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„Jubel erklingt in Roma Aeterna, der heiligen Stadt und dem Hauptsitz der Angelitischen Kirche. Mein Name wird aufgerufen und mein Herz schlägt aufgeregt, als Pontifex Petrus Secundus den Segen über mich spricht und meine Ausbildung beendet. Als vollwertiger Streiter Gottes erhebe ich mich, empfange mein erstes Votivband und breite die weißen Flügel aus. Mit einem letzten Blick zurück steige ich über die Dächer empor zu meinen wartenden Kameraden. Heute hat die Welt einen weiteren Engel gewonnen.“

So oder so ähnlich dürften die meisten Spieler das Rollenspiel aus dem Verlag Feder & Schwert in den ersten Szenen kennengelernt haben. Mit der Engelsweihe beginnen die Abenteuer eines jungen Engels im Dienst der Angelitischen Kirche. Dieser besteht darin, die Menschen gegen die Traumsaat des Herrn der Fliegen zu verteidigen. Postapokalypse trifft auf mystischen Katholizismus und Cyberpunk. Doch worum geht es hier eigentlich? Und warum gehört Engel zu einem der umstrittensten deutschen Rollenspiele? Elf Jahre nach der ersten Veröffentlichung geht meine Systemvorstellung diesen Fragen nach.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Feder & Schwert / Uhrwerk Verlag
  • Autor(en): Oliver Graute, Oliver Hoffmann, Kai Meyer
  • Erscheinungsjahr: 2002
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover / PDF
  • Seitenanzahl: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3937255293 (Grundregelwerk)
  • Preis: 37,95 EUR (Hardcover), 33,95 EUR (PDF)
  • BezugsquelleAmazonDriveThruRPG

 

Eine Welt in der Apokalypse

Der ewige Hirte - Der Pontifex existiert angeblich bereits seit fünfhundert Jahren

Chroniken der Engel spielt in Europa, genauer gesagt einem zukünftigen Europa im Jahr 2654. Die moderne Zivilisation ist weitgehend untergegangen. Die Gründe dafür liegen im Dunkeln, aber das Ergebnis ist niederschmetternd: Ganze Teile der uns bekannten Länder sind versunken und haben Platz für neue Meere gemacht. Der Kontakt zum Rest der Welt ist abgebrochen und so konzentriert sich das Setting ausschließlich auf einen Bereich zwischen Skandinavien und Israel. Das alles wäre ja noch erklärbar, wenn da nicht gewaltige Fegefeuer über den Kontinent ziehen würden, aus deren hinterlassenem Brandland die insektoiden Kreaturen der Traumsaat strömen.

Die Welt aus der Feder von Oliver Graute wird dabei im Grundregelwerk detailliert beschrieben und oszilliert unentschieden zwischen Science-Fiction und Fantasy. Gerade das Fehlen von definitiven Antworten auf die Fragen nach der Apokalypse, der Traumsaat und dem Rest der Welt macht für viele Spielleiter den Reiz von Engel aus. Dabei geht es weniger um das sonst bekannte Überleben nach einer Katastrophe, als vielmehr um den beständigen Kampf gegen einen fortgesetzten Untergang – denn die Fegefeuer bewegen sich weiter und eines hält direkt auf Roma Aeterna zu, dem Nabel der Welt.

 

Engel – ein Interview mit Patric Goetz vom Uhrwerk Verlag

 Wie kommt es, dass der Uhrwerk VerlagEngel neu auflegt?

Wir übernehmen Engel ja nicht ganz, sondern nur die Ordensbücher, die mittlerweile out of print sind. Den Rest gibt es nach wie vor von Feder und Schwert. Mit Grundregelwerk, Comic und Romanen haben wir nichts zu tun.

Was gefällt dir persönlich am Setting?
Ich mag Endzeit-Settings und Engel ist Endzeit und dabei nochmal anders. Da ist dieser religiöse Touch, bei dem man sich nie ganz sicher sein kann, ob nicht doch alles ganz anders ist. Dazu fasziniert mich Engel als Gesamtkonzept von Artwork, Layout, Rollenspiel und Soundtrack.

Wie hast du Engel im Spiel erlebt?

Ich selbst habe Engel nicht gespielt, aber wir haben die Traumsaat in anderen Kampagnen missbraucht.

Gibt es auch etwas, das du am Setting anders gemacht hättest?

Ich finde es schade, dass die gefallenen Himmel der Samaeliten und Ragueliten nicht thematisiert wurden. Diese kommen im Hintergrund vor, aber dazu sind nie Quellenbücher erschienen.

Können denn Fans auf weitere Produkte hoffen?

Erst einmal gibt es die alten Quellenbücher in neuer Auflage. Dann müssen wir mal schauen. Eventuell eine neue Version der Arkana-Karten auf besserem Papier. Wenn ich selbst etwas mit dem Segen von Feder&Schwert hinzufügen könnte, wäre das etwas über eine gefallene Himmelrsuine, nicht als Quellenbuch, sondern als Kampagnenband. Das gäbe einiges her.

Von Monachen, Templern und der Kirche

Die in dieser Welt lebenden Menschen sind in ein neues Mittelalter zurückgefallen, voller Wanderprediger, Ekstatiker und zurückgekehrtem Aberglauben. Diadochen und Kirchenfürsten beherrschen die verfallenen Städte, doch alle Macht geht von der Angelitischen Kirche aus, der religiösen Organisation, die die Engel des Herrn empfängt, ausbildet und entsendet.

Ihre Hochburgen sind die Himmel, bis zu anderthalb Kilometer hohe Turmbauten, die über die Wolkendecke hinausragen und Überbleibsel der verlorenen Hochkultur sind. Hier leben Monachen (Mönche), Beginen (Nonnen) und Dienstpersonal unter den Flugplattformen der Engelsorden. Jeder Himmel beherbergt dabei genau einen Orden, dessen Ausrichtung zugleich das Umland prägt. In Diensten der Kirche stehen auch die Templer, eine militärische Organisation, deren Heere das Recht der Kirche durchsetzen.

Für den erfahrenen Rollenspieler klar erkennbar: Die Kirche von Engel ist ambivalent gezeichnet. Einerseits hält sie die Ordnung aufrecht, andererseits verhindert sie mit der Ächtung von Technologie und der Fixierung auf die Engel als Heilsbringer soziale Entwicklungen. Spätestens, wenn die Engel zum ersten Mal auf Beutereiter treffen, Söldner, die den Zehnt der Kirche in Form von Kindern eintreiben, die den Nachwuchs der Kirche bilden, ist klar, dass hier einiges im Argen liegt.

Spielercharaktere: Die Engel Gottes?

Im Mittelpunkt der Kirche und der Hoffnung der Menschen stehen die Engel. In der Gestalt von Kindern und Jugendlichen, mit Flügeln und himmlischen Kräften bewehrt, sind sie die Streiter der Menschheit gegen die Traumsaat. Ihre Orden sind nach bekannten Erzengeln benannt und unterscheiden sich in Ausrichtung, Aufgabe und Mächten:

  • Michaeliten sind die aufrechten Anführer der Engel. Ihre Stimme kann die Menschen beeinflussen, Ehrfurcht oder Panik erzeugen und sogar töten.
  • Gabrieliten sind die kämpfenden ‚Todesengel‘ in schwarzer Tracht. Sie bestehen Gefechte dank Flinkheit, Kraft und ihrem Flammenschwert.
  • Urieliten sind Boten und Kundschafter. Ihre Augen sind scharf, ihre Bögen genau und dank den Gaben des Herrn überdauern sie Widrigkeiten und Strapazen.
  • Raphaeliten sind Heiler und Seelsorger. Sie können Krankheiten und Wunden heilen und sogar Tote zurück ins Leben rufen.
  • Ramieliten sind die gelehrten Bewahrer des Wissens. Sie können als einzige Engel lesen und schreiben. Dazu ermöglichen ihre Mächte ihnen, Gefühle und Gedanken zu lesen und sogar die Zukunft vorherzusagen.

 

Streitet für den Herrn - Eine Gabrielitin mit Segensbändern und Flammenschwert

Natürlich sind die Orden an bewährte Rollenspiel-Konzepte wie Waldläufer, Priester oder Krieger angelehnt, besitzen aber spätestens durch die einzelnen Ordensbücher genug Eigenständigkeit. Auch in den Engels-Mächten beweist das Rollenspiel Stil und verpackt bekannte Zauber in wohlklingende Namen wie „Die Hand Gottes“ oder „Tohu wa bohu“ – diese werden für die Spielercharaktere nach und nach mit den Weihen Signum, Sigil und Scriptura zur Verfügung gestellt.

Dabei fallen die technischen Erklärungen der Mächte im Grundbuch auf („elektrisch geladene Teilchen“, „Schwingungen“, „veränderte Hautstruktur“), die so gar nicht göttlich klingen wollen. Auch der Werdegang eines Engels ist merkwürdig: Dieser hat keine Erinnerungen vor seiner Ankunft im jeweiligen Himmel in Gestalt eines Kindes. Sein ganzes Wissen über seine Existenz, Aufgabe und die Welt beruht auf den Erzählungen der ausbildenden Mönche (Nonnus/Nonna). So sei er von Gott aus Erbarmen auf die Welt geschickt worden, um angeleitet von der Kirche die Traumsaat zu bekämpfen und Ketzer zu jagen. So weit, so mysteriös; besonders, da Engel altern und in jugendlichen Jahren ihre Mission beenden und zurück zu Gott gerufen werden.

Wer sich seine Erfahrung als Spieler mit Chroniken der Engel nicht verderben möchte, sollte an dieser Stelle tunlichst nicht weiterlesen. Spoileralarm!

Spoiler

 Der Metaplot des Rollenspiels wird auf Seite 102 des Grundregelwerkes mit den Worten „Die Engel sind keine Engel“ eingeleitet. Tatsächlich sind die Engel und Spielercharaktere keine Sendboten des Herrn, sondern von der Kirche gefangene und hirngewaschene Kinder, die mit fast vergessener Nanotechnologie verändert wurden. Ihr Leben endet mit dem letzten Ritus „Läuterung“ im Feuertod, wenn ihre wahre Natur mit fortschreitender Pubertät nicht mehr zu verbergen ist. Diese Wahrheit passt zur grimmigen Postapokalypse, gibt dem Spiel aber eine zweite, deutlich düsterere Ebene – die in Rezensionen des Rollenspiels ordentlich Kritik erfahren hat. Immerhin geht es nun um ‚missbrauchte‘ Kindersoldaten, deren Existenz und Tod von einer religiösen Gruppierung für ihren Machterhalt billigend in Kauf genommen wird. Ich finde den Ansatz dennoch mutig und einzigartig, da sich dadurch für erfahrene Rollenspieler interessante Fragen und Themen ergeben. Wie viel von der Wahrheit erahnen die Spieler? Können sie ihrem Tod im Feuer entkommen? Was passiert mit der Persönlichkeit der Charaktere, wenn sie die Wahrheit erkennen? Werden sie Rache nehmen? Welchen neuen (eigenen) Daseinszweck geben sie sich dann? Und ist ein solches perverses System im Angesicht einer Apokalypse nicht vielleicht doch entschuldbar?

Das Problem von Chroniken der Engel liegt in diesen sehr erwachsenen Themen, die gerade jüngere oder unerfahrene Rollenspieler mit Sicherheit überfordern. Auch könnte man Engel mit gewissem Recht die Wiederspielbarkeit absprechen, da der Trick des Metaplots mit den Spielern nur einmal funktioniert. Doch auch im Wissen um die Wahrheit ist Engel ein sehr interessantes Setting für Rollenspieler, die damit umgehen können.

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Bücher, die man gerne liest

Bereits das Grundregelwerk bemüht sich, die Spielwelt interessant zu beschreiben, etwa im mit kritischen Kommentaren eines Ketzers versehenen Kapitel „Historica Apocalyptica“. Stimmungsvolle Schwarz-Weiß-Zeichnungen und über das Buch verteilte Engelsrunen hinterlassen auch beim Lesen einen guten Eindruck.

Diese Qualität der Regelwerke wird auch in den Erweiterungsbänden fortgesetzt, wovon ich vor allem das Buch Traumsaat ans Herz legen möchte. Hier werden die mysteriösen Feinde der Engel aus Sicht des Monstermalers Fra Domenico geschildert, was sich in Teilen zur Qualität eines spannenden Romans steigert, wenn der Protagonist des Quellenbuches mit Atemgerät ein Brandland betritt.

Die Erweiterung Mater Ecclesia ermöglicht es auch als Templer zu spielen, was vor allem erfahrene Engel-Gruppen reizen dürfte. Gewöhnungsbedürftig ist hingegen der Kampagnenband De Bello Britannico, bei dem die Kirche das verloren geglaubte England zurückerobert und es dabei mit allerhand ketzerischer Technologie zu tun bekommt. Spannend wiederum für alle Gruppen dürfte der Codex Urbanis sein, der die Schrottbarone (Diadochen) und ihre verbotene Technik beschreibt, die versuchen, sich der Kirche zu widersetzen und damit neben der Traumsaat zu den häufigsten Widersachern werden.

Dabei gibt es in allen Büchern grundsätzlich mehr Hintergrund als konkrete Spielhilfen. Wer Stadtpläne oder Dungeonskizzen erwartet, ist bei diesem Erzählrollenspiel falsch. Wer aber gut geschriebene Rollenspielbücher mag, kann auch ohne Spielrunde mit Chroniken der Engel lesend glücklich werden.

Problem System: D20 oder Arkana

Eines der Probleme von Engel wird erst im System deutlich. Das dem Spiel eigene Arkana-System benutzt Arkanakarten als Hilfen zur Ausdeutung von Szenen. Das ist zwar nett und entspricht dem Gedanken eines „Freistil“-Erzählspiels, stößt in der Praxis einer Würfel gewohnten Rollenspielrunde aber häufig auf Widerstand. Gezogene Karten ergeben in szenenbezogener, charakterbezogener oder handlungsbezogener Legung unterschiedliche Bedeutungen. Was die Karte „Beutereiter“ mit der Bedeutung „Strukturwandel“ aber in einer konkreten Situation tatsächlich heißen soll, kann schnell zu Ratlosigkeit am Spieltisch führen. Kleinere Konflikte werden bei dieser Art des Systems einfach von Spieler und Spielleiter auserzählt, was einerseits einen sehr erfahrene Erzählspieler und Vertrauen innerhalb der Gruppe erfordert, andererseits auch Spannung aus Konflikten nimmt.

Als Alternative bietet Chroniken der Engel eine D20-Umsetzung für die mittlerweile veraltete dritte Edition von Dungeons & Dragons. Rettungswürfe, Tabellen und gewürfelte Schadenswerte helfen zwar dabei, Situationen besser einzuschätzen, wollen aber nicht so recht zum Erzählspiel passen. Dazu lehnen viele erzählorientierte Rollenspieler D20 aus Prinzip ab. Hier muss der Spielleiter eventuell mit einem eigenen System nachhelfen oder sich einer der Konversionen des Spiels im Netz bedienen (etwa zu White Wolfs Storyteller). Kaufen und sofort losspielen ist dadurch nicht ohne weiteres möglich, wenn sich eine Gruppe nicht auf die Arkanakarten einlässt.

Heilende Hände - Ein Ramielit bei der Ausübung seiner heilenden Pflicht

Fazit – Ein himmlischer Untergang

Chroniken der Engel zu spielen macht überraschend viel Spaß, ob mit oder ohne zweifelhaften Metaplot. Gemeinsam mit den Mitspielern als Teil einer gemischten Engelsschar gewinnen die erlebten Abenteuer vor dem Hintergrund rasch eine epische Schwere, die andere Rollenspiele erst zum Ende von Kampagnen entwickeln. Gerade die Rolle als Heilsbringer im Fantasybereich hat selten so viel Sinn ergeben wie hier.

Abseits der üblichen Fantasyklischees bietet das Rollenspiel damit ein faszinierendes postapokalyptisches Setting, das in zahlreichen Quellenbüchern detailverliebt beschrieben und erweitert wird. Wer bisher diesen Meilenstein des deutschen Rollenspiels noch nicht in der Hand hatte, sollte die Gelegenheit nutzen: Engel wird 2013 in Teilen vom Uhrwerk-Verlag neu aufgelegt, wodurch Spieler nicht mehr auf die recht teuren PDFs angewiesen sind.

Daumen4Maennlich

 

Artikelbilder: Feder & Schwert, Uhrwerk Verlag

9 Kommentare

  1. Puh, Engel. Ich fand den Metaplot immer schon etwas schräg, aber es stimmt schon: Engel spielen macht trotzdem viel Spaß. Man kann ihn übrigens auch ganz weglassen. Dann ist Engel mehr heroic Fantasy.

  2. Aktuell kostet das PDF übrigens nur ~23€ bei DriveThruRPG, was mir immer noch zu viel ist. Aber das Setting klingt irgendwie cool.
    Wie ist denn das mit dem Wiederspielwert? Ich meine wenn man dann irgendwann die Hintergründe aus dem Spoiler erfahren hat, wirds ja schwer den nächstens Charakter unvoreingenommen zu spielen.

    • @Tim: Danke Dir für den Tipp. Die englische erste Version ist auch schon ab 10€ auf DriveThruRPG als PDF zu haben.

      Das mit dem Wiederspielwert ist so eine Sache. Wer ’nur‘ ein neues Setting entdecken möchte, hatbei Chroniken der Engel natürlich nach einer Kampagne vieles gesehen. Gerade der Metaplot ist eher ein einmaliger Trick. Aber auch ohne diesen groß zu bedienen macht Engel Spaß. Oder man spielt eine Runde als Templer oder Beutereiter? Die Welt hat sicher auch abseits des großen Geheimnisses viel zu bieten.

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