alle Spielsituationen vorbereitet zu sein. Und nicht alle möglichen Reaktionen oder Konsequenzen führen auch zu amüsanten Spielerlebnissen. Darum gibt es Storybögen, Abenteuermodule und viele andere Hilfsmittel, um für Spannung am Spieltisch zu sorgen. Aber das kann die Leitung nicht alleine leisten.

Wenn eine Gruppe will, kann sie so ziemlich jeden SL am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Ploteinstiege werden ignoriert, man entscheidet partout immer anders, als man das (metaspielend) im Abenteuer erwarten würde, man baut Charaktere, die schon von Anfang an auf Gruppenkonflikt oder Boykott des Abenteuers gebügelt sind… So ist der Krawall beinahe vorprogrammiert. Da kann es natürlich einem alleine nicht angelastet werden, wenn die eingebrockte Suppe nicht mundet.

Worauf ich hinaus will? Dass ein bisschen guter Wille einfach dazugehört. Wenn jeder nur sein Ding durchzieht, oder die Gruppe jede Unlogik im Aufbau des Abenteuers gnadenlos bestraft, dann ist der Verwalter des Ganzen so ziemlich der Depp. Guter Wille ist aber eben was? Genau! Metaspiel! Wir wissen, wie Stories funktionieren, und lassen den genauso fehlbaren Erzähler eben nicht auflaufen. Klar muss man andauernde Mangelhaftigkeit nicht honorieren, aber es ist schon reichlich unfair, einem SL die Vorbereitung durch mangelnde Kooperation zu entlohnen. Man merkt ja auch vergleichsweise schnell, ob er oder sie das mit Humor nehmen kann. Regelrechten Vandalismus am vorbereiteten Abenteuer kann jedenfalls nicht jeder Spielleiter so ohne Weiteres wegstecken.

Tischmanieren

Sich den Kontext gewahr zu machen halte ich für wichtig. Man versucht, die eigenen Erwartungen so gut es geht an den Kontext anzupassen, und sich auf das Spiel einzustellen, das vor einem liegt. Ermittlungsspiel, Horrorspiel, Dungeon Crawl, Stimmungs- und Gesellschaftsspiel – selbst das sind nur Teilbereiche eines Hobbies, das so verschiedene Menschen mit so verschiedenen Motiven und Erwartungen zusammenbringt.

Manchmal muss man sich zusammennehmen, damit ein anderer Spaß am Spiel haben kann. Manchmal muss man sich vom eigenen Standpunkt entfernen, um sich wahrhaftig ins Spiel einzubringen. Manchmal muss man mittendrin sein. Manchmal muss man den Film im Kopf auch ausblenden können, wenn man merkt, da funktioniert was nicht. Manchmal muss man auch schlechte Vorbereitung oder Fehler im Abenteuer überspielen können.

Diese Flexibilität zeichnet tolle Mitspieler aus. Niemand kann alleine für sich befriedigend rollenspielen. Also ist Zusammenarbeit an allen Fronten vonnöten – beim Ausgestalten der Story, beim Entwickeln der eigenen Figur und dafür, dass alle den Anteil am Geschehen haben können, der ihren Wünschen am nächsten kommt.

Artikelbild: mzacha auf sxc.hu

 

5 Kommentare

  1. Vielleicht war die Spielerin auch nur nicht begeistert das die Aussicht bestand das eine Rolle als Köder eher passiv und mitunter frustrierend ist. Auch (Gerade?) auf einer Convention macht es nicht unbedingt Spaß wenn der Charakter als Köder nach einer halben oder einer Stunde stirbt und man dann ‚dumm‘ dasitzt. ^.^;

  2. Hallo, Teylen.

    So ein 5-stufiger Charakter stirbt ja in Pathfinder auch nicht so schnell. Sie hat dann tatsächlich einen Treffer abbekommen. Auch das ist ja im Abenteueraufbau berücksichtigt. Wenn jemand schon so eine Railroad an Abenteuer hinlegt, versucht er ja meistens noch dafür zu sorgen, dass man einmal geradeaus auf den Schienen diese durchfahren kann, ohne gleich zu sterben.

  3. Warum nicht gemeinsam nach einer ANDEREN Lösung suchen? Kreativ sein und sich nicht an einer Sache festbeißen, gehört auch zu einem guten Rollenspielabend dazu. Verstehe dein Problem gerade nicht. Die Spielerin ALLEIN ist sicher nicht Schuld, das war ein Gemeinschaftsfail ;)

  4. Der SL war neu und wollte anscheinend auch kein anderes Abenteuer improvisieren. Es war nach fünf Minuten klar, wie das Ding laufen würde. Ich hätte auch nach zwei Stunden gehen können und es als vergebene Liebesmüh‘ abhaken können.

    Es ist auch kein echter Gemeinschaftsfail, wenn es genau einen Plothook gibt und man dann vier Stunden in die andere Richtung geht. Die anderen haben ja vier Stunden alles versucht, jede Möglichkeit auszuloten, einen anderen Zugang zum Abenteuer zu finden. Wenn aber 5 andere Leute einem Spieler vier Stunden lang den Gefallen tun, sein oder ihr Spiel durchzuziehen, dann ist der Fail nicht einer der Gruppe.

  5. Toller Artikel, der die Schwierigkeit von mehren Seiten beleuchtet.

    Die Spielerin hat klar das Spiel an sich gerissen, auch wenn sie es nicht einsehen wollen wird etc. Lebenszeit ist limitiert und Zockzeit noch mehr, da sollte für alle Spaß in der Pandora sein und daran müssen alle arbeiten. Ich gebe dir recht.

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