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Während man als Schüler praktisch jeden Rollenspieltermin wahrnehmen kann, ist dies mit steigender Verantwortung, sei es im Job, als Partner oder als frischgebackenes Elternteil mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Viele Gruppen überleben diese Veränderungen nicht, oder treffen sich nur noch selten. Eine Alternative dazu stellt ein Online-Treffen dar.

Gerade Google Hangouts hat sich in der Vergangenheit zum wahren Spielrundenretter gemausert. Um Hangouts noch weiter an die Bedürfnisse von Rollenspielern anzupassen, wurde bereits 2012 die Tabletop Forge mittels Kickstarter finanziert. Im Januar 2013 vereinte sich die in der Versenkung zu verschwinden drohende Forge mit Roll20, einem Service zur Simulation eines virtuellen Spieltisches.

Was ist Roll20?

Roll20 stellt eine Online-Alternative für Spielgruppen dar. Es basiert auf HTML5 und wird als eine eigenständige Anwendung betrieben. Es kann aber auch mittels Google Hangouts als App gestartet werden.

Wie viele amerikanische Anwendungen basiert auch diese auf Dungeons & Dragons. Eine gewisse Affinität zum namensgebenden Würfel und dem Regelwerk sind daher nicht von der Hand zu weisen. Leider gibt es das System sowie die umfangreiche Dokumentation nur in Englisch.

Grundlegend handelt es sich tatsächlich um einen virtuellen Spieltisch mit zahlreichen Komfortfunktionen.

 

Was kann Roll20?

Die Königsdisziplin einer Online-Rollenspiel-Anwendung ist – selbstverständlich – ein geeigneter Würfelgenerator. Dieser ist bei Roll20 sehr mächtig. Es werden sämtliche Würfelarten vom vierseitigen Exemplar bis zum hundertseitigen Vertreter angeboten und auch FUDGE-Würfel sind mit integriert. Die Operationen mit dem Würfel decken praktisch alle gängigen Regelsysteme ab. Ganz gleich, ob Würfel addiert, subtrahiert, behalten, abgelegt oder gar explodieren sollen: Roll20 kann es abbilden. Die dazu gehörenden Formeln sehen manchmal etwas abenteuerlich aus, daher ist gerade bei komplexeren oder von der Anwendung nicht unterstützen Systemen die Anlage von Makros (vorgefertigte „Miniprogramme“, um häufige Würfelwürfe zu automatisieren) empfehlenswert. Eine Übersicht, was Roll20 kann, findet sich hier.

Manche Systeme benötigen dazu noch eine andere Form des Zufallselements. Geläufige Beispiele aus dem Deadlands-Universum sind Spielkarten und Spielchips. Ein komplettes Spielkartenset mit zwei Jokern gibt’s bereits beim Anlegen der Kampagne, alles andere kann über die Anwendung eingestellt werden. Das Anlegen von Spielchips ist daher auch leider etwas umständlich, da jeder einzelne Chip als „Karte“ im System angelegt werden muss. Dabei handelt es sich allerdings um einen einmaligen Aufwand, weil diese Kartendecks mittels Klick problemlos dupliziert werden können. Übrigens können Spielkarten direkt zur Bestimmung von Initiative eingestellt werden. Die Implementation exotischer Decks, z.B. eines Tarot-Kartenspiels, ist selbstverständlich auch möglich, aber auch hier muss jede Karte einzeln im Deck erstellt werden.

In Roll20 können auch Charaktere angelegt werden. Diese verfügen neben Freitextfeldern zur Biografie und Spielleiterinformationen auch über Fähigkeiten und Attribute. Für ein Maximum an Flexibilität handelt es sich dabei um eine frei zu vergebende Bezeichnung, dem momentanen Wert sowie dem maximal möglichen Wert. Neben dem Würfelgenerator ist auch dieser Bereich ist sehr robust programmiert. Einfache Zahlenwerte funktionieren hier genauso wie die Angabe von Würfelart und Würfelanzahl (z.B. 3d6). In der gleichen Maske kann man direkt passende Makros hinterlegen. Praktisch jede vorstellbare Kombination kann nachgestellt werden, generell gilt aber: Je ausgefallener der Mechanismus, desto aufwändiger die Umsetzung. Es wurde sogar an eine Textvervollständigung gedacht, um dem Nutzer größtmöglichen Komfort zu bieten. Eine Referenz findet ihr hier.

Der Spielleiter kann bei Roll20 zusätzlich noch Handouts anlegen, die er den Spielern zeigen kann. Diese bestehen aus einem Textfeld, GM-Notizen und einer Grafik. Man kann die Schreibberechtigungen übrigens so einstellen, dass alle Spieler die Notizen bearbeiten können. Damit ist dann auch gleich der Schmierzettel für Informationen simuliert.

Roll20.com - Die Startseite
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Der Spieltisch im Internet

Das Herzstück des Systems stellt der virtuelle Spieltisch dar. Dieser kann in Größe und Hintergrund angepasst werden. Zudem darf man sich für ein Gitter entscheiden und dieses sogar mit einer Maßeinheit hinterlegen. Soll ein Quadrat für einen Inch oder eine Meile stehen? Oder befinden wir uns eher im Bereich der Zentimeter und Meter? Muss es überhaupt ein Quadrat sein? Wäre Hex nicht besser? Alles kein Problem. Eine hinterlegte Maßfunktion verrät uns schnell, wie weit der Unhold von uns entfernt ist. Natürlich darf man auf diesem Spieltisch auch allerhand ablegen: Die vorher erwähnten Karten oder Chips zum Beispiel, aber auch eigene Bilder oder Spielsteine. Diese können, besonders komfortabel, in einer eigenen Datenbank gesucht und direkt ins Spielfeld gezogen werden. Alternativ darf man aber auch eigene Spielsteine, mit Schlagwörtern versehen, in einem eigenen Bereich ablegen. Für Nutzer der Gratisversion stehen 100 Megabyte Speicherplatz zur Verfügung, die Bezahlvarianten Supporter und Mentor erhalten ein bzw. zwei Gigabyte Speicherplatz. Die Spielsteine können darüber hinaus mit bestehenden Charakteren verknüpft werden und umgekehrt. Durch das Ziehen eines Charaktereintrags auf das Spielfeld können Spielsteine somit selbst erzeugt werden.

Um im heißen Gefecht nicht die Übersicht zu verlieren, können weitere Symbole an den Spielstein gesetzt werden. Verschiedene Farben und Symbole stehen zur Auswahl. Jeder Spielstein verfügt auch über drei unterschiedliche Zahlenwerte. Diese können entweder für klassische Aufgaben wie z.B. Lebens- und Manabalken, aber auch für Fähigkeiten und Attribute verwendet werden. Eine Verknüpfung zu den Werten des Charakters ist ausdrücklich möglich, aber aus unerfindlichen Gründen funktionierte diese Zuordnung bei unserer Testrunde leider nicht automatisch.

Die Spielfläche ist in mehrere Seiten und Layer aufgeteilt: Während Spieler ausschließlich den „Objekte“-Layer verändern können, kann der Spielleiter sowohl den „Hintergrund“- als auch den unsichtbaren „Spielleiter“-Layer mit weiterem Inhalt füllen.] Mit dem Seiten-Feature kann der Spielleiter Situationen vorbereiten und einen oder mehrere Spieler per Mausklick von einer Seite auf die nächste ziehen. Stehen aufwändige Kämpfe an, kann der Spielleiter diese gleichfalls vorbereiten und bei Bedarf souverän hervorziehen –hektisches Aufzeichnen von Informationen und der Aufbau von Spielfiguren entfällt vollständig. Auf den Seiten können Freunde des Dungeon Crawls auch einen „Nebel des Krieges“ hinterlegen, also den größten Teil des Spielfeldes abdecken. Der Spielleiter hat die Möglichkeit, Teile des Spielfeldes Stück für Stück wieder aufzudecken.

Zur Abrundung des Pakets verfügt Roll20 über einen Chat, einen Turn-Order-Tracker, der die Reihenfolge der Spielfiguren in einer Auseinandersetzung festhält, sowie die Integration von Soundcloud. Ein cleverer Zug, da auf diesem Wege Urheberrechtsklagen aus dem Weg gegangen wurde. Möchte ich ein bestimmtes Lied hören, bin ich also darauf angewiesen, dass dieses bereits in Soundcloud existiert. Ist dem nicht so, kann man es entweder selbst hochladen – und sich gegebenenfalls strafbar machen – oder man sieht sich nach Alternativen um. Der Spielleiter hat hier die Möglichkeit, die allgemeine Lautstärke eines Musikstückes festzulegen und auch mehrere Musikstücke bzw. Sounds gleichzeitig abzuspielen. In der Praxis hängt die Ausgabelautstärke aber auch an der Konfiguration der Spieler, daher kann ein Stück bei einem Spieler kaum wahrnehmbar, beim Anderen dafür zu laut sein.

Apropos Ausgabelautstärke: Roll20 verfügt über einen Audiochat und bietet darüber hinaus auch eine Videofunktion an. Die Wiedergabequalität ist ordentlich, aber leicht gedämpft. Leider kann die Videofunktion nur mit zugeschalteter Audiofunktion aktiviert werden. Somit sind ein Bild über Roll20 und Ton z.B. über Teamspeak leider nicht möglich.

Der virtuelle Spieltisch.
Der virtuelle Spieltisch.

Premium Services

Wie bei den meisten Online-Diensten bietet auch Roll20 ein Premiumprogramm an. In zwei Stufen kann der Nutzer sich weitere Funktionen freischalten. Für das Supporter-Programm werden wahlweise 4,99 USD pro Monat oder rund 50 USD verlangt, während das aufgebohrte Mentor-Programm sogar mit knapp 10 USD im Monat oder 100 USD im Jahr zu Buche schlägt. Die Premium-Funktionen des Supporter-Pakets umfassen zum einen das sogenannte „Dynamic Lighting“, also ein Aufdecken des Nebels des Krieges je nach Position der Figur. Dieses Video zeigt, was damit konkret gemeint ist. Die zweite Premium-Funktion ist eine Unterstützung für mobile Geräte.

Zusätzlich dazu bietet die Premium-Stufe des Mentors den „Transmogrifier“ an. Dieser ermöglicht das Kopieren von Inhalten zwischen einzelnen Kampagnen sowie Zugriff auf die Roll20-API. Neben dem zur Verfügung gestellten Zugang zum Entwicklungsserver, spricht der Transmogrifier eher Nerds und Entwickler an. Eine größere Grafik-Datenbank für Spielchips rundet das Angebot ab.

Für wen ist Roll20 geeignet?

Roll20 eignet sich insbesondere für Spielergruppen mit vollen Terminkalendern. Auch Spielgruppen mit Eltern, die zwar Zeit hätten, die aber auf ihre Kinder aufpassen müssen, profitieren sehr von dieser Lösung. Aber auch bei Umzügen, Urlaub, Auslandssemestern oder Geschäftsreisen hilft Roll20, ein gemeinsames Spiel auf die Beine zu stellen. Ein direktes Treffen ersetzt es natürlich nicht, stellt aber eine angenehme Alternative zu einem eigentlich ausgefallenen Abend oder gar dem Ende der Runde dar.

Fazit

Roll20 stellt eine annehmbare Alternative zum persönlichen Treffen dar. Selbstverständlich leidet das Programm an der fehlenden Präsenz und manch ein Spieler lässt bestimmt ein Browserspiel nebenher laufen, was die Konzentration nicht eben fördert.

Im Großen und Ganzen arbeitet das System fehlerfrei und verfügt über alle notwendigen Funktionen für einen Spielabend. Besonders beeindruckt hat uns die mögliche Komplexität des Würfelgenerators, mit der fast jede Situation abgebildet werden kann. Sollte man mittels Makro nicht eine vollständige Automatisierung einrichten können, ist zumindest eine Annäherung drin, die dem Spielleiter, aber auch den Spielern einiges an Arbeit abnimmt.

Die Premium-Dienste sind eher zur Unterstützung der Entwickler gedacht, der Preis im Vergleich zum Mehrwert ist lächerlich hoch, dafür sind die zusätzlichen Funktionen weit davon entfernt, das Spielgefühl signifikant zu verbessern.

Insgesamt eine empfehlenswerte Anwendung, mit der das Rollenspiel online leicht von der Hand geht.

Artikelbilder & Logo: Roll20.com

 

12 Kommentare

  1. Sehr schön.
    Ein paar kleine Schnitzer sind allerdings im Artikel:
    * Zum einen gibt es keine FATE-Würfel, FATE benutzt FUDGE-Würfel.
    * Und der Satz „Ein direktes Treffen ersetzt es natürlich nicht…“ passt nicht ganz. Ich gehöre zwar zu jenen, die aus der Not eine Tugend gemacht haben aber es gibt andere, die bei der Wahl zwischen einem „direkten Treffen“ und der online Variante immer die letztere Bevorzugen. Vielleicht sind beide Arten vergleichbar, vielleicht nicht. Aber so wie Storytelling und Powergaming zwei rollenspielerische Ansätze sind, sind es das direkte Treffen und das Spielen via VoIP und Virtual Gametable ebenso. Zwei ebenbürtige Möglichkeiten, kein volles oder halbes Substitut.

    • Markus, das kommt wohl darauf an, mit welcher Intention man Rollenspiel betreibt. Bei mir steht heutzutage klar das Treffen mit Freunden im Vordergrund, Rollenspiel ist da nur der Anlass. Daher kann Roll20 das natürlich nur zum Teil ersetzen. Aber wenn man mit Freunden spielen will, die weit entfernt wohnen, ist das eine sehr gute Möglichkeit.

  2. Hallo Markus!

    Vielen Dank für deinen Kommentar.

    Natürlich hast du recht. Es handelt sich um FUDGE-Würfel, die auch beim FATE-System verwendet werden. Ich habe mir die Freiheit genommen, dass direkt zu korrigieren.

    Reduziert man Rollenspiel auf das Wesentliche, stimme ich dir zu. Das reine Spiel kann online genauso gut wie offline stattfinden. In meinem Statement sehe ich Rollenspiel vor allem als soziale Veranstaltung. Und dieser Bereich litt bei meiner Runde deutlich. Die nonverbale Kommunikation konnte nur unzureichend herübergerettet werden. Aber auch außerhalb des Spieles gibt es Dinge, die die online Variante nicht abbilden kann. Banale Dinge wie zum Beispiel leise Gespräche unter den Spielern, das gemeinsame Knabbern von Salzstangen oder der spontane Ausbruch von Heiterkeit, wenn ein Spieler seinen Charakterbogen in Kaffee einweicht. Natürlich braucht das Spiel selbst all diese Dinge nicht. Aber zumindest für mich gehört so etwas einfach dazu.

    • Ich bin da ganz Deiner/Eurer {auch @Mathias) Ansicht. Aber das ist nur eine Perspektive von vielen möglichen Perspektiven. Wenn ich bedenke, wie viel soziale Interaktion über das Netz abgewickelt wird und wie viel sich als Ersatz zu Körpersprache oder spontaner Heiterkeit entwickelt und etabliert hat, das glaube ich, dass diese Art des Beisammenseins längst eine gleichwertige Alternative zu der von uns bevorzugten Weise darstellt. Drachenzwinge, G+ Hangout Communities und so weiter wachsen stetig und das nicht nur, weil die Teilnehmer räumliche oder zeitliche Schwierigkeiten damit meistern wollen.

  3. […] Bevor ich Nähe­res zum Spie­len selbst schreibe, muss ich auf den tech­ni­schen Rah­men ein­ge­hen. Ich spiele seit eini­gen Jah­ren haupt­säch­lich online, in der Regel via Team­speak, ab und an mit Hilfe von Google Han­gouts. Dabei nutze ich als vir­tu­el­len Spiel­tisch mei­ner Wahl nahezu aus­schließ­lich Roll20. […]

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