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Manchmal scheint der Fantasy-Aspekt bei Shadowrun zwischen Cyberpunk und Sci-Fi oder Near Future aufgerieben zu werden. Gerade dann kann es besonders spannend sein, diesen Aspekt durch besondere Ideen Leben einzuhauchen. Es lassen sich zwar nicht alle Konzepte aus Sword&Sorcery- oder High-Fantasy-Rollenspielen in die Sechste Welt bringen, aber man kann es ja mal versuchen – mit Orten zum Beispiel. Dungeons, Städte und Wildnis in der Art, wie sie schwertschwingende Helden erleben. Kann das nicht auch für die Abenteuer von Messerklaue, Decker und Schamane interessant sein?

In diesem Artikel versuchen wir, drei geradezu archetypische Orte aus Fantasy-Rollenspielen in die Sechste Welt zu bringen.

Der Markt

Der Sprawl ist laut und überfüllt – vor allem abseits der Stahl- und Glasfassaden, wo sich nur wenige ein eigenes Fahrzeug leisten können und zu Fuß oder mit den öffentlichen Verkehrseinrichtungen unterwegs sind. Platz ist Mangelware, genauso wie gut bezahlte Arbeit. Und dennoch gibt es immer wieder kleinere Areale zwischen den dicht gedrängten Gebäuden, die von Glück suchenden Händlern okkupiert werden. Dort reihen sich dann provisorisch errichtete Verkaufsstände aneinander und bieten gerade noch so viel Platz zu ihrem Gegenüber, dass potentielle Käufer genug Raum haben, um die Ware in Augenschein zu nehmen. So auch auf dem Stanleys Park Market (SPM, wie er im Volksmund kurz genannt wird), am südöstlichen Ende von Touristville in Redmond.

Die Ansammlung aus Zelten und Buden aus Holz, Pappe, Folie und Wellplast erstreckt sich über ein Areal von etwa 1.500 m2, wobei nur etwa die Hälfte davon zu einem heruntergekommenen Park gehört und sich der Rest in den angrenzenden Seitenstraßen verfranzt. Viele der selbstgezimmerten Verkaufsstände sind mit Rädern versehen und können so nach Bedarf zu anderen Orten gekarrt werden, was aber nicht bedeutet, dass der Markt regelmäßig ab- und wieder aufgebaut wird. Dennoch gibt es eine eigene Dynamik, und so sehr sich die handverlesenen Organisatoren dahinter auch bemühen, wenigstens ein wenig Ordnung zu halten, so wenig ähnelt sich der Markt an zwei aufeinander folgenden Wochen.

Die einzelnen Buden handeln im Großen und Ganzen mit allem, was es in besseren Gegenden in den großzügig gestalteten Einkaufszentren gibt, allerdings ist vieles davon aus zweiter Hand wie etwa Elektronik, Unterhaltungstechnik, Haushaltshilfen, Medtech, Kleidung (und Stoffe) und Ersatzteile. Es gibt Zigaretten, Alkohol und Soyfood und sogar hier und da echtes Obst, Gemüse oder Fleisch. Obst und Gemüse kommen dabei häufig aus dem Plastikdschungel und sind entsprechend teurer (von der B-Ware abgesehen, von der man allerdings die Finger lassen sollte) und das Fleisch … besser, man fragt nicht.

Es gibt zudem eine Menge von Garküchen, die aus den einfachsten Dingen mit viel Kreativität vergleichsweise wohlriechende Speisen zaubern. Wer davon leben muss, hat sich notwendigerweise einen starken Magen angeeignet und fragt auch besser nicht, woraus im Einzelnen der Kebab oder der Eintopf besteht.

Ein weiterer Handelszweig sind Dienstleistungen auf dem SPM. Dabei bieten sich manche Ersatzteilverkäufer als Techniker für schnelle Reparaturen an und haben mitunter Zugang zu Connections mit größeren Werkstätten. Andere Dienstleistungen bieten die Damen und Herren aus dem horizontalen Gewerbe, die an einigen Stellen halb verborgene Zelte für ihre Dienste stehen haben. Dabei gibt es Angebote für alle möglichen Vorlieben. Seltener trifft man auf Musiker oder Illusionisten, die ihr Publikum für Essen oder Geld für einige Minuten verzaubern.

Es gibt eine stillschweigende Übereinkunft mit den Sicherheitsdiensten der Stadt, dass dieser Markt unter einem selbstorganisiertem Schutz steht. Derzeit sind das die Mädels der TV Gingers. Die Gang kassiert dabei eine Art Standmiete und sorgt im Gegenzug für Recht und Ordnung. Schlägereien werden dabei schnell und brutal aufgelöst und über Diebe wird im Eilverfahren gerichtet. Je nach Schwere des Vergehens kann man seine persönlichen Habseligkeiten verlieren und des Marktes verwiesen werden oder auch von einer Horde wilder Gingers verprügelt und im Zentrum des Marktes für ein oder mehrere Tage an den Pranger gehängt werden – gerne auch mal unbekleidet.

Natürlich floriert auf dem Markt auch der Handel mit allerlei Diebesgut, Drogen und anderen illegalen Gütern. Dabei gilt allerdings die eiserne Regel, dass keine Waffen auf dem Markt gehandelt werden.

Auf dem Markt gibt es zudem zwei Attraktionen. Da wäre zum einen das Zelt von Lucy’s Bar am Nordende des SPM. Es bietet etwa zwei Dutzend Gästen einen halbwegs wettergeschützten Platz und ist eine der wenigen Dauereinrichtungen des Marktes. Das Besondere ist nicht nur die eigene Brennerei, die hinter dem Zelt steht und kontinuierlich harten aber wohlmundenden Stoff produziert, sondern vor allem Lucy selbst. Sie ist ein Zyklop von beeindruckender Statur. Groß, muskulös und dazu mit einer starken Ausstrahlung gesegnet, die sie doppelt einschüchternd wirken lässt. Sie hat gute Kontakte zu den Gingers und manche erzählen, dass sie mal zu ihnen gehörte, sogar ihre Anführerin war. Andere behaupten, sie wäre früher in den Schatten gelaufen. Wer näher zu ihr durchdringt, wird schnell feststellen, dass sie eine Menge einflussreicher Kontakte hat und dieses Netzwerk nutzt, um als Schieber für besondere Dienstleistungen und Waren zu arbeiten.

Die andere Attraktion ist die Bärengrube im Zentrum des Marktes. Wie tief der etwa drei Meter durchmessende Schacht ist, ist nicht näher bekannt. Aber in etwa vier Metern ist ein Gitterrost eingezogen worden, der als Boden für Kämpfe aller Art dient. Wenn die Gingers nicht zwei Streithähne hier hineinwerfen und ihren Disput gegeneinander austragen lassen, treffen sich hier Freizeitkämpfer aller Art und es kann gewettet und gegrölt werden. Um die Bärengrube ist praktisch immer ein Pulk nach Gewalt oder dem schnellen Geld gierender Leute versammelt, und wer einige Runden in der Bärengrube durchsteht, kann es schnell zu lokalem Ruhm bringen.

Die Troll-Brücke

Brücken und Straßen sind auch in der Sechsten Welt nicht frei von Besteuerung. Maut oder Toll (englisch, bedeutet auf deutsch „Gebühr“ oder „gebührenpflichtig“) wird allenthalben an den Wegen verlangt, deren Instandhaltung besonders aufwändig ist – oder in privater Hand liegt. Wenn diese privaten Hände dann noch den alles überragenden Trollen des Sprawls gehören, wird aus einer Toll Bridge schnell eine …!

Wer aus Auburn kommend Richtung Puyallup fährt, sollte eigentlich die Konzernstraßen nehmen, die das Flussbett des White River nördlich umfahren. Dafür braucht man allerdings die notwendigen Zulassungen, Geld und vor allem Zeit. Wer es eiliger hat oder sich lieber dem Blick der Konzerne entziehen will, der nimmt die Route 410 und die Enumclaw Stonebridge.

Nachdem der Mittelteil der Brücke in den 30ern einbrach und sich aufgrund von Haushaltskürzungen der Stadt niemand um die Reparatur kümmerte, lag die Brücke lange brach. Dazu kam, dass eine Menge der größeren Straßen aufgrund von Finanznöten in Auburn nach und nach an private Investoren übergeben wurden, die damit das Transportwesen im Industriegebiet Auburns retten wollten. Wer fortan Auburn auf den größeren Straßen betreten oder verlassen wollte, musste kräftig zahlen. Vor einigen Jahren gelang es einer Gruppe von Trollen, einen der übergroßen 100-Fuß-Luftschiffcontainer über der kaputten Brücke am White River in Position zu bringen und begründeten darauf ihren folgenden lokalen wirtschaftlichen Erfolg. Seitdem beherrschen sie den Großteil des Verkehrs zwischen Auburn und Puyallup und verteidigen Ihren Anspruch eisern.

Die Brücke gleicht inzwischen mehr einer kleinen Festung. Auf dem Container befinden sich dabei überdachte Wachposten und Geschützstellungen, und für die Fahrt über die Brücke muss man durch den Container selbst fahren, dessen Tore sich nur öffnen, wenn Geld oder andere Tauschwaren fließen. Dabei sind die Preise moderat und wer gut mit den Trollen steht, kann schon für wenige Tüten Lakritz einen Monatspass erwerben – die Trolle stehen kurioserweise auf das Zeug. Wer es sich mit ihnen verscherzt, muss wohl oder übel einen schmerzhaften Umweg in Kauf nehmen.

Um die Brücke herum hat sich über die Jahre ein kleine Siedlung gebildet, und die Trolle um ihren aktuellen Anführer Slack, die sich selbst die Stonebridge Trolls nennen, hausen dort größtenteils. Sie bieten neben einer sicheren Passage noch eine Reihe weiterer Dienste an. Zum Beispiel gibt es eine gut ausgebaute Werkstatt am Nordende der Brücke, in der man Werkzeug, Ersatzteile oder Hilfe kaufen kann. Gegen gutes Geld kann man hier auch für eine Nacht oder zwei einen halbwegs sicheren Unterschlupf finden. Wer selbst über keinen fahrbaren Untersatz oder eine benötigte Ortskenntnis verfügt, kann sich einem der Fahrer der Trolle anvertrauen. Deren Fahrzeuge wurden für das raue Gelände der schwierigeren Gegenden von Puyallup angepasst und haben in der Regel ausreichend Platz für Passagiere und Fracht. Schlussendlich sind Slacks Leute auch immer mal für Aufgaben zu mieten, bei denen Muskeln und Gewalt eine Rolle spielen. Und wer Ärger macht, landet auf dem alten Friedhof südlich der Brücke, den des Nachts nicht einmal die Trolle zu betreten wagen. Wer dort landet, verschwindet für immer …

Der Magierturm

Westlich des Lake Union in Central Downtown liegt der Volunteer Park, eingerahmt zwischen dem Neubaugebiet im Norden und Westen und den alten Einfamilienhäusern im Süden und Osten. Während der Park früher größer und dichter bewachsen war, ist sein naturnaher Zauber längst dem Geldmangel in den öffentlichen Kassen gewichen. Einzig um den alten Wasserturm im Süden findet sich noch dichtes Grün.

Nachdem das alte, auf einer Anhöhe stehende Denkmal über die Jahre verfiel, ist es vor einiger Zeit aufgekauft und renoviert worden. Gleichzeitig wurde der Bewuchs rundherum erneuert und wirkt dabei so dicht, dass man nur schwer einen Zugang zu dem Gebäude findet. Wer den versteckten Aufstieg zum Turm entdeckt, hat damit Zugang zu einem großen Taliskrämer und Esoterikgeschäft, das im Erdgeschoss eingerichtet wurde und sich hinter fensterlosen Wänden und einer schweren, nicht beschilderten Eingangstür verbirgt.

Das Geschäft wird von einem alten Mann und einer Reihe von Jugendlichen geführt, die die Kunden höflich aber ziemlich wortkarg bedienen. Wer sich länger in dem Geschäft umsieht, wird feststellen, dass die jungen Angestellten die Objekte auf den Tischen oder in den Regalen der verwinkelten Gänge selbst zu studieren scheinen, sich manchmal mit altertümlich wirkenden Schreibblöcken und Stiften um eines versammeln und angeregt miteinander flüstern – alles unter den wachsamen Augen des Inhabers.

Bei dem Inhaber handelt es sich Gerüchten nach um einen studierten Magier, der sich nicht nur mit einem Geschäft selbstständig gemacht hat, sondern auch vielversprechende junge Straßenkinder aus der Gegend unter seine Obhut nimmt und in die Kunst der Magie oder Artefaktkunde einweist. Den älteren und talentierteren unter ihnen bietet er sogar ein Obdach in einer der oberen Etagen an, die ansonsten niemand zu sehen bekommt.

Es soll gerade in jüngerer Vergangenheit verschiedentlich Versuche von Einbrechern gegeben haben, in den alten Turm einzudringen, um besondere Dinge aus ihm zu bergen. Im obersten Stockwerk sollen zum Beispiel die Wohnung und das Labor des Magier sein und in der lokalen Unterwelt heißt es, es lagerten dort mächtige Artefakte. Augenzeugen nach soll es den potentiellen Einbrechern aber bisher nicht gelungen sein, ins Innere des Turmes vorzudringen. Diejenigen, die mit ihrem Leben davonkamen, berichteten von Fallen, belebten Gegenständen und bissigen Crittern.

Flair und mehr

Zwar sind diese Ideen allesamt in Seattle angesiedelt, lassen sich aber sicherlich mit nur wenig Aufwand in jede andere Gegend transferieren. Oder man greift die Ideen dahinter auf und setzt sie in weitere Orte und Szenarien um, in denen das Fantasy-Flair in Shadowrun ausgebaut werden soll. Und es gibt sicherlich noch eine ganze Reihe von archetypischen Fantasy-Locations, die sich in Shadowrun längst wiederfinden oder ohne viel Aufwand einbetten lassen (wie z.B. die Burg).

Artikelbild: Shadowrun von Pegasus Spiele


 

Logo_RSPKarneval_500pxDie­ser Arti­kel ent­stand im Rah­men des Kar­ne­vals der Rol­len­spiel­blogs und –web­sites „Orte und Locations“, der von Richtig Spielleiten! orga­ni­siert wird. Den eröff­nen­den Bei­trag zum Umzug fin­det man hier. Die Koor­di­na­tion fin­det aus dem RSP-Blogs-Forum her­aus statt.

 

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