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Hallo zusammen und willkommen im ersten von hoffentlich vielen Teilen der Reihe „Breaking Points“. Zuerst einmal eine kurze Erklärung, worum es in dieser Artikelreihe gehen soll:

Rollenspielsysteme, zumindest die nicht narrativen, versuchen mit ihren Regeln stets, eine Welt zu definieren, die unserer Realität zumindest ähnelt. Dabei gibt es natürlich meistens Dinge, die bei uns nicht existieren oder die im Zuge der Spaßmaximierung verändert werden – zum Beispiel, dass nach einem ordentlichen Treffer mit einem Schwert der Held nicht verblutend oder tot am Boden liegt oder der Kerl mit dem spitzen Hut Feuerbälle werfen kann. Aber weitgehend gelten in diesen Welten die gleichen Grundsätze wie in der Realität. Zumindest sollten sie das tun, um nachvollziehbar zu sein.

Aber in allzu vielen Systemen ist im Zuge der notwendigen Abstraktion etwas kaputt gegangen. Teilweise am Randbereich unserer Wahrnehmung, teilweise direkt vor unseren Augen sind Situationen entstanden, die dem gesunden Menschenverstand entgegen stehen. Punkte, an denen die Logik der Spielwelt in unserem Kopf zerbricht, wenn wir einmal genauer hinschauen.

Und genau das will ich mit euch an diesen Punkten tun: genau hinschauen. Es geht dabei jedoch nicht darum, Lösungen für sie zu finden, sondern einfach nur zu zeigen, wo etwas nicht stimmt, was wir bisher vielleicht unbemerkt einfach so akzeptiert haben.

Die erste solche Bruchstelle stammt aus meinem Lieblingssystem Pathfinder und sie bezieht sich auf die Handwerksregeln. Damit alle wissen, worum es geht, hier die Regeln für Handwerk kurz zusammengefasst:

Will ein Charakter mit einer Handwerksfertigkeit Geld verdienen, so würfelt er für jede Woche Arbeit einmal auf sie und erhält das Resultat in Goldstücken als Lohn
Um einen nichtmagischen Gegenstand herzustellen, sucht man aus einer Liste die Schwierigkeit und den Preis des Gegenstandes heraus, würfelt auf eine entsprechende Handwerksfertigkeit und multipliziert bei Erfolg das Ergebnis mit der Schwierigkeit. So erhält man die Menge an Silberstücken, die man mit einer Woche Arbeit fertigstellen konnte. Sobald man den Wert des Gegenstandes erreicht hat, ist er fertig. Misslingt der Wurf um 5 oder mehr, so hat man die Hälfte seiner Rohmaterialien verschwendet und muss sie entsprechend ersetzen.

Die Herstellung kostet 1/3 des Preises des fertigen Produkts an Rohmaterialien.

Schauen wir uns die beiden Regeln nun einmal an:

Bei der ersten Regel fällt sofort auf, dass es vollkommen egal ist, was für ein Handwerk man ausübt. Der Waffenschmied verdient also genauso viel Geld wie der Tischler, der Alchemist und der Goldschmied. Und sogar jemand, der kaum Ahnung davon hat, was er tut (1 Rang, Klassenfertigkeit (was es bei allen Klassen ist), kein Intelligenzbonus) verdient bereits im Schnitt 14,5 Goldstücke pro Woche, oder etwa 62 Goldstücke im Monat. Erstaunlich viel Geld für jemanden ohne Talent und viel Erfahrung.

Bei der zweiten Regel fällt auf, dass die Beschaffenheit und Seltenheit der Rohmaterialien keinen Einfluss auf den Herstellungsprozess hat. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick erkennt man dann doch einen Einfluss, der aber auch nicht gerade so ist, wie wir es erwarten würden:

Nehmen wir als Beispiel eine Rüstung aus Gold: Sie schützt schlechter, ist schwerer und kostet zehn Mal so viel wie eine normale Rüstung. Klingt alles relativ logisch, da Gold ein fürchterlich schlechtes Material für Rüstungen ist. Was dabei jedoch nicht bedacht wurde: Es dauert auch zehn Mal so lange, diese Rüstung herzustellen, da der Herstellungsprozess ja einzig vom Preis des Gegenstandes abhängt. Selbst eine Beschichtung mit Gold, ein relativ simpler Prozess, verdreifacht den Preis und damit die Herstellungsdauer. Spannend wird das insbesondere dann, wenn man sich vor Augen führt, dass eine Katana das fünffache eines Langschwertes kostet, was dem schwierigeren Schmiedeverfahren geschuldet ist. Beide Waffen haben aber grob die gleiche Oberfläche. Beim Langschwert kostet das Vergolden nun 20 Goldstücke, bei der Katana 100. Auch dauert es bei der Katana fünf mal so lange. Klingt logisch, oder?

Fast genauso logisch ist es natürlich, dass selbst ein sehr ordentlicher Alchemist mit guter Ausrüstung, etc. (Craft: Alchemy +20), der sich beeilt (freiwillig DC+10) etwa 10 Tage braucht, um eine Dosis des Giftes „Belladonna“ herzustellen. Belladonna ist ein anderer Name für die schwarze Tollkirsche. Und die ist von Haus aus giftig, wenn man sie verspeist. Was der Alchemist in den 10 Tagen mit dem Zeug tut, ist mir ein Rätsel. Beim gefleckten Schierling (Hemlock), der giftigsten mitteleuropäischen Pflanze, braucht der gleiche Alchemist bereits etwa 30 Wochen. Und er hat dabei die Chance, dass er einen Teil der Rohzutaten verliert, da er sich so sehr beeilt. Tut er das nicht, sind es gut 46 Wochen. Um eine Pilzsuppe zu kochen. Es ist relativ egal, was für Zutaten ich in einen Topf packe: Wenn ich es nach 46 Wochen noch esse, ist es vermutlich relativ ungesund.

Apropos kochen: Auch im Alltag hat die Regel unerwartete Tücken. Nehmen wir zum Beispiel einen durchschnittlichen bis ordentlichen Bäcker (Craft: Baking +10). Im Schnitt schafft er es, wenn er schnell backt, 300 Silberstücke Wert an Backwaren in einer Woche herzustellen. Das sind, wenn man Brote nimmt, 1500 Brote, oder mehr als 200 pro Tag. Selbst sein Lehrling, der sich nicht beeilt (Craft: Baking +4) schafft immer noch 50 Brote am Tag. Respekt!

Zu guter Letzt bringen wir die beiden Regel nun mal in Verbindung:

Wir nehmen einen relativ normalen Gegenstand mit einer Schwierigkeit von 10 und wollen ihn herstellen.

Wenn ich den Handwerkswurf schaffe, erhalte ich pro Woche (Wurfergebnis) x10 Silberstücke Fortschritt, also genau so viel, wie ich mit einer Woche Arbeit an Geld verdienen würde. Dummerweise muss ich dabei noch die Kosten der Rohmaterialien abziehen, was 1/3 des Endwertes ist, und die Chance hinnehmen, dass es schiefgeht und ich entweder keinen Fortschritt mache oder sogar einen Teil meines Materials verschwendet habe.

Würde ich als Spieler diesen Gegenstand nun verkaufen wollen, so würde ich dann sogar nur die Hälfte des Wertes erhalten, also insgesamt (Wurfergebnis) x1,67 Silberstücke.

Um nun das gleiche Geld zu erwirtschaften, immer noch ohne die Chance auf Fehlschlag einzurechnen, müsste ich schon Gegenstände mit einer Schwierigkeit von 60 herstellen. So etwas gibt es nicht einmal. Und der Wurf wäre auch nicht mehr schaffbar.

Selbst wenn es um den Eigenbedarf geht, ist es bei einer Schwierigkeit von 15 oder weniger sinnvoller, einfach Geld zu verdienen und sich dann den gewünschten Gegenstand zu kaufen, da man so keine Chance auf einen Fehlschlag hat. Sollen doch die Leute, die keine Ahnung von wirtschaftlichen Zusammenhängen haben die einfachen Arbeiten erledigen und weniger Geld bekommen als möglich wäre. Also vielleicht doch gar nicht so weit an der Realität vorbei …


 

Kennt ihr auch Regeln, die bei näherer Betrachtung sonderbar werden? Oder habt ihr vielleicht eine Regel, die ihr schon immer mal näher durchleuchtet haben wolltet? Dann teilt es uns in den Kommentaren mit.

 

Artikelbild: carlsilver auf sxc.hu

9 Kommentare

  1. Was mir bei Pathfinder gerade auf die Eier geht, sind die Gelegenheitsangriffe sowieso, und insbesondere die für Kampfmanöver…
    Also, wenn du versuchst mich umzuschubsen, bekomme ich einen Gelegenheitsangriff. Wenn du dagegen versuchst einen ca. 80cm langen, spitzen Eisengegenstand in mich zu stecken, nicht. Wobei, jetzt mal ehrlich, das zweitere eigentlich doch schwerer sein sollte… o_Ô

  2. Hallo Rohrschachhamster (cooler Name, btw),

    Ja, die Gelegenheitsangriffe sind ein Thema, das in einer der kommenden Folgen auf jeden Fall behandelt werden wird. Mit denen ist so einiges im Argen :)

  3. Lustige Darstellung völlig verkorksten Designs, diese Serie wird mich gut unterhalten. :)
    Wobei man natürlich auch inhaltlich drüber diskutieren könnte, ob das Problem der undurchdachte Grundmechanismus (Verhältnis Arbeiten/Gegenstand Herstellen) ist, oder absurde Preislisten… kenne ich mich in PF da nicht aus.

  4. Ach ja, die „netten“ Herstellungsregeln. Da hat jemand bei Paizo nicht nachgerechent xD Zum Glück wollen meine Spieler Helden sein und keine Handwerker ;-)

    Gibt es überhaupt ein Regelwerk mit guten Regeln für die Herstellung?

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