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Rollenspiel ist mehr als nur Das Schwarze Auge und Dungeons & Dragons! Wo die „großen Systeme“ komplexe Regeln und detaillierte Welten bieten, erweitern Indie-Rollenspiele die kreativen Grenzen unseres Hobbys. „Indie“ ist dabei ein Label, das für Unabhängigkeit und Innovation steht. Solche Rollenspiele verfolgen oft abgedrehte Ideen und experimentieren mit neuen Spielmechaniken. Dass „Indies“ dabei nicht für jedermann sein wollen, versteht sich von selbst. Trotzdem räumen sie regelmäßig Rollenspiel-Preise ab. Aber genug der Vorrede; ich überlasse lieber acht Indie-RPGs die Bühne, bei denen eine Kurzvorstellung längst überfällig ist.

Dogs in the Vineyard

Mormonischer Moral-Western
Mormonischer Moral-Western

D. Vincent Baker schrieb Dogs in the Vineyard 2004 als Ergebnis einer Diskussion der RPG-Spieletheorie-Seite The Forge. 2014 wurde es als Teil der Narrativa-Reihe von Ulisses Spiele als Hunde im Garten des Herrn übersetzt und in einer lederumschlagenen Edel-Version neu herausgegeben.

Das Setting spielt 1849 in einem magischen Wilden Westen, in dem Dämonen real sind und die Menschen heimsuchen können. Die Spieler verkörpern „Wachhunde Gottes“, rechtschaffene Gesetzeshüter des wahren Glaubens „The Faith“, der große Ähnlichkeit mit der real existierenden Mormonenkirche hat. Sie ziehen von Dorf zu Dorf, um Sünder zu bestrafen und Ketzer zu bekehren. Das Spiel ist dabei wie eine Fernsehserie aufgebaut. Jede Spielsitzung wird die Gruppe in einem neuen Ort mit einer Problemstellung konfrontiert, die eine moralische Entscheidung verlangt. Bestrafen sie den ehebrechenden Bürgermeister, der aus Liebe handelt? Lassen sie den Dieb laufen, der nur aus Hunger gestohlen hat? Dabei werden die Spieler immer wieder auf die Probleme der scheinbar eindeutigen Glaubensgrundsätze und Gesetze gestoßen, die sie verkörpern sollen und müssen Recht gegen Gerechtigkeit abwägen.

Das Regelwerk schildert detailliert das Leben in einem fiktiven Bundesstaat. Konflikte werden als Szene abgehandelt, wobei eine interessante Biet-Mechanik ins Spiel kommt: Spieler und Spielleiter erhalten durch Beschreibungen und Wendungen der Szene zusätzliche Würfel für die Probe oder verändern die einberechneten Fähigkeiten. So kann eine hitzige Diskussion sogar zu einem tödlichen Schusswechsel eskalieren. Die große Stärke des Spiels ist dabei auch der größte Kritikpunkt: Sich jeden Spielabend mit Moral auseinanderzusetzen sorgt zwar für tiefe Charaktergeschichten, ist auf Dauer aber einfach anstrengend und damit besser für einen One-Shot geeignet, als für eine längere Kampagne.

Don’t Rest Your Head

Beunruhigender Psycho-Horror
Beunruhigender Psycho-Horror

Das Spiel von Fred Hicks erschien 2006 bei Evil Hat Productions, den Machern von Fate Core. Die Spielercharaktere haben darin ein beunruhigendes Problem: Sie können nicht schlafen. Dadurch erkennen sie langsam die Mad City, eine alptraumhafte, geheime Wirklichkeit jenseits der normalen Wahrnehmung. Noch beunruhigender ist, dass die dort lebenden Monster nun auch die Charaktere sehen, ihre Erinnerungen stehlen und ihren Verstand verdrehen können. Feinde wie der Head Cop (mit einer Uhr als Kopf) oder die endlosen Paperboys (aus Papier) könnten dabei in ihrer Surrealität der Phantasie von Lewis Carroll auf einem schlechten Drogentrip entsprungen sein. Um ihnen zu widerstehen haben die Charaktere besondere Kräfte.

Dont Rest Your Head ist dabei vor allem ein düsterer Hintergrund für ein sehr charakterzentriertes Spielerlebnis. Die Geschichte der Spielercharaktere und der Grund für ihre Schlaflosigkeit sind dabei die Schlüssel zum Abenteuer. Daraus entstehen auch die persönlichen Aufgaben, die sie in der Mad City erfüllen müssen, um ihr zu entkommen – etwa ein Rätsel lösen oder einen Antagonisten besiegen. Das ungewöhnliche Regelsystem spielt dabei mit der Verführung des Risikos: Jeder Charakter kann freiwillig mehr Erschöpfung oder Wahnsinn auf sich nehmen, um Würfel einer Probe hinzuzufügen. Wie bei Call of Cthulhu wird das Spiel so zu einer Untergangs-Spirale und endet häufig tragisch – effektiver Horror eben. Das Problem: Um die beunruhigende Atmosphäre des Spiels richtig zu transportieren, braucht es eine phantasievolle Spielrunde, die sich auf gruseliges Charakterspiel einlässt.

Für das Spiel gibt es zwei Erweiterungen: Dont Lose Your Mind verleiht den Charakteren zusätzliche Wahnsinns-Talente und Dont Read This Book bietet eine Handvoll Geschichten in Form von Tagebüchern aus der Mad City.

Mouse Guard Roleplaying Game

Nager-Helden-Rollenspiel
Nager-Helden-Rollenspiel

Dieses Rollenspiel ist eine Kooperation von Rollenspielautor Luke Crane (The Burning Wheel) und Comiczeichner David Petersen (Mouse Guard). Das Ergebnis ist fraglos eines der hübschesten Rollenspielbücher, die unser Hobby je hervorgebracht hat und alleine deshalb bemerkenswert. Als Hintergrundwelt dient Petersens preisgekrönte und namensgleiche Graphic-Novel-Serie. Die Spieler schlüpfen in die Gestalt von anthropomorphen Mäusen, die als Teil eines eingeschworenen und selbstlosen Wachbatallions die Mäusepopulation vor den Gefahren der Wildnis beschützen. Einerseits ist die Welt voll von Vermenschlichungen wie Kleidung, Waffen und Berufen, andererseits prägen Gerüche und die ständige Gefahr durch Raubtiere das Leben der Nager. Dabei geht es trotz knuffigen Mausbildern auch grausig und vor allem sehr heldenhaft zu – samt Opfer für das Wohl aller Mäuse, getreu dem Motto der Mäusewache: „Nicht woge­gen du kämpfst ist wich­tig, son­dern wofür.“

Das Spielsystem übernimmt viele Ideen von The Burning Wheel, ohne ein Regelschwergewicht zu sein. Dabei wird auf das Zusammenspiel im Team wert gelegt. So teilen Spieler die Handlungen in einem Konflikt selbst auf die beteiligten Charaktere auf und können durch geschickte Koordination und Vorausplanung der Handlung deutlich größere Waldbewohner bezwingen. Ein besonderer Vorteil ist die von The Burning Wheel übertragene, ausführliche Charaktererstellung anhand eines ausgestalteten Lebensweges. Dadurch ist jeder Mäusewächter eine echte Persönlichkeit samt Hintergrund, Instinkten und Motivationen, die das Spiel von ganz alleine vorantreiben. Dieses persönliche Element ist auch im Spielverlauf verankert; so wählt jeder Spieler vor einer Mission der Mäusewache ein persönliches Ziel für seinen Charakter, was dem Spielleiter die Interessen der Spielrunde verrät und den Plot quasi von selbst schreibt. Dazu haben die Spieler einen hohen Erzählanteil: Sie gewinnen für Komplikationen des Abenteuers „Checks“ und können dann das Ende des Abenteuers durch diese selbst auserzählen – perfekt für Erzählrollenspieler mit Spaß an Improvisation, ein Graus für eher unflexible Simulationisten.

Die Hilfestellungen für Spielleiter und Spieler im Buch sind sehr ausführlich – samt vorgefertigten Beispiel-Charakteren und Missionen. Mouse Guard Roleplaying Game ist dabei so geschrieben, dass auch ein Rollenspiel-Anfänger etwas damit anfangen kann. Diesen April erscheint die überfällige 2. Edition des vergriffenen Spiels.

Feng Shui

Hong Kong Action-Kino
Hong Kong Action-Kino

Von niemand geringerem als Senior-Spieledesigner Robin D. Laws (Earthdawn, Rune, Robin’s Laws of Good Game Mastering) stammt dieses Rollenspiel um Kampfkunst, Stunts und große Explosionen. Feng Shui wurde bereits 1996 bei Daedalus Entertainment veröffentlicht. Eine zweite Edition ist nun durch Kickstarter finanziert und erscheint voraussichtlich noch 2015.

Der Untertitel „Action Movie Roleplaying“ sagt eigentlich alles: Die Spieler übernehmen die Rolle von herausragenden Kampfkünstlern mit starkem Feng Shui, einer mystischen Macht und Einsicht über die Welt. Sie kämpfen in Hong Kong meist für die Geheimgesellschaft Dragons, die sich einen verborgenen Krieg auf vier Zeitebenen führt. Durch die Portale der labyrinthartigen Netherworld ist das Spieljahr 1996 nämlich mit den Jahren 690, 1850 und dem postapokalyptischen 2056 verbunden. Dabei geht es um nichts Geringeres als die totale Kontrolle über die Geschichte der Menschheit. Rivalisierende Geheimgesellschaften sind etwa die Eater of Lotus, manipulative Zauberer und Dämonenbeschwörer des frühen China oder die Ascended, Erben von erwachten Tieren in Menschengestalt. Klingt verrückt? Genau darum geht es!

Die Spielmechanik ist auf cineastische Beschreibung ausgelegt. Ein cooler Stunt erleichtert die Handlung, unkreatives „ich schieß drauf“ kann sie sogar erschweren. Gewürfelte 6er können beliebig oft weitergewürfelt werden und ermöglichen so übertriebene Manöver. Klar, dass dadurch Flickflacks über den Kopf der Gegner und lässige Sprüche vor Explosionen zum Standard gehören und der Ton des Rollenspiels alles andere als bierernst ist. Eine weitere interessante Mechanik hat etwas mit dem Zeitstrom zu tun. Wird dieser zu sehr verändert, reinkarnieren die Charaktere in einen passenden Hintergrund der neuen Geschichte, behalten aber ihre Erinnerungen und Fähigkeiten. Feng Shui ist sehr gut für explosive One-Shots; in längeren Kampagnen nutzt sich der übertriebene Erzählstil aber bald ab.

Fiasco

Schwarze Katastrophen-Geschichten
Schwarze Katastrophen-Geschichten

Entwickelt von Jason Morningstar simuliert Fiasco Filme wie Burn after Reading oder Fargo der Cohen-Brüder – also meist Ganovengeschichten mit tragikomischem Ende. Der Handlungsverlauf wird schon vom Untertitel von Fiasco vorgegeben: „Ein Spiel um Macht, Ehrgeiz und miserable Selbstkontrolle.“ Die Spieler verknüpfen ihre Charaktere bei Spielstart mit problematischen Beziehungen und Bedürfnissen. Das führt teilweise zu haarsträubenden Verwicklungen, die die Grundlage für die folgende Handlung in drei Akten bilden. Dabei sind schwarzer Humor und das Ausspielen der Schwächen eines Charakters sehr erwünscht! Ein Standard-Setting gibt es dabei nicht; stattdessen liefert das Regelwerk vier Playsets als Mini-Setting-Vorschlag: amerikanische Kleinstadt (Small Town America), Wilder Westen (Boomtown), Familienbeziehungen in der Großstadt (Tales from Suburbia), arktische Forschungsstation (The Ice).

Eine Besonderheit von Fiasco ist, dass es ohne Erzähler/Meister auskommt. Die raffinierte Spielmechanik macht die Spieler dabei zu Teilzeit-Erzählern, die nach eigener Wahl eine Szene aufbauen oder die Umstände der Handlung darin beschreiben können. Der genaue Verlauf wird dann von einem Würfelwurf bestimmt. Damit ist Fiasco weniger klassisches Rollenspiel als modernes, dynamisches Erzählspiel, das durch die Zufallsmechaniken ganz allein zur Katastrophe schlittert. Im ersten Akt wird die Szene aufgebaut, im zweiten Akt die zentrale Krise der Geschichte eingeleitet und im dritten Akt passiert das tatsächliche Fiasko. Mit einer Spieldauer von ca. 3 Stunden ohne Vorbereitung ist Fiasco perfekt für spontane Spielrunden auf Conventions, aber kaum tauglich für längere Kampagnen. Dafür gibt es eine ganze Reihe inoffizieller, kostenloser Playsets für das Spiel: von düster-nordischer Saga (Icelandic Saga) über einen ambitionierten Goblin-Aufstand (Goblin Uprising) bis zum Fiasko auf einer Anime-Convention (The Big Anime Con). Die offizielle Erweiterung Fiasco Companion enthält Hilfen zur besseren Erzählung und vier weitere Playsets.

Wer Fiasco hautnah erleben möchte, sollte sich unbedingt die passende Folge Tabletop von Will Wheaton anschauen.

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Lamentations of the Flame Princess

D&D Retro-Klon
D&D Retro-Klon

Wer träumte früher nicht einmal davon, eine eigene Version von Dungeons & Dragons zu schreiben? Nun, James Raggi hat es mit Lamentations of the Flame Princess (LotFP) getan. Sein Magnum Opus bedient richtiges Old-School-Spielgefühl, samt Regeln für Altern, Verhungern und Schlafentzug der Charaktere. Diese sterben – oh Wunder – recht schnell bei verpatzten Rettungswürfen oder durch herumwandernde Monster in Verliesen und Labyrinthen. Spieler dürfen aus starren Charakterklassen wie Kleriker, Magier oder Zwerg wählen, samt ausgewürfelter Werte, festen Sonderfähigkeiten sowie Balance-Problemen auf niedrigen Stufen. Regeltechnisch wirkt LotFP wie eine anachronistische Verneigung vor Gary Gygaxs Lebenswerk und den frühen Tagen unseres Hobbys. Die aktuelle Edition des Spiels nennt sich Grindhouse Edition. Deren Artwork ist, der Name deutet es schon an, tatsächlich nicht gerade jugendfrei. Nette Geste: Die Grundregeln von LotFP gibt es kostenlos zum Download.

Das Bemerkenswerte ist aber weniger das Indie-RPG selbst als die dafür herausgebrachten Spielmodule und Abenteuer. Diese beinhalten innovative Gegner, Dungeons und Story-Wendungen und sind eine kreative Ideengrube jenseits der Standard-Fantasy. Durch intensive Erzähltexte und verstörende Inhalte (und Illustrationen!) vermischen sie Fantasy mit Horror zu echter „Weird“-Fantasy. Ein herausragendes Beispiel ist A Red & Pleasant Land. Das riesige Sandbox-Abenteuer spielt in einer alptraumhaft-surrealen Version des Wunderlands aus Alice in Wonderland von Lewis Caroll. Dieses wurde einst vom „Red King“ (Dracula) regiert und besteht allein aus seinem riesigen, verfallenden Palast als endlosem Dungeon. In Hallen und Gärten herrschen Intrigen und offener Krieg zwischen vier uralten Vampir-Höfen. Daneben können die Spieler auf düstere Versionen literarischer Figuren treffen, von der Grinsekatze bis zum verrückten Hutmacher. Alice selbst existiert als spielbare Klasse einer Buffy-artigen Jägerin. Verrückt und genial zugleich.

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Apocalypse World

Beziehungen und Sex als System
Beziehungen und Sex als System

Das Rollenspiel von D. Vincent Baker (Dogs in the Vineyard) erschien 2010 und klingt nach totaler Endzeit. Tatsächlich verbirgt sich dahinter ein innovatives Universalsystem, das seitdem unter dem Namen „Powered by the Apocalypse“ Indie-Perlen wie Monsterhearts, Tremulus, oder Night Witches als Unterbau dient. Apocalypse World selber hat kein ausgearbeitetes Setting, sondern impliziert nur eine typische Postapokalypse mit drei Eckdaten: Vor 50 Jahren gab es eine Apokalypse, ein psychischer Mahlstrom macht seltsame Psycho-Kräfte möglich und die Spielwelt ist recht tödlich – der Rest ist Verhandlungssache und wird während der Charaktererstellung gemeinsam festgelegt. Dem Spielleiter wird sogar geraten (Achtung, Herzinfarkt-Gefahr für DSA-Meister!), „am besten gar nichts vorzubereiten“.

Überhaupt macht das Rollenspiel vieles anders: Die Attribute „Cool“, „Hard“, „Hot“, „Sharp“ und „Weird“ entsprechen eher vagen Herangehensweisen an eine Situation und Charakterklassen wie Biker-Ganger (Chopper), der Kultführer (Hocus) oder der Waffenhändler (Gunlugger) sind keine Rollenspiel-Standardkost. Dazu sind alle möglichen Aktionen im Spiel schablonenhaft vorgedacht, geben der Erzählung einen festen Rahmen und überraschen sogar den Spielleiter mit dem Ausgang der Handlung.

Im Mittelpunkt von Apocalypse World stehen aber ganz klar soziale Interaktion und Beziehungen: Charaktere definieren sich über ihre gemeinsame Geschichte mit anderen Personen und erhalten Erfahrungspunkte, wenn sie diese näher kennenlernen. Jeder Charakter hat sogar einen besonderen Sex-Move, der tatsächlich beim Beischlaf ausgelöst wird und Spielvorteile gibt. Sex als Teil der Spielmechanik? Apocalypse World ist ganz klar für erwachsene Spieler gedacht, die sich aus ihrer Komfort-Zone herauswagen wollen.

Nobilis

Philosophierende Halbgötter beschützen die Schöpfung
Philosophierende Halbgötter beschützen die Schöpfung

In diesem Rollenspiel von Jenna Katerin Moran verkörpern Spieler Splitter göttlicher Kräfte, die sich in Menschen manifestieren und ihnen Macht über Aspekte der Welt geben. Der Halbgott der Nuklearwaffen als Charakter – Moment mal, was!?

Nobilis ist die mit Abstand seltsamste Indie-Perle in dieser Reihe und bricht mutig mit vielen Rollenspiel-Traditionen. Wie in der Welt der Dunkelheit leben die Menschen des Settings ahnungslos und abgeschirmt von der kosmischen Wahrheit: Die „Wahren Götter“ verteidigen die Schöpfung gegen die fremdartigen Eindringlinge der „Excrucians“. Jene wollen nicht weniger, als die Schöpfung zu vernichten, die in Nobilis neben der Erde auch Parallelwelten wie Yggdrasil, Himmel und Hölle umfasst. Dabei erhalten Spielercharaktere als göttliche Verteidiger der Schöpfung enorme Macht. Sie verfügen über ein privates Mini-Universum (Chancel), das sie formen und in das sie sich zurückziehen können und sie verändern mit Wundern die Wirklichkeit – irgendwo zwischen Scion:Hero und Neil Gaimans Sandman.

Nobilis funktioniert ganz ohne Würfel und ersetzt eine Zufalls-Mechanik durch konsequentes Ressourcen-Management. Die Macht eines Wunders hängt etwa von den ausgegebenen „Miracle-Points“ ab. Alle Charaktere verfolgen zudem persönliche Ziele und Projekte, die die Spielwelt nachhaltig prägen und eine Kampagne in eine ganz neue Richtung lenken können. Erfahrungspunkte gibt es unter anderem durch philosophische Überlegungen und moralische Zwickmühlen. Ein erfahrener, flexibler Spielleiter ist in hierbei ein Muss!

Das größte Problem von Nobilis ist seine Einsteiger-Unfreundlichkeit durch komplexe Regeln und ausladende Erzähltexte. Der geistige Nachfolger, The Chuubo’s Marvelous Wish-Granting Engine RPG, ist viel konkreter und gibt Spielern weniger abstrakte Helden und eine bodenständigere Handlung. Beide Rollenspiele eignen sich durch das ungewöhnliche System gut für intensives Foren-Spiel.

Fortsetzung folgt …

Wie viele der vorgestellten Indie-Perlen kanntet ihr schon? Welche Indie-Rollenspiel-Geheimtipps habt ihr vermisst? Wie jede Liste ist diese nämlich furchtbar subjektiv und unvollständig. Es gibt einfach zu viele interessante Rollenspiele da draußen. Deshalb ist der Artikel auch nur der Anfang einer ganzen Reihe von thematischen Indie-Spotlights, jeder davon voller cooler Indie-Games, die einen Blick wert sind. Demnächst: Sorcerer, Unknown Armies, Little Fears, Inspectres, Eclipse Phase und viele mehr.

Artikelbild: diverse Verlage lt Fließtext

 

9 Kommentare

  1. Unabhängig von den Empfehlungen für die Spiele (da würde ich mich größtenteils – mal enthusiastischer mal weniger – anschließen), wundere ich mich ein wenig über das global angewendete „Indie“-Label. Gibt es einen speziellen Grund, weshalb du, um gleich das offensichtlichste(?) Beispiel zu nehmen, Feng Shui mit unter „Indie“ ablegst?

    • Hi,

      das habe ich mich auch direkt gefragt: „Feng Shui“ geht als Indie-Game durch? Meiner Definition nach kommt ein Indie-Spiel aus einem sehr kleinen Verlag von namentlich kaum bekannten Leuten, beides sehe ich hier nicht wirklich. Auch das angekündigte „Unknown Armies“ hat wohl schon einen Bekanntheitsgrad und ein relativ bedeutenden Verleger, dass „Indie“ nicht so richtig passt.

      Aber genug der Kritik: Eigentlich eine schöne Liste, auch wenn ich viele Spiele schon kannte. Gerade „Fiasco“ kann ich für für’s One-Shots-Spiel echt empfehlen!

      Schöne Grüße

    • „Kaufbare Texte aus dem Bereich Rollenspiel, die ich persönlich für so interessant halte, dass sie mehr Beachtung verdienen und von denen ich denke, dass sie viele Spielrunden nicht kennen“ ist einfach ein furchtbarer Titel für einen Artikel ;)

  2. Hmmm … mich irritiert ein wenig, dass zwar auf die deutsche Version von „dogs in the vineyard“, nämlich „Hunde im Garten des Herrn“ verwiesen wird, auf deutsche Versionen der anderen Spiele aber nicht.

    Mit „Ruh dich nicht aus“ gibt es eine deutsche Version von „Don’t rest your head“: https://3w20.wordpress.com/rdna/
    Pro-Indie hat eine deutsche Version von Fiasko gemacht, die momentan verlagsseitig ausverkauft scheint: http://www.pro-indie.com/index.php?categoryid=8&p2_articleid=40

    Was Lamentations of the Flame Princess angeht: Das ist ein Old-School-Spiel, aber KEIN Retro-Klon. Dafür macht es zu vieles anders. Anders als bei D&D1 gibt es ein einheitliches Proto-Fertigkeiten-System. Auch die Zaubersprüche und der Umgang mit magischen Gegenständen unterscheiden sich erheblich vom Vorbild.
    Ansonsten heißt die aktuelle Version des Spiels auch nicht mehr „Grindhouse Edition“. Die Hardcover-Version (von der das SL-Buch noch nicht fertig ist), trägt keinen besonderen Namen. „Grindhouse“ hieß die Boxauflage vor der aktuellen Hardcover-Auflage und nach der Erstauflage, die den Namen „Deluxe Edition“ trug und als Box kam

    Und noch was finde ich seltsam am obigen Blogeintrag:
    Manche Spiele gehören zu einer Familie von Spielen. Aber die wichtigsten Angehörigen der Vorgestellten werden nicht konsequent benannt. So fehlt bei Apocalypse World auf jeden Fall das sehr viel populärere Dungeon World und bei Mouse Guard das Torchbearer RPG.

    Naja, und dass Feng Shui und Nobilis keine Indie-Spiele sind wurde ja schon gesagt.

    Aller Kritik zum trotz:
    Ein schöner Artikel, der ein paar interessante Spiele vorstellt.
    Danke dafür.

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