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Baron Blade hat es mal wieder darauf abgesehen, die Welt zu vernichten, indem er den Mond auf die Erde fallen lässt. Und das würde ihm auch gelingen, wären da nicht die Freedom Five: Absolute Zero, der Wissenschaftler, der durch eine Explosion in seinem Cryolabor und Ausrüstung der US-Regierung in der Lage ist, Kälte zu kontrollieren. Bunker, der Soldat und geniale Stratege, der in einem High-Tech Kampfanzug steckt, welcher mit allerlei Waffen ausgerüstet ist. Legacy, der Erzfeind des Barons, der in einer langen Reihe von Männern steht, die diesen Namen trugen. Tachyon, die geniale Wissenschaftlerin, die durch einen Laborunfall hyperschnell wurde. Und Wraith, die im normalen Leben CEO eines großen Konzerns ist und Nachts in Rook City die Unterwelt mit allerlei Gadgets in Angst und Schrecken versetzt.

Auch wenn die Namen nicht bekannt klingen, der Plot könnte aus einer von dutzenden Comicreihen stammen. Das sind die Storyelemente von Sentinels of the Multiverse: Klassisch, Gut gegen Böse, Larger than Life auf beiden Seiten. So wie es sich für Superhelden eben gehört.

Spielablauf

Aber werfen wir doch erst einmal einen Blick auf den Unterbau, also das System des Spiels: Sentinels of the Multiverse ist ein kooperatives Kartenspiel für 3-5 Spieler (1 oder 2 sind auch möglich, wenn dann pro Person mehrere Helden geführt werden). Jeder der Spieler sucht sich bei Spielbeginn einen Helden aus, den er verkörpert und nimmt sich die entsprechende Charakterkarte und das festgelegte Deck aus 40 Karten. Außerdem gibt es immer einen Bösewicht und einen Schauplatz. Jeder Spieler startet mit vier Handkarten. Die Bösewichte starten meist mit einer gewissen Startaufstellung an Verbündeten, Ausrüstung oder ähnlichem, die Umgebung startet ohne aktive Effekte.

Das Spiel läuft in Runden ab. Der Bösewicht beginnt mit seinem Zug, indem er die oberste Karte von seinem Deck spielt. Dann sind die Spieler an der Reihe, immer in der gleichen Reihenfolge. Im eigenen Zug darf ein Spieler eine Karte aus seiner Hand spielen, dann eine Kraft benutzen, die ihm die ausliegenden Karten verleihen, dann eine Karte ziehen. Nachdem alle Spieler an der Reihe waren, wird die oberste Karte der Umgebung gespielt. Sind die Helden der Spieler alle ausgeschaltet, gewinnt der Bösewicht, ist der Bösewicht ausgeschaltet gewinnen (meist) die Spieler.

Ein wenig mehr Platz darf es bei richtiger Mitspieleranzahl schon sein!
Ein wenig mehr Platz darf es bei richtiger Mitspieleranzahl schon sein!

Klingt total einfach, und ist es im Prinzip auch. Aber wie immer bei Kartenspielen kommt der Spaß und die Komplexität nicht aus den grundlegenden Regeln, sondern aus dem Karten und der Interaktion der einzelnen Effekte.

Stets gilt es abzuwägen, ob man eine starke Karte mit sofortigem Effekt einsetzt, oder eine andere, die keinen starken direkten Einfluss auf das Spiel hat, dafür aber liegen bleibt und langfristig hilft. Welches Ziel des Gegners stört am meisten und muss daher als erstes zerstört werden? Wer hat momentan wie viele Lebenspunkte übrig, und kann es eventuell sinnvoll sein, einen der eigenen Leute anzugreifen, damit bestimmte Effekte diesen dann treffen und nicht einen anderen Helden, der damit nicht so gut klar käme? Und was wird es sein, was Umgebung und Bösewicht spielen? Kann man das vorhersehen und sich vorbereiten?

Ja nachdem gegen welchen Gegner man antritt und welchen Helden man spielt ändert sich die Anzahl und Komplexität der eigenen Entscheidungen. Glücklicherweise gibt es eine Liste mit Komplexitäten zu Helden, Bösewichten und Umgebungen, so dass man sich für den Einstieg einfache Karten aussuchen kann. Und das ist auch bitter nötig, denn der ein oder andere Held ist meines Erachtens nach überhaupt nicht spielbar, wenn man das Spiel noch nie vorher gespielt hat.

Nach ein paar Partien hat sich dieses Problem aber erledigt, und man kann getrost mit allem spielen, was Sentinels of the Multiverse hergibt.

Durch die hohe Varianz der Kartendecks ist es oftmals auch nicht möglich, frühzeitig zu sagen, ob man gewinnen oder verlieren wird. Klar, es gibt Partien, die erscheinen unendlich leicht, und auch solche, die von Anfang an ganz klar auf eine Niederlage zusteuern. Aber auch bei solchen Partien kann es durchaus noch vorkommen, dass es am Ende anders ausgeht, als man dachte.

Auf der Website von GTG finden sich ausgearbeitete Superhelden.
Auf der Website von GTG finden sich ausgearbeitete Superhelden.

Als Kartenspiel, insbesondere als kooperatives, ist der Glücksfaktor dabei natürlich ein sehr wichtiges Element. Man kann durch Kenntnis aller Karten, die noch kommen könnten, die eigene Strategie verbessern, aber wenn man einfach Pech hat beim Ziehen, hilft das irgendwann auch nicht mehr. Aber wenn man immer mit der perfekten Strategie gewinnen könnte, würde das ja auch keinen Spaß machen. Natürlich darf man sich aber auch niemals völlig auf das Glück verlassen. Die Zusammenarbeit im Team gegen die gerade sichtbaren Gefahren ist mindestens genauso wichtig und erfordert bisweilen eine Menge Überlegung und kreative Ideen.

Apropos Zusammenarbeit: Bei einem kooperativen Spiel ist die Interaktion der Spieler untereinander natürlich ein grundlegender Teil des Spieles. Bei Sentinels of the Multiverse läuft diese Interaktion auf zwei Ebenen ab. Die erste ist die zwischen den Spielern, die gemeinsam diskutieren sollten, wie sie Herr der Lage werden oder bleiben. Die zweite Ebene ist die zwischen den gespielten Helden, die, je nach Held, mehr oder weniger viele, Fähigkeiten haben, die Teammitgliedern helfen können. Zum Beispiel indem sie Schaden erhöhen, umleiten, Karten ziehen oder spielen lassen, eine Kraft einsetzen lassen und noch vieles mehr.

Um mit unterschiedlichen Heldenanzahlen spielbar zu sein, gibt es viele Karten, die einen Effekt haben, der von der Spieleranzahl abhängig ist. Dabei kann die Schadenshöhe genauso variieren wie die Menge der betroffenen Karten. Je nach Gegner sind diese Effekte jedoch unterschiedlich häufig. Und so ist mancher Gegner mit vielen Helden leichter zu bezwingen, ein anderer vielleicht mit wenigen. Generell lässt sich auf jeden Fall sagen, dass das Spiel mit allen möglichen Spielerzahlen gut funktioniert, und lediglich die Schwierigkeit betroffenen ist, nicht die grundsätzliche Spielbarkeit des Spieles.

Durch die große Menge an möglichen Kombinationen aus Helden, Bösewichten und Umgebungen, ist ein hoher Wiederspielwert gegeben. Und wenn man der Ansicht ist, dass ein Gegner zu einfach ist, oder einfach schon zu bekannt und dadurch witzlos, kann man immer noch die „Advanced“ Variante des selben Gegners verwenden, die dann jeweils eine Kleinigkeit ändert, was aber einen großen Einfluss auf das Spiel hat.

Gerade auch das Ausprobieren der verschiedenen Helden hat seinen Reiz, denn diese spielen sich wirklich extrem unterschiedlich. Bei vielen ist es auch wirklich gelungen, Karteneffekte und Vorstellung in Einklang zu bringen. Man kann sich, nicht nur durch die Bilder und Sprüche auf den Karten, sehr gut vorstellen, wie die aktuelle Szene in einem Comic oder Film aussehen würde. Und meist ist das: Episch!

Ausstattung

SotM BoxDas Spiel besteht fast vollständig aus Karten. Und zwar einer Menge davon. Helden, Bösewichte, Umgebungen – alle haben ihre eigenen Decks. Außer den Karten gibt es noch Marker für Lebenspunkte und diverse Marker, die Effekte anzeigen (+1 Schaden, verursacht Feuerschaden, etc.), die das Spiel erleichtern können, wenn man sie benutzt. Dann hat man aber auch mehr Verwaltungsaufwand, und nach ein paar Partien lässt man sie dann meistens weg und merkt sich einfach, was aktuell alles aktiv ist.

Das Regelheft ist komplett im Comicstil aufgemacht und gut lesbar. Es gibt ein gutes Glossar und auf der Rückseite in groß noch einmal einen Überblick über den Rundenablauf. Perfekt.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Greater Than Games LLC
  • Autor(en): Christopher Badell, Paul Bender, Adam Rebottaro
  • Erscheinungsjahr: 2011 bzw. 2012 (Enhanced Edition mit Regelverbesserungen). Aktuellste Erweiterung: 2014
  • Sprache: Englisch
  • Format: 30x20x8 cm
  • Preis: 39,95 USD plus Versand
  • Bezugsquelle: Amazon, US-Order 

 

Preis-/Leistungsverhältnis

Für 40 USD erhält man knapp 600 Karten, ein vollfarbiges Regelheft und massig Pappmarker. Sicherlich kein Schnäppchen, aber auch nicht zu teuer. Durch den hohen Wiederspielwert, der sich mit jeder Erweiterung nur potenziert, da die Kombinationen mehr und mehr werden, ist das Spiel seinen Preis auf jeden Fall wert.

Einziges Manko aktuell: Es scheint momentan in Deutschland verdammt schwer zu sein, das Spiel zu bekommen. Ich hatte das Glück, es auf der SPIEL 2013 zu kaufen, aber gerade das Grundspiel ist wohl aktuell nirgendwo erhältlich. Laut Greater Than Games soll Brave New World in Köln der größte Kunde in Deutschland sein, aber das Grundspiel hatten sie auch aktuell nicht auf Lager.

Natürlich kann man sich das Spiel aus den USA schicken lassen, aber dann kommen noch einmal saftige Versandkosten hinzu, plus Einfuhrumsatzsteuer und Zoll. Alles zusammen landet man damit schnell bei einem Preis, der sicherlich zu hoch liegt.

Wenn man aber jemanden in den USA kennt, der es einem mitbringen kann, eine Reise dorthin vorhat, oder wenn man eine Bezugsquelle hierzulande finden kann, sollte man auf jeden Fall zugreifen.

Bonus/Downloadcontent

Die Community um das Spiel ist relativ aktiv. Entsprechend gibt es auch einige sinnvolle Dinge im Netz zu finden. Die beiden hilfreichsten sind hierbei wohl:

Spiffworld: eine komplette Kartenliste mit Übersicht, welche Errata es gab, ein Zufallsgenerator, um Helden, Bösewichte und Umgebungen auszuwürfeln (man kann auch Teile fest vorgeben) und eine Liste mit Regelklarstellungen aus dem offiziellen Forum sind hier zu finden. Gerade Letztere sollte man sich ausdrucken oder aufs Tablet packen, um im Zweifelsfall schnell darauf zugreifen zu können.

Sentinels of the Multiverse Difficulty Score System: Eine komplette Liste mit allen existierenden Kartendecks, aus der man ablesen kann, wie stark welcher Held und wie schwer welcher Gegner zu besiegen ist. Die Werte sind mittels naiver Bayes-Klassifikation (Statistik) ermittelt und sind sehr viel aussagekräftiger als die „Schwierigkeiten“, die im Regelheft stehen.

Fazit

In die Box passt einiges rein.
In die Box passt einiges rein.

Normalerweise bin ich kein besonders großer Fan von kooperativen Spielen. Zu groß ist die Gefahr, dass es genau eine Person am Tisch gibt (meistens mich), der den anderen sagen will, was sie zu tun haben, damit man gemeinsam gewinnen kann. Einzig Verräterelemente haben es bisher geschafft, etwas daran zu ändern. Greater Than Games gelingt es aber durch hohe Komplexität zu verhindern, dass ein einzelner Spieler schnell und effektiv genug alle Karten sehen und kennen kann, so dass wieder alle Spieler aktiv mitspielen können und müssen.

Gerade die Komplexität macht das Spiel spielens- und wiederspielenswert. Und, anders als sonst bei amerikanischen Spielen üblich, entsteht diese Komplexität nicht durch besonders komplizierte Regeln. Vielmehr sind es die mannigfaltigen verschiedenen Karteneffekte und Kombinationen aus ihnen, die hier glänzen. Und neben diesem robusten und für sich genommen schon wirklich guten Regelgerüst schafft es das Spiel sogar noch, eine hohe thematische Dichte aufzubauen. In fast jedem Moment entstehen beim Spiel Bilder im Kopf, die perfekt zu dem passen, was gerade durch die Karten angezeigt wird. Eine perfekte Symbiose aus Stil und Substanz, wie ich sie bisher nur selten in einem Spiel gefunden habe.

Ich habe Sentinels of the Multiverse schon in verschiedensten Gruppen gespielt, und von den ~20 Leuten, die ich dabei in das Spiel einführen konnte, gab es bisher nur eine einzige, die das Spiel nicht besonders mochte. Und das auch nur, weil die Karten auf Englisch sind und sie in dieser Sprache nicht besonders fit ist.

Wenn ihr also des Englischen mächtig seid und eine Chance habt, euch dieses Spiel anzusehen, dann solltet ihr euch die Zeit dazu nehmen. Ihr werdet es nicht bereuen.

Daumen5maennlich

Artikelbilder: Greater Than Games LLC, Boardgaming.com

 

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