Geschätzte Lesezeit: 10 Minuten

Shadowrun – das bedeutet Blade Runner und Herr der Ringe in einem, Elfen mit Maschinengewehren, Drachen unter Neonlicht. Mächtige Konzerne beherrschen die Welt. Slums beherbergen die Verlierer dieses dystopischen Kapitalismus. Einige von ihnen haben keine Wahl: Sie müssen sich als freie Agenten, als Shadowrunner, an den Meistbietenden verdingen – oder untergehen.

Das Cyberpunk-Setting erfreut sich seit 1989 großer Beliebtheit in Rollenspielerkreisen. Im Dezember erscheint die fünfte Edition des Regelwerks. Das hat auch Prince-of-Persia-Erfinder Jordan Weisman ausgenutzt: Sein Kickstarter zum PC-Spiel Shadowrun Returns sammelte knapp 2 Millionen Dollar – fast fünf Mal so viel wie erhofft.

Für die Shadowrun-Fans dabei besonders interessant: Ein ausgefeilter Editor, mit dem sich eigene Kampagnen erstellen lassen. Doch auch sonst will das Spiel an die Erfolge von Rollenspiel-Klassikern wie Baldurs Gate anknüpfen. Wir haben für euch sowohl die mitgelieferte Kampagne als auch die drei (im Steam-Workshop) beliebtesten Fan-Kampagnen getestet.

Das Spiel muss – außer für die Kickstarter-Backer – mit einem Steam-Account verknüpft werden. Die ursprünglich versprochene DRM-freie Version für alle Spieler existiert derzeit nicht, der Grund dafür sind wohl Lizenzstreitigkeiten. Zukünftige Add-Ons sollen nur über Steam veröffentlich werden. Fan-Kampagnen sind derzeit vor allem über den Steam-Workshop erhältlich. Das Spiel unterstützt Steam-Sammelkarten, hat aber keine Achievements.

 

Charaktererstellung simpler als gedacht

Was haben alle Kampagnen gemein? Natürlich das Grundgerüst, das Weismans Firma Harebrained Schemes dem Spiel verpasst hat. Das präsentiert sich zunächst mal verwirrend. Ein Tutorial fehlt, ebenso eine Art Shadowrun-Glossar, in dem Begriffe wie “Lofwyr” oder “Sixth World” erklärt werden. Rollenspiel-Veteranen finden sich zurecht, Anfänger werden länger brauchen.

Die Charaktererstellung selbst beginnt einfach: Man wählt aus klassischen Fantasy-Völkern und Shadowrun-typischen Berufen wie Street Samurai (Kämpfer) oder Decker (ein Hacker mit Direktschnittstelle à la Matrix) und erfreut sich dabei an den gelungenen Portraits, die das Spiel zur Verfügung stellt. Der nächste Schritt, die Verteilung der Fähigkeiten, wirkt ungleich komplizierter. Aber auch nur auf den ersten Blick.

Hier gibt es einerseits Attribute, andererseits Fähigkeiten und Unterfähigkeiten. Man darf eine Unterfähigkeit (z.B. Gewehre) nur so hoch steigern wie die zugehörige Fähigkeit (z.B. Schießen) und diese wiederum nur so hoch wie das Attribut (z.B. Geschick) – ähnlich wie in der P&P-Vorlage. Da jedem Charakter eine bestimmte Rolle zugedacht ist, steigert man daher meist nur wenige Fähigkeiten.

So kann der Decker dann gut hacken und verbesserte Programme einsetzen, lernt vielleicht noch ein bisschen Pistolenschießen und fasst den Rest des Fähigkeitenbaumes kaum an.

Trotzdem ist der Fähigkeitenbaum auf Breite ausgelegt, nicht auf Tiefe. Zwar erhält man mit höheren Werten mehr Spezialfähigkeiten; diese werden aber nicht spielentscheidend stärker. Epische Spezialfähigkeiten am Ende des Baums? Gibt es nicht. Das ist für normale Charaktere durchaus in Ordnung, weil das System ja auf fan-gemachte One-Shots ausgelegt ist.

Epische, hochstufige Charaktere funktionieren damit aber nicht, wie die Entwickler selbst demonstrieren: In der mitgelieferten Kampagne trifft der Spieler auf Harlequin, einen extrem mächtigen und alten Charakter aus dem Pen&Paper-Spiel. Seine Werte dort (laut Quellenbuch Street Legends): „Harlequin has every power, every spell, every ability he ever needs in your story.“ Seine Werte in Shadowrun Returns? Etwas besser als die des Spielercharakters. Das wirkt unglaubwürdig. 

Bei der Charaktererstellung bietet Shadowrun Returns liebevoll gestaltete Portraits
Bei der Charaktererstellung bietet Shadowrun Returns liebevoll gestaltete Portraits.

Alte Technik mit viel Atmosphäre

Das Design des Spiels ist bewusst retro gehalten – und das ist gelungen. Die minimalistische Grafik vermittelt die dystopische Welt von Shadowrun sehr gut, auch der elektronische Soundtrack passt (kann allerdings nach einer Weile nerven). Zwischensequenzen gibt es keine, nicht einmal in Form gemalter Szenen.

Auch vertonte Dialoge sucht man vergeblich, alle Gespräche sind textbasiert, wie zu den Hochzeiten von Black Isle. Das ist eine bewusste Designentscheidung und macht sich in den von Fans erstellten Kampagnen bezahlt. Interessant: Wer das Attribut Charisma steigert, erwirbt spezielle “Hintergründe”, mit denen er neue Dialogoptionen freischaltet.

Das alles sorgt für Nostalgie bei PC-Rollenspielern, die die 90er miterlebt haben – und für eine erstaunlich dichte Atmosphäre dank liebevoll gestalteter Umgebungen.

Kampf dem Speichersystem!

Die Kämpfe in Shadowrun Returns spielen sich ähnlich wie bei XCOM – Enemy Unknown. Allerdings sind sie deutlich weniger taktisch angelegt. Meist läuft es darauf hinaus, auf den Gegner mit allem zu schießen/schlagen, was man aufbieten kann. Die Spezialfähigkeiten, die man beim Leveln von Fähigkeiten erwirbt, benötigt man kaum.

Spannender wird’s, wenn ein Kampf losbricht, während ein Decker gerade ein Computersystem hackt. Denn dann betritt er eine Art Matrix-Realität mit ganz eigenen Gegnern. So läuft der Kampf plötzlich auf zwei Ebenen ab, die sich bestensfalls sogar beeinflussen (etwa, indem der Decker ein automatisches Geschütz umprogrammiert).

Die Kämpfe schwanken dabei zwischen leicht und unfair schwierig. Im letzten Fall bereut man schnell, dass das Speichersystem kein manuelles Sichern erlaubt. Wer hofft, dass ihn die automatische Speicherung zum Kampfbeginn zurückbringt, der wird frustriert die Tastatur vor die Wand werfen, wenn er bemerkt, dass er teilweise das komplette Level (!) noch einmal spielen muss – eventuelle Vorkämpfe und lange Dialoge inklusive.

Fazit

Shadowrun Returns bietet eine solide, wenn auch nicht perfekte Grundlage für diverse Abenteuer. Somit hängt das Spielerlebnis definitiv von der jeweiligen Kampagne ab – und hier sind theoretisch echte Meisterwerke möglich. Für den ambitionierten Versuch gibt es einen Daumen hoch!

Durch Fähigkeiten und Hintergründe werden mehr Dialogoptionen freigeschaltet.
Durch Fähigkeiten und Hintergründe werden mehr Dialogoptionen freigeschaltet.

Kampagnen

Schauen wir nun, was die Entwickler bzw. der Steam-Workshop bisher zu bieten haben:

Kampagnentest: The Dead Mans Switch (Harebrained Schemes)

Die mitgelieferte Kampagne ist die einzige der getesteten Kampagnen, die komplett vollständig ist – aber nicht zwangsläufig die beste. Dabei beginnt die Geschichte durchaus interessant: Ein alter Bekannter meldet sich beim Spielercharakter. Seine Nachricht: Er wurde ermordet und braucht jemand, der den Fall aufklärt. Doch hinter seinem Tod steckt mehr, als es den Anschein hat…

Vorweg: Die Atmosphäre von Dead Man’s Switch ist hervorragend. Schicht um Schicht deckt man eine Verschwörung auf, welche die ganze Welt bedroht – ob mit der Waffe in der Hand, im Cyberspace oder per Detektivarbeit. Die einzelnen Schauplätze sind gut gestaltet. Allerdings verläuft die Geschichte zu linear: Ein Zurückkehren zu einem vorigen Schauplatz ist nicht drin, es gibt nur wenige Nebenquests zu entdecken. An Spiele wie Baldurs Gate kommt die Kampagne nicht heran.

Auch die Charakterentwicklung läuft zu schnell. Am Ende hat man so ziemlich alles erreicht, was geht – innerhalb nur einer Geschichte. Der Wiederspielwert ist ebenfalls gering, da sich – leider, leider – alle Klassen ähnlich spielen. Meine Deckerin zum Beispiel durfte im ersten Drittel des Spiels kaum etwas hacken. Und dann, bei der ersten wirklichen Gelegenheit, drängte mir das Spiel einen zweiten Hacker für meine Runner-Gruppe auf. Kämpfe vermeiden per Hacking oder Magie? Fehlanzeige. Dabei bekommt man Punkte für den Levelaufstieg nicht einmal fürs Töten der Gegner, sondern nur für das Erfüllen von Missionszielen. Da wäre mehr drin gewesen.

Was die Charaktere der Kampagne betrifft: Einige von ihnen sind interessant, z.B. Coyote, eine kämpferische Begleiterin mit Hintergrundgeschichte oder Jake Armitage, der älteren Spielern noch aus dem 1993er Shadowrun-Spiel für die SNES bekannt ist. Andere bleiben jedoch das ganze Spiel hindurch blass.

Fazit

Eine solide, lange Kampagne mit guter Atmosphäre. Allerdings viel zu linear – und vor allem kommen die einzelnen Klassen kaum zur Geltung. Nach zehn Stunden ist man durch. Dafür allein hätte sich der Spielkauf kaum gelohnt.

Kampagnentest: Jacked-Up (Talos)

Der größte Unterschied zu Dead Man’s Switch: Bei Jacked-Up spielt man einen vorgefertigten Charakter. Davis Reed ist ein Computerspezialist, der seinen Job verliert. Dummerweise hat er Schulden bei der Halloweeners-Gang. Also lässt er sich auf einen gefährlichen Auftrag als Decker ein…

Hier fällt als erstes die niedrigere Qualität auf: Rechtschreibfehler in den Texten, wiederverwendete Portraits, eine Bar, die man so auch schon bei Dead Man’s Switch gesehen hat. Dennoch hat auch Jacked-Up einige clevere Momente. Das Innenleben eines fahrenden Fahrzeugs etwa – denn die Animation für fahrende Fahrzeuge haben die Entwickler nicht mitgeliefert.

Mein persönliches Highlight: Der Moment, in dem man sich entscheiden muss, ob man den Halloweeners das Geld zurückgibt – oder gegen sie kämpft. Denn die Gang ist hart und hat viele Mitglieder. Wer kämpft, muss sich sein Geld teuer verdienen.

Allerdings reißen einen ärgerliche Details immer wieder aus der Geschichte. Beim ersten Ausflug in den Cyberspace kann es schon mal passieren, dass die Runde der KI nicht endet und man neu laden muss. Später hat man dort eine Dialogoption, für die man Hacking 3 braucht. Dumm nur, falls man die Punkte dafür besitzt, aber vor dem Cyberspace noch nicht eingesetzt hat. Denn dort kann man nicht steigern – und wenn man die virtuelle Welt verlässt, geht die Geschichte weiter.

Fazit

Eher enttäuschend. Aber das kann sich in Kapitel 2 der Geschichte durchaus ändern. Bisher endet die Kampagne nämlich nach nur einer Stunde Spielzeit in einem fiesen Cliffhanger.

Kämpfe werden in Runden abgehandelt.
Kämpfe werden in Runden abgehandelt.

Kampagnentest: Silver Angel, Seattle 2050 (Naotaka)

Die Story soweit: Der Charakter wird angeheuert, um “Silver Angel” aus einer Forschungseinrichtung zu stehlen. Was das ist? Das erfährt man nur durch zusätzliche Recherche, denn das veröffentlichte Kapitel dreht sich bisher vor allem um die Vorbereitung für den Run.

Ich habe – nach den schlechten Erfahrungen von Dead Man’s Switch – einen zwergischen Street Samurai namens Short Round in den Kampf geschickt. Aber meine Befürchtungen waren unbegründet: Gleich im ersten Abschnitt gab es für alle Klassen etwas zu tun und sogar die Wahl zwischen Schleichen und Schießen.

Die Kampagne bietet eine durchgängig gute Action-Atmosphäre, nie kommt Langeweile auf. Außerdem hat sie interessante Neben-Charaktere mit eigenen Persönlichkeiten und Portraits. Teilweise ist sie allerdings unfair schwierig: Bei einem Matrix-Kampf erhielt die KI aus irgendeinem Grund mehrfach einen doppelten Zug. Das Ergebnis: Mein Hacker und seine Programme wurden getötet, er erlitt Schaden und löste Alarm aus, was wiederum eine starke Lone-Star-Sicherheitstruppe in der realen Welt auf den Plan rief. Ergebnis: Total Party Kill. Ob Bug oder Feature, das sollte verbessert werden.

Man findet auch weitere Schönheitsfehler: Dockarbeiter, die einen darum bitten, Gangmitglieder zu töten – mit Vorauszahlung. Die bei Erledigung des Auftrags den Auftrag erneut anbieten – mit Vorauszahlung. Und die man dann nur noch abwimmeln kann, indem man ihnen mit Gewaltandrohung ihr Geld abnimmt.

Fazit

Gute Kampagne mit leichten Schwächen. Spieldauer derzeit: Etwa zwei Stunden für den ersten Akt. Highlights sind die gut ausgearbeiteten Nebencharaktere und die packende Action-Atmosphäre.

Kampagnentest:  From the Shadows, Run (Ashram)

Mein Ork-Schamane namens Fang Shui erwacht – und kann sich an nichts erinnern. Alles was er weiß: Er steckt in einem seltsamen Komplex voller mörderischer Irrer, hat einen mysteriösen Chip mit düsteren Runen darauf und keine Waffe. Wer die ersten Minuten überlebt (Medi-Packs gibt es nicht!) trifft nach kurzer Zeit eine Elfin mit der eintätowierten Nummer 39. Gemeinsam versuchen die beiden Gefangenen aus dem Komplex zu fliehen.

Machen wir es kurz: From the Shadows, Run war mein persönlicher Liebling unter den drei Kampagnen. Die klaustrophobische Atmosphäre, die Tatsache, dass man fast völlig hilflos ist, die geheimnisvollen Nummern der Gefangenen, der Kult der Wahnsinnigen – das war Survival Horror pur!

Aber – und das ist ein großes Aber – sobald ich den Levelabschnitt wechselte, bemerkte ich etwas: Meine mühsam erworbene Waffe sowie mein einziger Zauberspruch (außer meinem Schamanentotem) waren nicht mehr zu benutzen. Im Inventar sah ich sie, anwenden war nicht drin. Das machte den restlichen Verlauf des ersten Kapitels unglaublich schwierig. Sofern dieser Bug nicht repariert wird, halte ich die Kampagne im weiteren Verlauf für unspielbar.

Schmankerl am Ende: Ein mysteriöser Charakter namens “Daily RIP” taucht am Ende von Akt 1 auf, entschuldigt sich, dass es nun erstmal nicht weitergeht und beantwortet eine von drei Fragen zum Plot (in mysteriöser Weise), sofern man das möchte. Eine witzige Idee, die zum Wiederspielen einlädt.

Fazit

Die stärkste der getesteten Kampagnen: Packende Atmosphäre, interessante Mysterien, gute Begleiter-Charaktere und Plot-Ideen. Der Bug muss allerdings dringend gefixt werden!

Artikelbilder: Harebrained Schemes

 

 

4 Kommentare

  1. Bin derzeit unitechnisch sehr eingespannt und sitze gerade nebenher am Review von Blackguards… Muss mal schauen, ob ich das zeitlich hinkriege.

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