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Sind wir mal so ehrlich wie ein Vulkanier: Das deutsche Science-Fiction-Rollenspiel Ultima Ratio hatte einen schwierigen Start. Das Grundregelwerk, Ultima Ratio – Im Schatten von MUTTER, konnte uns Teilzeithelden letztes Jahr nicht überzeugen. Das lag weniger am unfreiwillig komischen Titel oder der eigenwilligen W4-Würfelmechanik, als am vollständigen Fehlen eines Hintergrundes. „Das Grundregelwerk ist offenbar ein reines Regelwerk und kein Settingbuch, Jim.“ Wer etwas über das Themis Rho Cluster wissen möchte und darüber, worum es bei diesem Rollenspiel eigentlich geht, soll wohl zum komplementären Kolonie-Handbuch Auda greifen. Das haben wir getan und dem Spiel eine zweite Chance gegeben. Aber entführt das Kolonie-Handbuch nun in unbekannte Weiten, oder doch nur in wohlvertraute Weltraum-Klischees? Findet es mit uns heraus: „Energie!“

Der Inhalt

Zunächst eine Enttäuschung vorweg: Kolonie-Handbuch Auda bringt nicht den erhofften Überblick über den im Grundregelwerk angedeuteten Hintergrund des Rollenspiels. Stattdessen konzentriert sich der Quellenband auf eine einzige Kolonie des Sternenreiches. Da man Auda nur schwer ohne Kontext verstehen kann, dieser sich aber teilweise zwischen den Zeilen der Koloniebeschreibung verbirgt, haben wir uns folgende Informationen zusammengereimt und stellen sie jetzt zum besseren Verständnis an den Anfang:

Das Setting von Ultima Ratio

Ultima Ratio spielt im Themis Rho Cluster, einem von Menschen besiedelten Raumquadranten. Diese kamen vor fünfhundert Jahren mit Generationenschiffen hier an und begannen mit der – für unsere Spezies so typischen – Eroberung und Ausbeutung der Ressourcen. Zufälligerweise trafen sie auf genetisch kompatible Eingeborene, die Mari, mit denen sie zum Lukeanischen Reich verschmolzen. Dieses erinnert an eine Konzernokratie aus Der Wolkenatlas: Der Bürger wird per „Kreditlevel“ eingestuft und von der „allwissenden, Künstlichen Intelligenz MUTTER“ überwacht. Wirtschaftlichkeit ist dabei oberste Maxime der Weltraum-Gesellschaft. Diese umfasst auch eine Handvoll Alien-Spezies sowie die künstlichen Humanoiden der „Genesis“.

Natürlich ist nicht alles gut im Sternenreich. Bereits vor hundert Jahren lieferten sich Lukeaner mit dem Nishzrra-Kollektiv den „großen Krieg“. Dieser endete in einem Waffenstillstand und der Gründung der Konföderation, welche heute der ärgste Widersacher des Lukeanischen Reiches ist. Kurz darauf probte die Kolonie Auda den Aufstand und wurde in einem blutigen Unabhängigkeitskrieg befriedet. Dann gibt es noch unabhängige, „blockfreie Welten“, die Reich und Konföderation in einem interstellaren Weltenrat gegeneinander ausspielen. Der Ressourcenhunger der Megakonzerne treibt das Lukeanische Reich aber zur Expansion. Der Frieden im Sektor ist also brüchig.

Zurück zu Auda …

Die Koloniewurde im Unabhängigkeitskrieg vor 100 Jahren fast vollständig zerstört und hat noch immer nicht alle Freiheiten zurückgewonnen. Zur Überwachung wurde die künstliche Intelligenz WÄCHTER installiert, deren Einfluss sich aber auf die großen Städte beschränkt. Das macht Auda zu einem Anlaufpunkt für Verbrecher, Glücksritter, Freiheitskämpfer und einem Auffangbecken für Bürger mit niedrigem Kreditlevel. Dank der Weltenrat-Station im Orbit ist die Kolonie aber nicht isoliert, sondern wichtig für die interstellare Politik.

Auf 40 Seiten gibt das Kolonie-Handbuch einen soliden Überblick über den Planeten. Zum Beispiel sind das politische System und die Überwachung durch WÄCHTER durchlässig: Mehrere Freistädte und Regionalbezirke ringen um Zuständigkeiten. Siedlungsbezirke der Alien-Völker führen zu brodelnder Multikulturalität und auf dem Land tobt der fortgesetzte Freiheitskrieg der Wahren Audaner. Das Kolonie-Handbuch geht dabei einerseits teilweise stark ins Detail und schildert Einreisebestimmungen, Transportwege, Militärstrukturen, besondere Jahresevents, einheimische Krankheiten und sogar die Regeln des beliebten Kartenspiels „Restabatser“. Andererseits bleiben viele Orte, Personen und Organisationen kaum mehr als oberflächliche Stichworte.

Phoenix, die Hauptstadt von Auda
Phoenix, die Hauptstadt von Auda

Das sieht nach Ärger aus. Das Außenteam soll vorsichtig sein.“

An manchen Stellen von Kolonie-Handbuch Auda merkt man durchaus eine längere Entwicklungszeit in stimmigen Designentscheidungen: So ist die Landschaft außerhalb der Städte noch vom Bombardement am Ende des verlorenen Unabhängigkeitskrieges geprägt. Ruinenwüsten und Strahlung bilden einen Endzeit-Kontrast und führen die fortgesetzte Unterdrückung durch das Lukeanische Reich vor Augen. Auch politische Details, etwa die Unterstützung der Spartaner-Sicherheitstruppen für die Autonomie, sind nette Wendungen und lassen die Kolonie lebendig wirken.

Auch enthält das Kolonie-Handbuch Auda einige Abenteuer-Ideen für Ultima Ratio in Form von vier kurz angerissenen Mini-Kampagnen: In „Kammerjäger“ kämpfen die Spielercharaktere als Volkshelden, begleitet vom Reality-TV, gegen die einheimische Flora und Fauna. In „Jones!!!“ suchen die Charaktere in verlassenen Ruinenstädten nach alten Artefakten. „Auda jetzt!“ dreht sich um den Widerstand gegen WÄCHTER, während „Für eine Handvoll Rke“ die Spielercharaktere zu Kopfgeldjägern macht, die auf der Seite der Autoritäten nach Verbrechern jagen. Das passt gut zum Sandbox-artigen Aufbau der Kolonie und wird durch eine Liste generischer NSC mit Werten im Anhang ergänzt. Offenbar spielt man in Ultima Ratio, was man eben möchte und was in die Kampagne passt. Als Spielleiter wäre mir eine etwas engere Spielvorgabe mit mehr Profil oder eine detaillierter ausgearbeitete Kampagne als Beispiel lieber gewesen.

Dazu muss man wohl schon einen Humor-Chip besitzen, um einige Namen des Settings zu ertragen: „Regionalbezirk Finsterwalde“ oder „Freistadt Hohenhecke“ passen nur schwer in ein ernstes Science-Fiction-Setting. Absoluter Namensgebungs-Tiefpunkt ist das SM-Tanzbar-Bordell „Die Möse“, betrieben von „Bombastius ‚Der Aal‘ Allrich“, mit den Events „offene Möse“ und „böse Möse“. Autsch. Schnell wegbeamen.

Die Insekten kommen: Riszxlik als neue Rasse

Als regeltechnische Erweiterung zu Ultima Ratio – Im Schatten von MUTTER bietet Kolonie-Handbuch Auda eine Handvoll neuer Ausrüstung und Waffen. Deutlich interessanter ist die neue spielbare Spezies mit unaussprechlichem Namen: die Riszxlik sind insektoide Aliens mit Exoskelett und Facettenaugen, die auch Duft zur Kommunikation einsetzen und ätzenden Speichel spucken können. Spielercharaktere können sich als Riszxlik per Spezieskraft ins „Kollektiv-Bewusstsein“ einklinken und statt einer Fertigkeit einfach die Spezieskraft-Stufe benutzen. Das hat nur einen Haken: Der Charakter braucht dazu die Nähe zum Kollektiv, immerhin noch 250 Meter auf Stufe vier – damit sind Riszxlik auf niedrigen Stufen der Spielleiterwillkür ausgeliefert („Ist da gerade ein anderer meiner Art? Kann ich mich einklinken?“). Was das Leben im Drohnenstaat ausmacht, wie die Riszxlik an ihre Allianz mit dem Lukeanischen Imperium gekommen sind, wie diese genau aussieht und welche kulturellen Besonderheiten die insektoiden Aliens besitzen, wird im Kolonie-Handbuch leider nicht geklärt. Auch schade: Die Genesis, die vielleicht interessanteste Spezies von Ultima Ratio, sind auf Auda so gut wie nicht vertreten.

Riszxlik, insektoide Aliens aus einem Drohnenstaat, sind Alliierte des Lukeanischen Reiches –aber warum eigentlich?
Riszxlik, insektoide Aliens aus einem Drohnenstaat, sind Alliierte des Lukeanischen Reiches –aber warum eigentlich?

Wir haben ein Problem mit der Spielwelt, Captain!“

Das größte Ärgernis am Kolonie-Handbuch Auda ist, dass es nur einen Ausschnitt des Settings zeigt und nicht den notwendigen Überblick über die Spielwelt von Ultima Ratio gibt. Wer sich nach dem Grundregelwerk nun das Kolonie-Handbuch zulegt, um endlich ein vollständiges Rollenspiel aus Regeln und Setting zu haben, wird enttäuscht, muss zwischen den Zeilen nach wichtigen Informationen suchen und an vielen Stellen improvisieren. Was genau ist etwa der Unterschied zwischen Spartanern, Ruvenachtern und Liberterianern? Was sind das für Spezies (Raloosa, LaíNaeren und Kjî), die als Population in jeder Stadt auf Auda erwähnt werden, aber nicht einmal eine Kurzbeschreibung erhalten? Wie gefährlich ist das Nishzrra-Kollektiv aktuell, das ja immerhin eine Flotte nahe Auda stationiert hat? Wie waren die Bedingungen des Waffenstillstandes im großen Krieg? Welche Rechte hat der Weltenrat im Orbit des Planeten? Woher kamen überhaupt die Menschen des Sektors und was ist mit der Erde passiert? – und so weiter. Dieses Wissen sollte jedes Außenteam auf Auda haben aber genau dieses Wissen enthält Ultima Ratio Spielern und Spielleitern vor.

Das ist schade, denn die Ansätze des Settings, Zusammenspiel zwischen unterdrückter multi-kulti Rebellen-Kolonie, politisch bedeutsamer Weltenrat-Station und nahegelegenem Außenposten der Konföderation, sind nicht uninteressant – wenngleich ein Großteil davon als Versatzstücke aus Science-Fiction-Büchern, -Serien und -Filmen vertraut wirkt. So wirkt Kolonie-Handbuch Auda wie eine Erweiterung zu einem Setting, das es niemals gab und lässt den Leser mit mehr Fragen als Antworten zurück.

Preis-/Leistungsverhältnis

Für 9,95 EUR erhält man mit dem Kolonie-Handbuch Auda eine Science-Fiction-Sandbox. Kolonie-Handbuch Auda und Ultima Ratio – Im Schatten von Mutter, zusammen zu einem Preis von immerhin 20 EUR, sind aber kein vollständiges Setting, sondern scheinbar nur der Anfang einer sich durch immer mehr Quellenbücher erschließenden und aktuell unfertigen Rollenspielwelt. Für dieses Jahr sind immerhin das Handbuch: Das Lukeanische Reich und Handbuch: Raumer-Handbuch als Erweiterungen angekündigt. Die Ferengi hätten wohl Gefallen an dem gestückelten Verkaufs-Konzept, für den Leser ist es eher von Nachteil.

Erscheinungsbild

Ultima Ratio Auda CoverWie bereits bei Ultima Ratio – im Schatten von MUTTER ist das Layout des Kolonie-Handbuchs professionell gemacht. Die Bilder stammen von iStockphoto, sind hübsch und passen zum Setting. Dem PDF fehlen leider Verlinkungen und ein solider Index, was die Benutzung erschwert.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Heinrich Tüffers Verlag
  • Autor(en): Nikolas Tsamourtzis
  • Erscheinungsjahr: 2014
  • Sprache: Deutsch
  • Format: PDF, Broschüre
  • Seitenanzahl: 40
  • ISBN: 978-3941340046
  • Preis: 9,95 EUR
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG, Amazon

 

Fazit

Das Kolonie-Handbuch Auda trägt einige Informationen über die Hintergrundwelt von Ultima Ratio nach und bietet eine neue spielbare Spezies. Erst mit dem Kolonie-Handbuch erschießt sich langsam, was das Rollenspiel Ultima Ratio sein will: mehr leichtes Cyberpunk statt harte Science-Fiction à la Mindjammer oder Eclipse Phase. Komplexe Themen wie Transhumanismus oder Technologische Singularität werden ausgespart, Kritik an Überwachungsstaat und entgrenztem Kapitalismus sind mit dem Holzhammer im Setting verankert. Das ist zwar zeitaktuell, aber wer das innovativ findet, hat wohl die letzten 50 Jahre Science-Fiction in Kryostase verschlafen.

Als Sandbox funktioniert Kolonie-Handbuch Auda durchaus, nur bietet es nicht den erwarteten und nötigen Hintergrund-Überblick für Ultima Ratio. Wer die Kolonie dazu mit einer aufgeweckten Spielrunde erkundet, muss häufig improvisieren und als Spielleiter einige Mehrarbeit hineinstecken – oder eben Nachfragen ignorieren und auf erhellendere Quellenbände warten. Dafür gibt es trotz netter Ansätze einen Abzug bei der Wertung.

Persönliche Anmerkung: Ich empfehle dem Verlag ein ausführliches Wiki zu Ultima Ratio anzulegen und dort die wichtigsten Informationen über die Spielwelt verfügbar zu machen. Aktuell wird durch das gestückelte Publikations-Verhalten vorhandenes Potential verschenkt, Sci-Fi-Fans für sich zu gewinnen.

Daumen3maennlich

Artikelbilder: Heinrich Tüffers Verlag

 

7 Kommentare

  1. Fairerweise muss man sagen, dass Ultima Ration nicht das erste RPG ist, welches Setting und Regeln trennt (D&D) und ein fokussiertes Setting a la Point of Light ist vermutlich noch das beste an D&D 4.

    Formulierungen wie „Das Grund­re­gel­werk, Ultima Ratio – Im Schat­ten von MUT­TER, konnte uns Teil­zeit­hel­den letz­tes Jahr nicht über­zeu­gen.“ Wie jetzt? Hatten das alle rdakteure in der Hand und hatten die gleiche Meinung? Ich vermute mal eher, dass es Dich nicht überzeigte? (oder den damaligen Rezensenten?)

    Mir steckt hier in der Rezi ein Stück zuviel, „ich hätte erwartet, dass es so und so ist.“ drin und weil es so nicht ist, eine unnötige Abwertung. Z.B. ist es ja völlig OKay, wenn Du ausgeführte Kampagnen lieber magst, aber völlig irrelevant – wenn sich die Schreiber hier zu Minikampagnen entschlossen haben, ist es doch viel wichtiger, wie Du die qualitativ einschätzt.

    Oder die aktuell unfertige Rollenspielwelt? Ist eine Rollenspielwelt dadurch „fertig“, wenn es einen Weltenübersichtsband gibt – eher nicht. Das ist eine andere Herangehensweise an ein Setting, auch hier ist es OKay zu erfahren, dass Du diese nicht magst – trotzdem ist es wichtiger zu erfahren, ob sie diesen Ansatz gut oder schlecht machen.

    Zwischen den Zeilen klingt es für mich so, als wäre das Produkt für das was es will, eigentlich ziemlich gut.

    Kurzum, die Rezi weckt mein Interesse und für 10 bzw. 20 Euro schaue ich gern selbst mal rein.

    (Und, ich hoffe, ich hab jetzt nicht zuviel an der Rezi rumgemäkelt, ich bin trotzdem froh, sie gelesen zu haben und es hilft mir auch bei meiner Meinungsbildung.)

    • Aber nicht doch. Ich freue mich über dein Feedback. Tatsächlich haben sich mehrere Teilzeithelden (aber natürlich nicht alle) das Grundregelwerk angeschaut und kamen zu einem ähnlichen Ergebnis. Und auch die Trennung von Setting und Regelwerk ist durchaus in anderen Rollenspielen gegeben, nur halt eben sehr selten im Indie-Bereich (vgl. Malmsturm, Fate). Wenn ich allerdings ein fokussiertes Setting in der Hand habe und mich auf jeder Seite zweimal frage „Was ist das überhaupt?“, dann läuft etwas schief in der Informationsvermittlung, auch als fokussierter Settingband. Das ist dann auch im eigenen Ansatz eben nicht „ziemlich gut“, sondern durch entstehende Unsicherheit und Mehrarbeit für den Spielleiter eher „ärgerlich mit guten Ansätzen“. :)

    • sry aber wenn ich nen rpg für 20€ kaufe, dann erwarte ich 2015 nen setting mit dem ich als SL hantieren kann, keine fortsetzungsstory. Das können sich D&D und DSA leisten, ein neues Indierpg eben nicht. rassen die erwähnt werden und damit angespielt werden können, ohne eine beschreibung? und was mach ich, wenn ich die als sl dann ausgedacht habe und im nächsten band was anderes steht? murks.

  2. @Dirk: Na, freut mich, wollte ja auch nicht nur miesepetrig daherkommen.

    @Mark: Es git nunmal unterschiedliche Geschmäcker und wenn jedes Indyspiel es gleich machen würde, bräuchte man nicht so viel von den Dingern. Ich bekome lieber etwas angeteasert als ein 1000-Seiten-Komplett-Brikett.

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