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Es war der Beginn des neuen Jahrtausends und Untergangsszenarien gerade „in“. Die klassische Welt der Dunkelheit hatte die Time of Judgement eingeläutet. Engel und Endland hatten den Rollenspielmarkt vorbereitet und auf düstere Zukunftssettings eingestimmt. Da erschien 2004 das erste Degenesis (von nun an Degenesis1 genannt) im Sighpress Verlag. Es wurde bald auf Englisch übersetzt, aber mit gemischten Gefühlen aufgenommen: Fans feierten das Artwork und den Primal Punk als interessante Alternative zur Ödland-Postapokalypse, Kritiker bemängelten vor allem Probleme am Spieltisch durch verfeindete Fraktionen und Schwächen im mitgelieferten Würfelsystem. Zehn Jahre später präsentieren die Original-Autoren um Christian Günther und Marko Djurdjevic eine neue Version ihrer Primal Punk-Vision: Degenesis Rebirth Edition. Spielwelt und vor allem das Regelsystem wurden dafür gründlich überprüft und überarbeitet.

Die Spielwelt: Eshaton aus dem All

Jede Postapokalypse braucht ihre Katastrophe. Im Kapitel „Eine neue Weltordnung“ kann man die letzten Jahre des Urvolkes anhand eines ausführlichen Zeitstrahles nachlesen. Die vereinfachte Kurzfassung: Aids mutierte, Afrikas (in Degenesis „Africa“) Flüchtlingsströme führten zum Krieg ums Mittelmeer, Asteroiden fielen auf die Erde, veränderten das Klima zu einer Eiszeit und bombten die Zivilisation zurück in eine Stammesgesellschaft. Der Clou daran: Degenesis Rebirth Edition spielt ungefähr vierhundert Jahre nach der Katastrophe. Es ist also keine klassische Endzeit-Dystopie. Es geht nicht ums Überleben in einem Fallout-Ödland, sondern darum, wie die Menschheit daraus hervorgegangen ist und ihre Zukunft gestaltet – Wiederaufbau in einer Zukunft nach der Katastrophe eben. Diese war kein Untergang, sondern ein Neuanfang, ein Eshaton. Damit es aber nicht zu hoffnungsvoll zugeht, existieren in diesem Rollenspiel vier große Themen und Konfliktherde:

I. Europa gegen Africa

Neue Machtblöcke haben sich etabliert – während Europäer in verschneiten Ruinen hausen und sich an Artefakte der Vorzeit klammern, wurde Africa von den Einschlägen weitgehend verschont und erblüht am Rand eines wuchernden Dschungels als große Zivilisation. Der eigenwillige (und im Vergleich zur heutigen Wirklichkeit umgekehrte) Nord-Süd-Kulturkonflikt ist einzigartig. Dass dabei auch einige Klischees bedient werden, africanische Krieger Löwenköpfe tragen und mit Jagdflinten auf Pseudo-Safari gehen, dürfte aber nicht jedermanns Sache sein.

Die Kulturen der einzelnen Regionen unterscheiden sich
Die Kulturen der einzelnen Regionen unterscheiden sich stark voneinander. In Franka, ehemals Frankreich, wurden die Menschen von Sporen und Mutanten auf die Flüsse des Landes zurückgedrängt.

II: Zivilisation gegen Klans

Ein Großteil der Bevölkerung Europas ist in ein primitives Stammestum zurückgefallen. Sie leben in Sippen, folgen Schamanen, beten zu Geistern und reiten sogar auf den wiedergekehrten Mammuts. Ihnen gegenüber stehen befestigte Ruinen-Städte im Norden (etwa Justinian oder Osman), die ihren Machtanspruch auf Waffen und Artefakte aufbauen und immer mehr Umland annektieren. Doch die Klans schlagen zurück und kämpfen um ihre Freiheit. Kein Postapokalypse-Rollenspiel kommt ohne den „Technik vs. Natur“-Konflikt aus und Degenesis Rebirth Edition ist da keine Ausnahme.

III. Homo Degenesis gegen Homo Sapiens

Die Asteroiden brachten außerirdische Sporen mit (den Primer), die begannen, ausgehend von den Kratern, das Land zu überwuchern und die Natur zu verändern. Das Ergebnis: Homo Degenesis, feindselige Mutanten mit übernatürlichen psychischen Fähigkeiten von Pheromonkontrolle bis zu Telekinese. Diese Psychonauten stellen eine bizarre, neue Stufe der Evolution dar, die versucht die Menschen auszurotten, zu manipulieren oder zu unterwerfen. So sind große Teile des Ostens (Sporenwand) und Teile von Frankreich (Franka) bereits an die Sporen gefallen. In Africa ist alles anders und die Sporen hier betreffen hauptsächlich die Pflanzenwelt. Ihre entarteten Psychovoren führen sogar Krieg gegen den Primer in Europa. Die bizarren Mutationen und ihre Effekte auf den Menschen bringen (Body-)Horror ins Rollenspiel.

IV. Diverse Kulte mit und gegeneinander

In der Welt von Degenesis Rebirth Edition prägen 13 große Kulte die Spielwelt. Sie paktieren untereinander, teilen sich die Herrschaft in Regionen und Städten und tragen auch manchmal offene Konflikte aus. Hier einige Beispiele:

  • Spitalier: Eine wehrhafte Ärzteorganisation mit Weltretter-Anspruch. Sie kämpft gegen den Primer und Psychonauten und studiert die Mutationen auf der ganzen Welt.
  • Hellvetiker: Schwer bewaffnete Erben der Schweizer Armee, die sich in den Alpen verschanzt haben und dort an den Tunneln Passiergeld verlangen.
  • Chronisten: Artefakt-Sammler, die großes Wissen über das Urvolk besitzen und die anderen Kulte manipulieren. Ihr Ziel ist die Reaktivierung des allumfassenden Daten-Internets, dem Stream.
  • Richter: Gesetzeshüter, die auch jenseits der Städte mit Muskete und Schlapphut für Ordnung sorgen. Sie errichteten die große Stadt Justinian und damit die neue Ordnung des Nordens.
  • Schrotter: Rastlose Plünderer, die sich in den Ruinen des Urvolks auskennen und viel auf ihre Freiheit geben. Was sie bergen, verkaufen sie, um zu überleben.

 

Die Kulte sind uneinheitliche Lebensgemeinschaften. Sie werden durch Ideale, Religion oder Doktrin zusammengehalten – wobei die Grenzen hier fließend sind. Drei Kulte (Neolybier, Anubier und Geissler) gehören zu Africa und haben neben der Kult-Kult-Rivalität noch den Kulturkonflikt als Thema.

Wie hat sich der Hintergrund zu Degenesis1 verändert?

Vergleicht man Degenesis Rebirth Edition mit Degenesis1, fällt auf, dass das Setting nicht stark überarbeitet wurde. Wer Degenesis1 gespielt hat, dürfte sich sofort zurechtfinden. Mancher Text wurde fast 1:1 übernommen, etwa der Zeitstrahl. An anderer Stelle haben die Autoren auf den Texten von Degenesis1 aufgebaut, sie klargestellt und den Hintergrund erweitert – vor allem bei Kulten, Regionen und Klans. Manche Ortschaften und Details fehlen (Sodom), andere sind dazugekommen (Africa wurde erweitert). Dabei hat man sich sichtlich bemüht, die feindseligen Töne zwischen den Kulten zu dämpfen: So wurde aus manchem blutigen Krieg (Jehammedaner-Widertäufer, Africa-Hybrispania) bloßes Misstrauen und sogar lokale Kooperation. Das ist zwar nicht das von einigen Kritikern erhoffte, weitgreifende Re-Design, aber eine deutliche Verbesserung gegenüber den teilweise nur schwer überspielbaren Fraktionskonflikten von früher. Viele Kulte haben auch interne Strömungen und rivalisierende Ansichten, die für noch mehr Abwechslung sorgen.

Das Setting an sich spielt nun 2595, also zehn Jahre nach Degenesis1. Besonderes Gewicht legt die Degenesis Rebirth Edition auf die akute Bedrohung durch die Klans. Diese haben sich gegen die Herrschaft der Kulte erhoben, an der Seite des Maraudeurs Chernoborg die Praha Republica geschleift. Dabei werden im Kapitel „Viel Feind“ für alle Regionen Klans aus unterschiedlichen Technologiestufen als Feindbild vorgestellt. So kämpfen dem Balkhan die Usudi, in Borca die Kakerlaken gegen das Protektorat. Interessant für Primal Punk-Veteranen: Manche Kulte stammen dabei aus Erweiterungsbänden zu Degenesis1, etwa die Resistance aus Feldberichte: Psychonauten.

Dystopische Postapokalypse Nein, Primal Punk
Dystopische Postapokalypse? Nein, Primal Punk. Der neue Fokus auf die Bedrohung durch die wilden Klans versucht das zu unterstreichen.

Die Regeln: Katharsys 2.0

Degenesis Rebirth Edition beinhaltet das eigene Würfelsystem Katharsys. Gewürfelt wird mit einem Poolsystem an W6; ähnlich Shadowrun. Der Würfelpool ergibt sich aus einer Kombination von sechs Attributen (Körper, Geschicklichkeit, Charisma, Verstand, Psyche, Instinkt) und insgesamt 36 zugeordneten Fertigkeiten (z. B. Athletik, Heimlichkeit, Verführung, Artefaktkunde, Reaktion, Orientierung). Ein Ergebnis von 4, 5 oder 6 ist ein Erfolg. Eine sechs zählt als zusätzlicher Trigger, der einen situationsbedingten Vorteil ermöglicht – etwa besondere Qualität einer Handlung, Extra-Aktionen bei Initiative, Schaden im Kampf. Manche Handlungen benötigen eine bestimmte Zahl an Erfolgen (Schwierigkeit) oder zwei oder mehr gelungene Würfelwürfe in Folge. So weit, so klassisch.

Mit Katharsys geht auch ein Kampf schnell über die Bühne. Nur, dass die Initiative in jeder Kampfrunde neu festgelegt wird, bremst etwas – aber das ist letztlich Geschmackssache. Eine Battlemap, um die Bewegung festzuhalten, ist zu empfehlen, aber kein Muss. Aktive Verteidigung ist möglich und sorgt für etwas Taktik. Wer gut abwehrt, kann im Gegenangriff selbst zuschlagen. Waffen verursachen einen festen Schaden, Panzerung senkt ihn und erschwert Bewegung und Handlungen. Schaden verursacht Fleischwunden, dann Traumaschaden. Letzterer reduziert den Würfelpool des Charakters und heilt erst, wenn alle Fleischwunden geheilt sind und zwar einen Punkt alle zehn Tage. Damit sind Kämpfe hart und haben aber starke Konsequenzen – richtig so in einem dreckigen Primal Punk-Setting!

Egopunkte und Versporung

Interessant sind im neuen Katharsys besondere Fähigkeiten, die einander ausschließen. So muss sich ein Charakter beispielsweise für Glaube oder Wille entscheiden. Dasselbe gilt für Primal (wilde Emotionen) oder Fokus (kühle Logik); aus letzteren abgeleitet werden die Egopunkte. Diese kann ein Spieler ausgeben, um Bonuswürfel bei Proben zu erhalten und damit seine Überlebenschancen zu erhöhen. Wer keine Egopunkte mehr besitzt wird ohnmächtig – eine riskante und interessante Mechanik. Egopunkte regenerieren sich langsam über Nacht oder für das Ausspielen des Charakterkonzepts. Das dürfte manchem Regelpuristen zu vage sein, kommt aber vielen Erzählspielern entgegen.

Wer sonst schnell Egopunkte braucht, muss zur Droge Burn greifen. Sie verstärkt zusätzlich kurzfristig bestimmte Charakterwerte, erhöht aber die Versporung. Dieser anwachsende Wert, den man sonst nur in der Nähe von Sporenfeldern oder bei Sporenflug erhält, kann das Leben kosten. Wächst dieser höher als sein Maximum, wird ein Charakter zum Leperos und beginnt innerlich zu verfaulen. Doch dazu muss es nicht kommen, gibt es doch das Medikament Ex und die Entgiftungs-Dienste der Spitalier.

Charaktererschaffung

Die Charaktererschaffung von Degenesis Rebirth Edition ist relativ simpel und aus verschiedenen Baukästen aufgebaut. Zunächst wählt ein Spieler einen aus 7 Kulturkreisen (etwa Borca oder Africa), einen der 13 Kulte (etwa Spitalier oder Richter) und ein Konzept. Letzteres ist aus dem Tarot abgeleitet (etwa Herrscher, Märtyrer, Eremit) und gibt dem Charakter eine besondere Richtung. Dann verteilt der Spieler Attribute und Fähigkeiten nach einem Punktekaufsystem. Wertegrenze zu Spielbeginn ist 2, was etwas wenig erscheint, aber durch Werteboni aus Kultur, Konzept und Kult angehoben werden kann.

Weiter spezialisiert wird der Charakter durch sechs Hintergründe (Autorität, Ruf, Ressourcen, Geheimnisse, Netzwerk), sowie ein Potential – quasi eine Sonderfähigkeit seines Kultes. Wer unter den Vorschlägen der Kulte nichts Passendes findet, darf auch aus einer allgemeinen Potential-Liste wählen (z. B. Gefahrensinn, Elefantenhaut). Zum Abschluss wird der Rang des Charakters innerhalb seines Kultes anhand seiner Werte bestimmt. Der Rang bestimmt neben bestimmten Privilegien auch die Startausrüstung.

Das neue und alte Katharsys im Vergleich

Spielern von Degenesis1 wird direkt aufgefallen sein, dass die Spielregeln sich grundlegend unterscheiden. Das neue Katharsys hat nur noch den Namen mit dem vielkritisierten Vorgänger aus Degenesis1 gemeinsam. Das Würfelsystem ist dabei weder Hartwurst-Simulation noch freies Erzählspiel, dafür schnell und intuitiv. Der Hintergrund bildet sich nun besser im System über Potentiale und Artefakte ab. Dank Egopunkten und generell höhere Erfolgschancen sind Spielercharaktere kompetenter bei Spielbeginn und der Zwang zur totalen Spezialisierung entfällt. Dazu wurden viele Regelschnitzer des Vorgängers beseitigt: Rüstungsbelastung ist zwar noch immer hinderlich, aber nicht mehr absurd und normale Munition günstiger erhältlich. Hier haben die Autoren sich die Kritik am Vorgänger zu Herzen genommen.

Im Vergleich zu Degenesis1 wurden vor allem die Ränge der Kulte erweitert und ausgearbeitet. In diesen kann ein Spielercharakter aufsteigen, wenn er die Voraussetzungen und passenden Werte erfüllt – oft mit mehreren Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Sie sagen klar aus, was die Aufgabe des Charakters ist, und welche Pflichten er im Kult übernehmen muss. Ein Spitalier beginnt etwa als namenloser Rekrut, wird dann Pfleger und Famulant, um sich danach auf eine medizinische Karriere zu spezialisieren (von Epigenetiker bis zu Chirurg). Dazu geben einige Ränge Werteboni, schalten besondere Potentiale frei und ermöglichen den Spielercharakteren mehr Einfluss auf den Kult und die Spielwelt zu nehmen.

Die unsterblichen Maraudeure
Die unsterblichen Maraudeure gehören zu den bemerkenswertesten Monstern und Spielleiter-Geheimnissen von Degenesis.

Spielbarkeit aus Spielleitersicht

Die Welt von Degenesis ist groß, fremdartig und komplex. Spielleiter ohne Spielerfahrung von Degenesis1 dürften eine Weile und ein paar Notizzettel brauchen, bis sie darin heimisch werden. Schläfer, Maraudeure, Recombination Group, HIVE, der 216-Virus, Fraktalwälder – es gibt zahllose Besonderheiten und Spezialbegriffe zu erlernen. Aufschlagen, überfliegen und losspielen geht schlecht. Doch gerade die Beschreibungen der Regionen und Kulte erschweren das Einlesen: Sie sind zwar gut geschrieben, aber teilweise recht vage. Hier wären mehr Beispiel-NSC, ausgestaltete Orte und generell mehr Daten hilfreich gewesen. Auch nach dem vollständigen Lesen von Degenesis Rebirth Edition bleiben einige Fragen für die Interpretation des Spielleiters offen. Dafür finden sich in den Beschreibungen genug Plotideen, um Abenteuer oder ganze Kampagnen zu stricken.

Das Bestiarium des Kapitels „Viel Feind“ ist umfassend und voller interessanter Gegner – von Wurmparasiten die zu Kannibalismus führen (Leichenfresser), über verschleierte Nomaden-Mammutreiter (Garganti) bis zu lebenden Menschmaschinen aus der Vorzeit (Amsumo). Auch einige Geheimnisse aus Degenesis1 werden in der Degenesis Rebirth Edition ausführlicher beleuchtet, etwa die Armee von eingefrorenen Soldaten (Schläfer) oder scheinbar unsterbliche Naniten-Götter (Maraudeure), die das Blut der Schläfer trinken und ganze Länder unterjochen können. Doch auch nach Lesen des Rollenspiels bleibt genug Raum für Spekulationen.

Anders als viele moderne Rollenspiele hält Degenesis Rebirth Edition aber keinen roten Faden bereit. Gerade die Mischung einer Gruppe aus unterschiedlichen Kulten und Regionen dürfte für viele Spielleiter eine Herausforderung sein. Das Kapitel für Spielleiter, „Erzählen“, versucht das zu kompensieren und zeigt Möglichkeiten für themengebundene Kampagnen auf, von Horror mit Psychonauten bis zum Dungeoncrawl in Ruinen. Am besten läuft das Rollenspiel als Mono-Kult-Gruppe mit klaren Zielen oder als Sandbox, in welchem die Wahl und Handlungen der Charaktere auch Thema und Kampagnenverlauf bestimmen. Der klassische „Auftrag mit Komplikationen“ für eine gemischte Gruppe Söldner kann aber auch funktionieren. Geld, Rohstoffe oder Wissen als Lohn interessieren viele Kulte.

Helden, gibt es nicht
Helden gibt es nicht. Selbst der selbstlose Ärztebund der Spitalier hat faschistoide Tendenzen. Das passt aber sehr gut ins erwachsene Setting.

Spielbarkeit aus Spielersicht

Degenesis Rebirth Edition macht neugierig, keine Frage. Spieler dürften sich über die Charaktervielfalt freuen. Charaktere sind schnell gemacht und notiert und los geht es … oder? Die Frage ist berechtigt, denn die Vielfalt und Freiheit von Degenesis Rebirth Edition ist gleichzeitig ein Problem des Spiels. Warum sollten denn ein Richter, ein Apokalyptiker und ein Geissler gemeinsame Sache machen? Was treibt einen Anubier ins richterliche Justinian? Warum verlässt ein Hellvetiker überhaupt seine Bergfestung? Immerhin werden in den Kultbeschreibungen einige Vorschläge gegeben. Und dankbarerweise liegen die Kulte auch nicht mehr in blutigen Kriegen miteinander, wie teilweise noch in Degenesis1.

Mit einer Spielrunde aus kreativen Spielern, die gewohnt sind aufeinander zuzuarbeiten, ist eine gemischte Gruppe in Degenesis Rebirth Edition kein Problem. Hier werden die unterschiedlichen Ansichten und Ziele der Kulte zu interessanten Reibungspunkten zwischen den Charakteren. Mit kontrapdotuktiv eingestellten „Mein Charakter ist aber so“-Spielern, die vom Spielleiter einen Grund brauchen, um in der Gemeinschaft mit anderen Kulten zu spielen, dürfte Degenesis aber zur Qual werden. Hier fehlt nach wie vor ein gemeinsamer Erzählrahmen oder ein starker Metaplot.

Einstiegsabenteuer: In den Staub

Degenesis Rebirth Edition hält ein kurzes Einstiegs-Abenteuer parat, um in die Welt einzuführen. Der Schauplatz sind die Orte Tumbler und Vektor im Protektorat. Die Spielercharaktere geraten durch eine Kneipenschlägerei auf die Spur eines Falschgeld(Wechsel)-Skandals und sollen für den Chronisten Token in einem Alkoven Beweise sammeln. Mit einem Kampf als Auftakt, dem Finanzsystem als Thema, Schrottern als Gegner und Verrat als spannendes Element ist dies ein solider, wenn auch wenig ausgefallener Einstieg. Unsere Proberunde spielte es an einem Spielabend samt Charaktererstellung und zwei Kämpfen durch und hatte danach durch die Bank Lust auf mehr.

Ein Praxis-Test zum längeren Kampagnenspiel mit Gebrauch der Crafting-Regeln für modifizierte Gegenstände und Aussagen über das Balancing der einzelnen Kulte stehen aber noch aus.

Preis/Leistungs-Verhältnis

Mit einer beeindruckenden Optik sowie insgesamt 704 Seiten ist Degenesis Rebirth Edition sicher ein Premium-Rollenspiel. Das schlägt sich auch im sehr stolzen Preis nieder. Satte 99 EUR kostet die „günstigste“ Premium-Edition. Wer eine Weltkarte als Poster und den exklusiven Storyteller-Screen möchte, muss 149 EUR für die signierte Limited-Edition ausgeben. Damit liegt Degenesis Rebirth Edition preislich am oberen Rand für neue Rollenspielbücher und für manche Leser sicher jenseits des vertretbaren Maßes. Keine Frage, der Inhalt ist hochwertig und Fans von Primal Punk der Preis wahrscheinlich egal. Wer sich aber unsicher ist, sollte auf das PDF warten.

Erscheinungsbild

Cover Degenesis Rebirth EditionBei Degenesis Rebirth Edition muss man einfach mehr als zwei Sätze über das Erscheinungsbild verlieren. Das Rollenspiel wird in zwei DIN-A4-Hardcover-Büchern in einem edlen Schuber ausgeliefert. Buch 1, „Primal Punk“, enthält die Weltbeschreibung und den Zeitstrahl. Buch 2, „Katharsys“, enthält das System und den Abschnitt für Spielleiter, samt Bestiarium. Beide Bücher sind vollfarbig und von griffiger Papierqualität. Die Cover sind in modernem weiß mit Degenesis-Schriftzug und dürften damit aus jedem Rollenspiel-Regal herausstechen.

Die Illustrationen von Marko Djurdjevic sind durchweg stimmungsvoll und gehören zum Besten, was Rollenspiel als Hobby zu bieten hat. Sogar der Ekel-Faktor der Psychonauten von Degenesis1 wurde deutlich zurückgefahren. Häufig erstreckt sich eine Illustration über eine ganze Seite. Jeder Kult und jeder Klan erhält eine ganzseitige Charakterzeichnung, die das „das will ich spielen“-Gefühl aufkommen lässt. Textkästen, Verzierungen, Skizzen und der Wechsel zu weißer Schrift auf schwarzen Grund lockern nicht nur den Textfluss auf, sondern ergeben ein Gesamtkonzept, das ganz klar künstlerischen Anspruch hat und sogar Legend of the Five Rings aussticht. Etwas merkwürdig sind vereinzelte, unübersetzte Zwischentexte als fiktive Zeitdokumente auf Englisch und Russisch. Trotzdem: Wer optisch schöne Rollenspiele mag, wird Degenesis Rebirth Edition lieben.

Aber ist das Rollenspiel auch funktional? Das größte Problem: Beide Bücher zusammen sind recht schwer und damit nicht gut auf eine Convention zu transportieren. Der solide Index ist besser als das knappe Inhaltsverzeichnis – trotzdem dürfte man häufig auf Informationssuche zwischen Kult und Region hin- und herblättern. Das Einleitungskapitel „Forward“ ist stimmungsvoll geschrieben und führt in die Welt ein. Der hier demonstrierte, adjektivreiche und teilweise pathetische Stil, zieht sich durch die ganze Weltbeschreibung von „Primal Punk“. Das ist nicht mehr so schwülstig, wie noch in Degenesis1. Doch wer seine Informationen klar und kompakt aufbereitet haben möchte, der dürfte an Degenesis Rebirth Edition zu kauen haben. Auch hätten einige Schlagworte gefettet werden können, um die Nutzbarkeit zu erhöhen. Insgesamt ist das Rollenspiel aber sinnvoll strukturiert und spannend zu lesen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: SIXMOREVODKA
  • Autor(en): Christian Günther, Marko Djurdjevic
  • Erscheinungs­jahr: 2014
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover
  • Seitenanzahl: 704
  • ISBN: 978-3000463365
  • Preis: 99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon, Sphärenmeister

 

Bonus-/Downloadcontent

  1. Auf der Homepage des Rollenspiels finden sich Charakterbögen, Hintergrundbilder sowie eine Weltkarte zum kostenlosen Download. Besonders löblich ist der intuitive Online-Charaktergenerator, samt der Möglichkeit, den Charakter als Link zu speichern und sogar frei zu editieren. Nur eine Übersicht der Kult-Ränge und die Option einen Stämmer zu individualisieren fehlen dort noch.

  2. Im offiziellen Forum beantworten Moderatoren und die Entwickler Fragen über Degenesis Rebirth Edition. Hier gibt es auch die Möglichkeit, Degenesis-Spieler zu suchen, eigene Artefakte hochzuladen oder über die Geheimnisse der Spielwelt zu spekulieren.

Kommen die mutierten Psychonauten ins
Kommen die mutierten Psychonauten ins Spiel, ist in Degenesis Survival-Horror angesagt.

Fazit

Degenesis Rebirth Edition ist ein Premium-Rollenspiel. In Zeiten von kostenlosen Schnellstartern und Taschen-Rollenspielen für „nen Zehner“ beschreiten die Autoren hier einen gewagten, anderen Weg hin zum optisch beeindruckenden Gesamtkonzept. Man bekommt quasi nicht nur ein Rollenspiel, sondern auch ein Artbook. Dabei sprengt Degenesis Rebirth Edition Umfang und auch Preisrahmen handelsüblicher Grundregelwerke und bewegt sich auf dem Niveau von limitierten Editionen. Eine günstigere Print-Variante gibt es nicht – das ist unüblich und für manche Leser sicher ärgerlich, aber keinen Punktabzug wert. Das Ergebnis ist ganz klar ein hochwertiges Liebhaberprodukt.

Auch inhaltlich tanzt dieses Rollenspiel aus der Reihe. Trotz einiger Anleihen bei Fallout, Mad Max und Konsorten ist Degenesis eben kein Setting generischer Postapokalypse, sondern Science-Fiction lastiger, eigenständiger Primal Punk mit Ecken und Kanten. Selbstbewusst bauen die Autoren dabei auf Degenesis1 auf und räumen die Kritikpunkte am Vorgänger aus. Das neue Würfelsystem erfindet das Rad zwar nicht neu, spielt sich aber intuitiv, fair und angenehm unkompliziert. Die Erweiterungen und Umgewichtungen im Hintergrund, vor allem bei den Kulten, erleichtern Kampagnenplanung und Gruppenzusammenspiel. Der neue Fokus auf Kulten und Zivilisationskonflikt hat dem Spiel insgesamt gut getan.

Wer Primal Punk generell nicht mag, den wird auch die Degenesis Rebirth Edition nicht überzeugen. Auch Spielrunden, die einen starken Metaplot brauchen, oder eine möglichst realistische Endzeit-Überlebenssimulation erwarten, sollten sich das Geld sparen. Alle anderen dürften mit dieser Version des Primal-Punk-Rollenspiels viel Spaß haben. Fans von Degenesis1 können bedenkenlos zugreifen.

Persönliche Anmerkung: Ich selbst bin Rollenspiel-Sammler; doch Degenesis1 war eines der wenigen Rollenspiele, die ich nach einigen Spielabenden und unangetasteten Jahren im Regal weiterverschenkt habe. Ich erkannte damals viele interessante Ideen, schloss mich aber der vorherrschenden Kritik an und blieb lieber bei anderen Ruinen-Settings, etwa meinem geliebten Tribe 8 oder selbstgebauten Fate-Welten. Entsprechend verhalten war meine Begeisterung, als ich den Nachfolger in den Händen hielt. Doch die hohe Gesamtqualität, das tolle Artwork, die erweiterten Hintergründe und das neue System haben mich überzeugt. Die Degenesis Rebirth Edition hat jetzt einen festen Platz in meinem Rollenspielregal. Die erste Kampagne ist sogar schon in Planung und ich gebe die schicken Bücher nie wieder her.

Daumen5maennlich

Artikelbilder: SIXMOREVODKA

 

22 Kommentare

  1. Ich war mit Setting aus Degenesis (1) sehr zufrieden, habe es an den genannten Kritikpunkten abgeändert, und es mit Savage Worlds gespielt.
    Das neue Artwork ist schön, mir gefällt das Alte jedoch besser.
    Auch wenn Dirk hier eine schöne Rezi schreibt, das neue Degenesis lobt; für mich ist der Umfang und der Preis ein Totschlagargument.
    Zum einen mag ich keine hunderte Seiten lesen bevor ich loslegen kann, gleiches gilt für meine Stammspieler. Zum anderen kann und will ich mir keine 100 Euro für etwas leisten, von dem ich nicht weiß ob es bei mir ankommt oder ich es je leiten werde. Dann doch lieber ein Savage Worlds Setting, etwas mit der Slay Engine oder FATE.
    Ich verfolge die weitere Entwicklung jedoch aufmerksam.

    • Ja, der Preis ist sehr ungewöhnlich auf dem Rollenspielmarkt. Wir haben uns nach langer Überlegung aber dagegen entschieden, dafür einen Abzug bei der Gesamtnote zu geben. Schließlich erhält man ja dafür auch einen luxuriösen Gegenwert – zwei Bücher in Vollfarbe, 704 Seiten. Manche Spielrunden werden sich das leisten, andere nicht. Aber laut den Autoren wird es irgendwann ein PDF geben – das könnte eine Alternative für dich sein. Schick sind die Bücher allemal ;)

  2. Viele Dank für das Review! Nun muss ich mich doch zwischen nem neuen Smartphone und dem neuen DeGenesis entscheiden. ;)
    Eigentlich schade, dass die neue Edition so teuer/hochwertig ist. Da traut man sich ja fast nicht, die Bücher aus dem Regal zu nehmen, um zu spielen…

  3. Stimmt, der Preis wirkt hoch. Aber ich denke, da sollte man vergleichen. Für D&D beispielsweise braucht man drei Bücher für den Grundstock. Da ist man auch schnell im Rahmen von 100 Euro und das ohne Spielwelt. Für Warhammer Fantasy allein legt man schon 80 Euro auf den Tisch. Kauft man Schattenjäger und beispielsweise noch das Handbuch des Inquisitors ist man schon bei 95 Euro. Degenesis Rebirth halte ich daher nicht für teuer. Es wirkt bloß teuer, weil man beide Bücher gleichzeitig kaufen muss.

  4. Worauf ihr nicht eingeht, soweit ich das gelesen habe, ist die Tatsache, dass aktuell nichts weiter entwickelt wird. Es gibt also praktisch nur die beiden Grundbücher und einen Kampagnenband (in thy blood) der nen guten Eindruck macht. Man sollte sich also darauf einstellen, dass erstmal nichts mehr kommt. Da alles für das Spiel benötigte vorhanden ist, ist das für jemanden wie mich, der gerne die Abenteuer selber schreibt, kein Problem. Ein Meister, der nur Kaufabenteuer macht, kommt nach ein paar Sitzungen ans Ende der Fahnenstange. Hier nochmal der entsprechende Post im Forum: http://www.sixmorevodka.com/degenesis/forum/viewtopic.php?f=10&t=929

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