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In meiner Kolumne „Die Letzte Seite“ möchte ich in regelmäßigen Abständen Schlaglichter auf Phantastik und Co werfen. Heute befasse ich mich mit dem Tod von liebgewonnenen Protagonisten und warum er uns emotional so aufwühlt.

Jedem wird es im Gedächtnis geblieben sein: das Massaker der Red Wedding, in der Haus Stark fast vollständig aus der Geschichte getilgt wurde. Oder die Hinrichtung von Ned Stark, die schon viel früher stattfand. Oder der Tod von so vielen anderen Protagonisten, die mit Haus Stark verbandelt waren. Jetzt könnte man sich darüber auslassen, dass Martin es in seinen Büchern vor allem auf die Starks abgesehen hat, aber der Tod ist in Das Lied von Eis und Feuer so allgegenwärtig, dass es ein falscher Schluss wäre. Martin hat im Gegensatz zu vielen der anderen Autoren in seinem Genre nur die Angewohnheit, dass der Tod eben auch mal „die Falschen“ – also die Protagonisten, die wir lieben – trifft.

Tote überall!

Denn wenn wir ehrlich sind, dann stört es uns wenig, wenn es Tote in egal welcher Geschichte gibt. Wir freuen uns sogar darüber, wenn es den Antagonisten erwischt, wenn ihn endlich seine gerechte Strafe trifft. Schlägt das Schicksal dann aber in die andere Richtung und lässt von einem lieb gewonnen Protagonisten kaum mehr als einen blutigen Haufen zurück, dann haben wir ein Problem damit. Vor allem dann, wenn wir glauben, sein Tod sei vermeidbar gewesen, sei willkürlich und ohne Würde passiert.

Das ist eine Frage der Identifikation. Unser Held soll, wenn er denn stirbt, auch für eine höhere Sache sterben. Am besten aber soll er natürlich gar nicht sterben. Wir lieben das „Prinzip Hoffnung“, wir lieben „Happy Endings“. Das ist so weit nachvollziehbar, denn in der Welt dort draußen gibt es genug Ungerechtigkeit, genug Übel und genug Hoffnungslosigkeit, die wir nicht auch noch in voller Farbe vor uns ausgebreitet sehen wollen, wenn wir Bücher lesen. Wer will denn schon mittels Büchern der wahren Welt entfliehen, nur um dann an einen Ort zu gelangen, an dem es nicht viel besser ist? Eben. Unser Held darf sich unter bestimmten Umständen opfern – aber wenn unsere Identifikation hoch genug ist, haben wir auch damit ein Problem.

Es ist also schon ein bisschen schizophren. Während wir bei Antagonisten ihren Tod hinnehmen und uns darüber freuen, keine Miene verziehen, wenn namenlose Wachen, Nebencharaktere oder Kanonenfutter, wer auch immer, über die Klinge springen, ärgert es uns ganz erheblich, wenn es einem Protagonisten passiert. Dabei geht es im Grunde um das Ein und Dasselbe: Den Tod, der nun einmal allgegenwärtig ist.

Aber: Es sind doch Helden!

Die Frage bleibt aber, wollen wir davon lesen? Immerhin handelt es sich bei den Protagonisten der meisten Bücher doch um Helden, mindestens aber um mehr oder minder sympathische Identifikationsfiguren. Es steht ihnen doch nicht zu Gesicht, wenn sie wie jeder andere in der Welt einfach so das Zeitliche segnen können! Bei ihnen muss es doch anders sein, sie sind doch etwas Besonderes!

Hier ist wieder so ein Punkt. Wir wünschen uns realistische Charaktere, realistische Welten – verlangen aber gleich eine Ausnahme, wenn es um unsere lieben Protagonisten geht. Natürlich darf unser Protagonist reihenweise „Böse“ dahinschlachten, aber wenn es ihm selbst an den Kragen geht – dann ist er doch ein Held, dann muss es doch anders sein!

Die Wahrheit ist: Ich habe entweder das eine oder das andere. Entweder habe ich eine realistische Welt, die nach dem Schema von Aktion und Reaktion funktioniert, in der Protagonisten auch mit den Konsequenzen ihrer Taten konfrontiert werden und damit umgehen müssen. Oder ich habe eine Welt, in der sie Helden sind und von „einfachen“ Gefahren nicht berührt werden können. Einige Autoren versuchen immer einen Spagat dazwischen, aber auch hier hilft Ehrlichkeit. Bei Buchreihen wie Harry Potter, John Sinclair oder Harry Dresden komme ich als Leser gar nicht in Gefahr, um meinen Protagonisten zu bangen. Denn er ist doch namensgebend für eine ganze Reihe. Ihm wird bis zum letzten Band ganz sicher nichts Tödliches passieren. Auch diese Reihen sind spannend zu lesen, daran besteht kein Zweifel, aber sie haben eben eine ganz spezielle Form der Immunität für ihre Helden. Das kann man mögen – muss man aber nicht.

Persönlich finde ich die andere Herangehensweise viel spannender. Alles was ein Protagonist tut, wird Konsequenzen haben, auf jede Aktion folgt eine Reaktion. Und die kann durchaus im Tod enden. Diese drastischste Form der Entgleisung zeigt mir als Leser doch, dass es eben kein Gefälle in der Welt gibt, dass vor dem Tod alle gleich sind. Sie zeigt mir, dass kein Mensch unfehlbar ist und dass Fehler und Fehleinschätzungen mitunter das Ende bedeuten können. Dies geht auf den ersten Blick nicht so sehr mit dem oben erwähnten „Prinzip Hoffnung“ zusammen. Auf den zweiten Blick schon – nämlich immer dann, wenn es dem Autor gelingt, dem Tod eines Charakters einen Sinn zu geben, auch wenn der sich uns erst später erschließt. Und selbst wenn es uns nicht gelingen will, einen messbaren Sinn hinter dem Tod unseres Lieblingsprotagonisten zu finden, für eines ist es jedoch sehr gut: Unser Hass auf den oder die Antagonisten wird geschürt – und das Buch wird vielleicht dann spannend für uns, weil wir endlich die Genugtuung haben wollen, dass der Antagonist über die Klippe geht. Dann hingegen sind wir schon beim „Prinzip Rache“ – und auch das kann Spaß machen.

Drama, Baby!

Ich habe davon gehört, wie Leute das oben genannte Werk von Martin beim Tod von Ned Stark durch die Bude geschmissen haben und seitdem nie wieder etwas von ihm angerührt haben. Jeder kann nachlesen, mit welchen Shitstorms der Autor übergossen wurde, als die rote Hochzeit endlich verfilmt wurde. Das sind harte Reaktionen, aber sie zeigen: Das, was der Autor geschrieben hat, hat uns berührt. Und da bin ich ehrlich, für einen Autor gibt es nichts Schöneres, als in das Herz seiner Leser vorzudringen. Martin dringt gerne in unser Herz vor und rammt uns regelmäßig Dolche hinein, aber gut – das Prinzip bleibt ja gleich.

All das zeigt aber, wozu tote Protagonisten gut sind: Sie erzeugen Drama. Sie fesseln uns an die Geschichte, sorgen aber ganz sicher dafür, dass wir uns mehr damit auseinandersetzen. Zumindest stärker als vorher.

Darüber hinaus kann ein toter Protagonist, so lieb wir ihn auch gewonnen haben, auch ein erlösendes Signal sein. Denn entgegen aller übermenschlichen Heldentaten, gegenüber aller Charakterstärke, die er im Gegensatz zu uns begangen hat oder über die er verfügt, ist er doch nur ein Sterblicher wie du und ich. Das kann einen nachdenklich und traurig machen, aber es erdet. Es holt uns mutmaßlich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und es sorgt dafür, dass wir uns neben unserem Protagonisten nicht klein vorkommen.

Ein gut gesetzter, sterbender Protagonist kann sich als Raketentreibstoff für eine Geschichte entwickeln, immer vorausgesetzt, wir haben das Gefühl, dass er nicht sinnlos verreckt ist. Dass es seine Überzeugungen, seine Ideale waren, die ihn das Leben gekostet haben. Oder dass sein Opfer für Freunde, für ein höheres Wohl war. Das heißt nicht, dass uns ein Verstorbener dann gefallen muss, denn es ist zugegebenermaßen schwer, von einem geistig gesunden Menschen zu verlangen, den Tod gut zu finden.

Aber es ist das gleiche Schema wie in der realen Welt auch. Wir sind im ersten Moment aufgebracht, traurig und wütend, aber nach und nach gelingt es uns, die Ereignisse einzuordnen. Wir verstehen, warum etwas passiert ist und kommen vielleicht auch an den Punkt, es nachzuvollziehen. Und am Ende schlagen wir das Buch zu und haben das Gefühl, eine grandiose Geschichte gelesen zu haben.

Dann hat der Autor alles richtig gemacht. Dann war es nicht falsch, unsere lieb gewonnenen Charaktere zu töten, dann war es folgerichtig.

Höherer Bodycount

Ich selbst nutze in meinen Büchern gerne das oben erwähnte „Prinzip Hoffnung“, aber ich nutze auch gerne tote Protagonisten. Für mich ist es die Mischung aus beiden Faktoren, die eine spannende Geschichte ausmacht.

Ich kann jeden Autor verstehen, dem es schwerfällt, seine Charaktere – seine Babys – über die Klinge springen zu lassen. Mir selbst ist es an einigen Stellen so gegangen. Das sind Momente, die einen auch als Schreiber treffen und bewegen können. Doch bisher habe ich nichts davon bereut, habe keine Passage geändert und auch keinen Charakter wieder zum Leben erweckt. Denn ihre Tode haben die Geschichten rund gemacht, ihnen letztlich genau die Form gegeben, die ich haben wollte.

Am Ende des Tages geht es nämlich darum, ob ein Buch gut unterhalten hat. Und wenn du trotz eines toten Lieblingsprotagonisten bis zum erlösenden Ende liest, dann musst du eingestehen: Es hat unterhalten. Und das vielleicht sogar aufgrund der toten Protagonisten.

Artikelbild: Game of Thrones – HBO

 

4 Kommentare

  1. *klatscht Applaus* Danke. Ich finde, man kann hier auch die Brücke zum Rollenspiel schlagen und tote Charaktere im P&P, Live, LARP, woauchimmer anführen, aber das Fass mach ich jetzt mal nicht auf… oh, oder doch? :)

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