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Vampire Live ist nicht für seine ansagenlosen Regelwerke bekannt, ganz im Gegenteil. Beinahe jede Disziplin geht mit OT Ansagen einher, seien es Schadensarten und –werte oder Angaben darüber, welche vampirische Fähigkeit wie mächtig eingesetzt wurde. Klassische Beispiele sind: „Dominate x, tue dies und das und jenes“ oder „Dreimal sechs, dreimal sechs“ im Kampf.

Es geht aber auch anders: In der Katharsis-Chronik wurde ein Regelwerk umgesetzt, das vollständig ohne Ansagen im Spiel auskommt. Durch das Streichen sämtlicher OT-Ansagen werden Störungen im Spielfluss vermieden, die sonst entstehen würden, so dass jeder sich intensiver auf das Geschehen einlassen kann. Der Schritt von den vertrauten Regelwerken mit Ansagen hin zu diesem neuen Ansatz mag groß sein, lohnt aber in jedem Fall einen Versuch.

Drei Erkenntnisse über Regelwerke

Die Diskussionen um das Für und Wider eines ansagenlosen Regelwerks haben mir einige sehr grundlegende Dinge über Regelwerke im LARP deutlich gemacht:

Das perfekte Regelwerk gibt es nicht

Zumindest mir ist bisher noch nie ein Regelwerk untergekommen, das alle Spieler glücklich macht. Diesen Anspruch kann kein Regelwerk erfüllen, dazu sind die Vorstellungen und Ansprüche zu verschieden. Auch dieses ansagenlose Regelwerk ist da keine Ausnahme.

Jede Gruppe und Chronik muss für sich die Lösung finden, mit der die eigene Spielphilosophie am besten wiedergegeben wird. Und auch dann ist ein Regelwerk meist ein Kompromiss aus den verschiedenen Wünschen, mit dem im Idealfall möglichst viele einverstanden sind und spielen wollen.

Kein Regelwerk kann Rollenspiel erzwingen

Egal, wie überzeugend und eindeutig im Regelwerk beschrieben ist, weshalb ein Charakter in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Art und Weise reagieren muss – kein Regelwerk der Welt kann diese Reaktion erzwingen, wenn der Spieler sie nicht spielen will. Es macht deshalb mehr Sinn, ein Regelwerk zu erschaffen, das intensives Rollenspiel erleichtert und damit die Spieler fördert, die sich ausleben wollen, als zu versuchen diejenigen zu Reaktionen zu zwingen, die keine Lust auf die Darstellung dieser Reaktionen haben.

Wer schummeln will, wird schummeln

Es wird immer die schwarzen Schafe geben, die sich in Kämpfen stets großzügig zu ihren Gunsten verrechnen oder auf geistige Angriffe eher bescheiden bis gar nicht reagieren. Solchen Spielern begegnet man in jedem LARP-Genre. Der Versuch, jegliche Schummelei durch geschickte Regelformulierungen zu verhindern, artet schnell in bürokratischen Regelmonstern aus, die kein Mensch mehr lesen will. Erfolgreich unterbinden kann man Betrügereien damit trotzdem nicht. In solchen Fällen sind Gespräche mit der zuständigen Spielleitung wesentlich zielführender.

Die Schwierigkeit in Vampire Live Regelwerken: Übernatürliche Fähigkeiten

„Normale“ Fähigkeiten wie Diplomatie brauchen keinen Wert und keine Ansage, um dargestellt zu werden. Entweder der Spieler beherrscht sie oder nicht, und abhängig davon wie gut er seinen Job macht, ist sein Erfolg größer oder kleiner.

Schwierig wird es bei übernatürlichen Fähigkeiten, die ein Mensch schlichtweg nicht kann: Damit mein Mitspieler erkennt, dass ich gerade seine Gedanken lesen will, muss ich ihm verständlich machen, dass ich eine übernatürliche Fähigkeit anwende. Jede vampirische Disziplin ist eine übernatürliche Fähigkeit, deshalb ist man beim Vampire Live sehr oft mit diesem Problem konfrontiert. Um solche Fähigkeiten im Spiel einzusetzen braucht es Zeichen oder Ansagen, denn nicht jeder Darsteller ist ein sehr guter Schauspieler und nicht jedes Opfer ist gut darin, Körpersprache zu lesen. Sich auf das reine Spiel zu verlassen, birgt deshalb das Risiko von Missverständnissen, insbesondere wenn zwei Spieler sich nicht gut kennen.

Ansagen: Pro und Contra

Ansagen haben den Vorteil, dass sehr komplexe Systeme abgebildet werden können. Ein Beispiel sind verschiedene Machtstufen und Eindeutigkeit. Ein ungeübter Vampir ist nicht so gut darin, die Erinnerungen anderer zu manipulieren und kann nur einen niedrigen Zahlenwert ansagen, während ein Meister dieser Fähigkeit einen deutlich höheren Zahlenwert hat.

Der Nachteil ist, dass jede dieser Ansagen ein OT-Element ist, das den Spielfluss unterbricht. Denn nur der Spieler, nicht aber der Vampir, kommentiert jeden Schwertschlag mit einem Schadenswert oder einen Flirt mit der Ansage „Presence 3, Charisma x, du verliebst dich in mich“. Auch wer mithilfe von Auspex, der Fähigkeit Gedanken und Gefühle eines anderen zu lesen, seinen Mitspieler OT befragt, kennt dieses Problem zur Genüge: Der Einsatz dieser Disziplin hat klassischerweise eine OT-Phase zur Folge, bis alle Fragen geklärt sind.

Zeichen: Pro und Contra

Zeichen haben den Vorteil, dass sie sichtbar sind, aber nicht verbal ins Spiel gedrängt werden. Ein solches Zeichen kann ein Knicklicht, ein farbiger Stoffstreifen am Handgelenk oder der Finger an der Schläfe sein.

Der Nachteil von Zeichen ist, dass sie nicht geeignet sind hochkomplexe Systeme umzusetzen, wenn man die Zahl der verwendeten Zeichen überschaubar halten will. Schließlich will sich niemand zehn bis fünfzehn Farbkombinationen für Stoffstreifen merken.

Wie funktioniert denn nun ansagenloses Vampire Live?

Der Grundsatz des Regelwerks war es, keine OT-Ansagen im aktiven Spiel zu haben. Dazu sollte ein schlankes, einfaches Regelwerk erschaffen werden. Der Fokus wurde auf das Wesentliche gelenkt: Das direkte Spiel.

Dazu wurden die Systeme des alten Regelwerks kritisch hinterfragt und eine Umsetzung entwickelt, die die grundlegenden Machtverhältnisse des komplexen alten Systems in das neue System übersetzt.

Der Unterschied zwischen bekannten Regelwerken mit Ansagen im Vampire Live zu diesem neuen Regelwerk ist groß. Es wurde sehr viel Zeit darauf verwendet, dieses ansagenlose Regelwerk auszuarbeiten. In einem Regelwerk und insbesondere einem Übersichtsartikel wie diesem können die Gedankengänge hinter den Regeln nur angerissen werden. Wer mehr über das ansagenlose Spiel im Vampire Live erfahren will, schnuppert am besten einmal ins Spiel und probiert es aus. Im Gespräch mit einer SL können dann die letzten Fragen ausführlich geklärt werden.

In vielen Bereichen war die Umstellung auf ein ansagenloses Regelwerk einfach. In einem Satz zusammengefasst spielt der Anwender, dass er seine Disziplin anwendet, und macht dies mit einem Handzeichen, dem Finger an der Schläfe, deutlich. Da viele Disziplinen auch früher aktiv ausgespielt werden mussten, wie z.B. der Flirt, um das Opfer verliebt zu machen, ist die Umstellung hier minimal. Manchmal macht eine Disziplinanwendung aber auch eine OT-Absprache zwischen mehreren Spielern nötig. In diesem Fall wurde die Disziplin so umgeschrieben, dass der Spielfluss nicht durch eine OT-Ansage gestört wird und diese Absprache z.B. in das Spiel integriert ist oder nach der Session erfolgt.

Unterschieden wird bei Disziplinanwendungen zwischen Angriffen, Wandlungen, Verborgenem und passiven Kräften.

Angriff, Wandlung, Verborgenes und passive Kräfte

Als Angriff zählen alle Disziplinanwendungen, die eine direkte Manipulation des Geistes oder der Emotionen des Opfers darstellen. Die Wirkung beginnt unmittelbar, sofern sich das Opfer nicht wehrt. Durch das Zeichen des Fingers an der Schläfe macht der Anwender dem Opfer klar, dass es Ziel einer übernatürlichen Fähigkeit ist. Was genau er vom Opfer erwartet, macht er durch seine Darstellung deutlich. Die Grundregel ist, dass das Opfer eines Angriffs immer reagieren muss. Es gilt aber auch der Opferentscheid: Der Anwender hat keinen Anspruch darauf, dass das Opfer genauso reagieren muss, wie er es geplant hat. Auch sich zu wehren kann eine Reaktion auf einen Angriff sein.

Wandlungen sind Veränderungen der Psyche oder des Körpers, die ein Vampir bei sich oder anderen verursachen kann. Diese geschehen nicht direkt im Spiel, sondern während des Tages vor oder nach einem Treffen. Manche Wandlungen, z.B. Einblicke in die Gedankenwelt des Opfers, haben die Bedingung, dass der Anwender einen intensiven Spielmoment mit dem Opfer erlebt haben muss, um sie anwenden zu können. Veränderungen des Körpers werden durch entsprechendes Make-Up dargestellt, während Einflüsse auf geistiger Ebene OT zwischen den Spielern besprochen werden.

Als Verborgenes werden die Fähigkeiten beschrieben, die es einem Vampir erlauben sich vor dem Blick anderer zu verbergen. Das Zeichen dafür ist ein Knicklicht oder die Hand auf der Brust, um die Stärke der Verdunklung anzuzeigen.

Passive Kräfte sind solche, die nur den Anwender betreffen, z.B. die Fähigkeit, Treffer zu ignorieren oder sich besser gegen spezielle geistige Angriffe wehren zu können.

Willenskraft: Gleiche Verhältnisse trotz Vereinfachung

Da Ansagen weggefallen sind, ist eine Skalierung wie mächtig ein Vampir eine Disziplin beherrscht, nicht mehr möglich. Deshalb wurde das alte System der Willenskraftpunkte geändert, von denen man, abhängig von der Macht des anderen, mehr oder weniger ausgeben musste, wenn man sich gegen seine Disziplinen wehrte.

Am Verhältnis hat sich dadurch nichts geändert: Während ein junger Vampir früher genug Willenskraftpunkte hatte, um sich einmal gegen eine Disziplin zu wehren und danach nicht mehr genug übrig blieben, um einem zweiten geistigen Angriff zu widerstehen, steht eben diesem Vampir im ansagenlosen Regelwerk einmal „wehren“ pro Nacht zu. So bleibt das Verhältnis gewahrt und gleichzeitig wurde das System verschlankt.

Poolsystem

Das ansagenlose Regelwerk der Katharsis-Chronik hat sich auch vom klassischen 1-2-3 Schema der Disziplinen gelöst, in dem man erst Stufe 1 und dann Stufe 2 einer Disziplin lernen musste, ehe man Stufe 3 bekam. Diese bekannte Hierarchie in den Disziplinen hat den Nachteil der Vorhersehbarkeit: Wenn ich weiß, dass ein Charakter eine bestimmte Stufe einer Disziplin beherrscht, weiß ich automatisch, was er mindestens noch in dieser Disziplin kann. Dies führt dazu, dass andere Charaktere leicht „ausgerechnet“ werden können. Außerdem sind Charaktere gezwungen, Fähigkeiten zu lernen, die der Spieler unpassend für den Charakter findet, nur um die gewünschte (höherstufige) Fähigkeit beherrschen zu können.

Stattdessen wird in der Katharsis-Chronik ein Poolsystem verwendet. Es wurde nicht für das ansagenlose Regelwerk erfunden, sondern an die Ansprüche der Chronik angepasst. In diesem System können die Ausprägungen einer Disziplin freier gewählt werden. Es gibt drei Ebenen oder Schwierigkeitslevel: Lehrlingskräfte, Gesellenkräfte und Meisterkräfte. Innerhalb jedes Pools sind die Kräfte gleichwertig zueinander und können unabhängig voneinander erlernt werden. Auf diese Weise werden Charaktere individueller und deutlich weniger vorhersehbar.

Um das Poolsystem in dieser Form zu ermöglichen, wurden weitere Ausprägungen von Disziplinen hinzugefügt. Dies ist natürlich innerhalb der Philosophie der jeweiligen Disziplin geschehen. So bietet Presence, eine Disziplin zur Beeinflussung der Gefühle anderer, nun auch die Möglichkeit eine starke Abneigung im Opfer hervorzurufen oder Gier auf das Blut des Anwenders entstehen zu lassen.

Kampfsystem

Auch das Kampfsystem wurde stark vereinfacht. Der Vorgänger des ansagenlosen Regelwerks hatte leider einige große Balancingprobleme. Das Ziel im ansagenlosen Regelwerk sind schöne Kämpfe, in denen bestimmte Disziplinen natürlich eine Auswirkung auf den Ausgang haben, es aber auch auf die Fähigkeiten des Kämpfers ankommt.

Um auf Schadenswerte während der Kämpfe verzichten zu können, wurde die Bandbreite des Schadens stark vereinfacht: Jeder Vampir verursacht, unabhängig von seiner Waffe, einen Punkt Schaden bei seinem Gegner. In der Disziplin Potence, der übermenschlichen Kraft der Brujah und Nosferatu, gibt es eine Ausprägung, welche es ermöglicht, mit jedem Treffer zwei Punkte Schaden zu verursachen. Dies wird durch rote Bänder an Händen oder Unterarmen deutlich gemacht. Die Anzahl der Blutpunkte, der „Trefferpunkte“ des Vampirs, wurde an diese Schadenswerte angepasst.

Fazit

Das perfekte Regelwerk wird es niemals geben. Ein ansagenloses Regelwerk, orientiert an den gut funktionierenden DKWDDK (Du kannst, was Du darstellen kannst)-Regelwerken, ist auf jeden Fall auch im Vampire Live möglich. Ein verschlanktes System erlaubt, sich auf das Spiel selbst zu konzentrieren, da es keine störenden OT-Ansagen gibt, die einen aus dem Spielfluss reißen. So kann das Spielerlebnis intensiviert werden. Ein ansagenloses System kann die Spieler motivieren, ihre Disziplinen intensiver auszuspielen und sich noch mehr auszuprobieren. Es lohnt sich auf jeden Fall, diesen Spielansatz einmal zu testen.

Artikelbild: fotolia © vladimirfloyd

2 Kommentare

  1. Mit diesem Ansatz würde Vampire Live wieder für mich spielbar. Was ich aber immer noch vermisse ist ein kollektives „Wir sind alle scheißemächtig, lasst es uns nicht raushängen lassen“. Die meisten Vampire Live Abende rühmen sich als tiefgründige Intrigenspiele, was aber spätesten um 22 Uhr zerstört wird, sobald sich alle beweisen müssen, wie mächtig ihre Rollen sind und alles in einem Disziplin-Standoff eskaliert. Ätzend. Der Einsatz von Manipulation oder sogar direkten Angriffen müsste einfach als etwas sehr fatales gehandelt werden, etwas was von der IT-Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Manipulationen könnten sogar als komplett unwirksam unter Vampiren deklariert werden, was den Fokus weg von einem Schere-Stein-Papier-„Ätsch ich bin immun“-Spiel hin zu einem echten Intrigenspiel lenken könnte. ‚Echt‘ Wäre dann, dass man sich Informationen durch geschickte Dialoge, Erpressung und Androhungen erspielen muss, dass persönliche Verhältnisse wichtiger werden als Machtverhältnisse. Und Machtverhältnisse sind genau das, was Vampire live kaputt gemacht hat: Einsteiger stehen unter dem Scheffel der ‚alten Spieler‘ und fühlen sich dort entweder mies oder stellen sich gut an. Wenn sie sich gut anstellen, kratzen sie an dem Unbesiegbarkeits-Selbstverständnis der ‚Alten‘, die wiederum reagieren zickig und werfen mit Disziplinen um sich, keiner hat Spaß, jeder denkt der andere ist ein Idiot. Überzogenes Bild, aber so schon zu oft vorgekommen.

    Also lieber gleich ganz weg mit den Disziplinen. Ein Intrigenspiel braucht nicht mehr als einen Dolch in der Mitte des Raums.

    Liebe Grüße,
    Marc

    • Hallo Mark,

      das klingt nach wirklich ziemlich schlechten Erfahrungen. Es tut mir Leid, dass solche Sachen Dir das Hobby Vampire Live verleidet haben. Das wäre mir wahrscheinlich ähnlich gegangen, ich hatte nur das Glück, in der für mich richtigen Gruppe zu landen.

      Ich weiß, dass sich das am PC immer leicht sagen und schreiben lässt, aber solche Extremfälle sind mir im Spiel bisher nicht untergekommen. Der Einsatz von Disziplinen hält sich, soweit ich es wahrnehme, ziemlich im Rahmen, und es wird sehr viel überdirektes Spiel (Überzeugen, Erpressen, Intrigieren, Lügen, Bedrohen…) geregelt. Ein sehr gutes Beispiel dafür sind junge Charaktere, die tatsächlich erst vor wenigen Jahren im Spiel geschaffen wurden, aber sich alleine durch ihr Spiel ein ziemlich gutes Standing aufgebaut haben. Klar, jeder weiß, dass die von ihren Disziplinen her nicht so mächtig sind wie die Alten – aber das richtige Wort an der richtigen Stellekann ungleich mächtiger sein.

      Wir versuchen Neuspieler so ins Spiel einzubinden, dass sie Spiel haben und nicht gleich aus Prinzip untergebuttert werden. Wichtig ist da in meinen Augen das Verständnis bei allen, dass jeder neue Kainit ein potentieller Verbündeter ist, den man nicht gleich platt machen muss, nur weil man es kann. Durch viele Verknüpfungen im Hintergrund entsteht dazu ein Netzwerk, bei dem man sich überlegt, ob man jemanden platt macht, nur weil man es kann, und dafür den Ärger mit dessen Familie eingehen will.

      Wenn Du dem Spiel noch einmal eine Chance geben willst sag Bescheid. Und auch bei Fragen stehe ich Dir gerne zur Verfügung :)

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