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Folgendes sprach der Spielleiter:

„Erschöpft von der langen Reise daheim angekommen, macht ihr euch hungrig über das Essen her. Die Lokalität ist gut gefüllt mit Anwohnern des Dorfes. Es herrscht gute Stimmung, während draußen langsam die Sonne hinter den Horizont sinkt. Inmitten der Menge fällt euer Auge auf eine kleine Gruppe Reisender. Sie sind eindeutig nicht von hier und schauen sich etwas scheu um. Vielleicht Kundschafter, Händler oder Vagabunden. Was tut ihr?“

Die häufigste Antwort in einer westlichen Fantasykampagne wäre wohl:

„Ich stehe auf, gehe hinüber zu den Fremden, frage wer sie sind und lade sie auf ein Bier ein, um die Stimmung zu lockern. Mal sehen, was ich rausfinden kann.“

Währenddessen im fernen Osten:

„Ich merke mir ihre Art, sich zu kleiden. Stammen sie vielleicht aus einer anderen Provinz, sind es Ausländer und sehen sie aus, als würden sie etwas im Schilde führen? Auf jeden Fall lasse ich den Wirt einen Boten zum Wachhabenden senden, um ihn auf diese Fremden aufmerksam zu machen.“

Eine ähnliche Situation hatte ich selbst einmal in einer Runde. In einem Anfall von Enthusiasmus wollte man d20 Rokugan spielen; ich kam als Quereinsteiger in die Gruppe und hielt mich eher bedeckt. Nun wollte der Spielleiter den guten alten Ihr-trefft-euch-in-einer-Bar-Ansatz ausspielen. Alle waren im Teehaus, keiner kannte den Anderen, keiner sprach miteinander. Man hatte keinen Grund. Ohne triftigen Grund beginnt man keine Kommunikation. Ein fremdländisches Aussehen reicht zwar aus, um Neugier zu wecken, aber allein deshalb jemanden anzusprechen, kommt nicht infrage.

Weit mehr Dinge, als man sich bewusst macht, sind kulturell codiert, das heißt nur für diejenigen zu verstehen, die in dieser Kultur großgeworden sind. Wenn man kurz drüber nachdenkt, ist dies logisch, und die Grundlage für die meisten Missverständnisse auf der Welt. Es ist ebenso der Grund, warum viele sich sträuben, asiatische Settings zu spielen. Denn um die Illusion zu erschaffen, die wir wollen, muss es sich echt anfühlen und nicht wie die Dinnerparty beim Chinamann um die Ecke.

Wir wollen uns einzelnen Aspekten widmen, um sowohl die Scheu, es auszuprobieren zu nehmen, als auch Mittel an die Hand zu geben, es zu versuchen. Diesmal wollen wir einen Überblick möglicher Problemfelder bieten, die dann in einzelnen Artikeln weiter vertieft werden sollen.

Ganz Asien?

Aus mehreren Gründen nimmt sich diese Reihe nicht sämtliche asiatischen Kulturen zum Thema. Zum einen wären das viel zu viele, zum anderen sind wir vielleicht selbstzufrieden, aber nicht überheblich genug, zu sagen, wir wissen über alle Bescheid. Nicht zuletzt ist es vor allem der ferne Osten, der die meisten Leute fasziniert. Daher steht hier das im Fokus, was gemeinhin Ostasien genannt wird. Dies umfasst vornehmlich China, Japan, Korea und zu einem gewissen Grad Vietnam und die Mongolei. Den chinesischen Einflussraum, um genau zu sein, denn alle diese Länder sind in ihrer Geschichte stark von chinesischem Gedankengut geformt worden.

Ostasien – dort wo man mit Stäbchen isst
Ostasien – dort wo man mit Stäbchen isst

Um Himmels Willen oder beim Willen des Himmels

Struktur. Das ist das Erste, das man über den asiatischen Kosmos wissen muss. Es gibt eine Struktur, die darstellt, wie alle Dinge sein sollten. Soll sich etwas bessern, so kann es sich nur dieser Struktur annähern, niemals sich davon entfernen. Diese Struktur herrscht nicht nur auf der Erde, sondern auch in den Himmeln. An der Spitze befindet sich der Jadekaiser, der die himmlische Bürokratie überwacht. Ja, die Chinesen habe die Bürokratie erfunden und sie macht nicht halt vor göttlichen Wesen.

Eine solche Struktur ist auch im Westen nichts Unbekanntes, man könnte etwa Frank Herbert zitieren: „Einen Platz für jedermann und jedermann an seinem Platz.“ In Asien jedoch hat diese Idee einen deutlich größeren Einfluß.

Qin The Warring States – Bürgerkrieg im China des 3. Jhdts. B.C. Hier ist die Ordnung in Schieflage geraten.
Qin: The Warring States – Bürgerkrieg im China des 3. Jhdts. B.C. Hier ist die Ordnung in Schieflage geraten.

Individuum und Familie

Zu einem gewissen Grad ist es eine Frage von Groß gegen Klein. Was ist wichtiger: der Wille und das Wollen des Einzelnen oder der Erhalt und die Sicherheit der Struktur? In Asien ist die Antwort klar Letzteres. Der Wille des Himmels, welcher letztlich immer darauf abzielt, alles im Guten zu halten, ist imperativ. Was immer ich will, es hat hinter dem Großen und Ganzen zurückzustehen. Hier könnte man Spock zitieren: „Das Wohl der Vielen wiegt mehr, als das Wohl der Wenigen.“

Niemand verneint die Bedürfnisse und Fehlbarkeiten des Individuums, aber eines der wichtigsten Dinge, die man lernen muss, ist, dass die Familie, das Haus, der Klan, die Armee, der Staat oder von was auch immer man ein Teil ist, wichtiger ist, als man selbst. Pflicht steht weiter oben als die individuelle Verwirklichung.

Pflicht und Treue

Menschen sind fehlbar, egal wo sie leben und egal was sie tun. Pflicht und Treue sind Ideale, die auch hier im Westen hoch propagiert werden. Eines der größten Werke der japanischen Literatur, das Taiheiki, die Chronik des großen Friedens, berichtet von einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen konkurrierenden Zweigen der Kaiserfamilie.

In regelmäßigen Abständen wird die Treue und Loyalität der erscheinenden Figuren betont. Warum? Weil die Realität anders aussah. Hier versucht man zu inspirieren, zum Nacheifern anzuregen. Deswegen sollte man sich nicht von formeller Sprache und richtigem Umgang abschrecken lassen. Man sollte sie als Spielleiter nicht fürchten, sondern sie sich zunutze machen. Gerade der Konflikt zwischen Wollen, Tun und Können ist es hier, der die Spannung erschafft.

Umgangsformen oder “Finger weg!”

Umgangsformen sind stets das Erste, das einem auffällt. Schon mal versucht, einem Asiaten die Hand zu geben? Wenn der- oder diejenige mit dem Westen vertraut ist, wurde der Händedruck vielleicht sogar erwidert, ansonsten erntet man wohl eher seltsame Blicke. Physischer Kontakt ist nicht für jedermann. Man muss sich schon gut kennen, damit so etwas überhaupt in Frage kommt. Man hält Abstand und ist freundlich zueinander. Jemanden grundlos zu beleidigen, verstößt auch gegen die Struktur, daher sollte es gut überlegt sein. Zudem erweist man so Respekt voreinander, der zunächst einmal gewährt wird, abhängig natürlich davon, welchen Status man innehat.

Man ist, wer man war

Da die Welt strukturiert ist und jeder an seinem Platz ist, sollte auch jeder seinen Platz kennen. Jedem gebührt der Respekt, der ihm, seinem Status, Stand, Klasse, Kaste o.ä. entsprechend zusteht. Nicht mehr und nicht weniger. Man muss schon Außerordentliches vollbringen, um dies zu ändern.

Als Keramikmeister der berühmten Keramikmeisterfamilie Ling ist man mehr, als nur ein Mann, der gute Keramik herstellt. Jedes Porzellan, das man verkauft, wird geprüft gegen die Stücke, welche die Familie über die Jahrhunderte hinweg gefertigt hat. Man wird vergleichen, ob die Qualität mit denen der Vorfahren mithalten kann, oder ob sie schlechter geworden ist. Die Idee, sie sei besser geworden, entsteht frühestens, wenn man die alten Formen gemeistert hat.

Ein jeder ist nicht nur er selbst, er steht für die Familie, und was man tut, reflektiert auf alle. Ebenso wie alle verantwortlich sind, wenn einer aus der Reihe tanzt. Das erinnert beinahe schon an Sippenhaft, drückt sich aber seltener in Gesetzen als in sozialen Konventionen aus. Denn immer muss man die Vorfahren bedenken, wenn man handelt.

Bei den Ahnen und Göttern

Ahnenverehrung ist im gesamten betrachteten Raum verbreitet. Mit Ausnahme weniger Familien gibt es in jedem Haushalt einen Altar für die verstorbenen Vorfahren. Zu jenen wird gebetet und ihnen wird das neueste Schicksal der Familie bekundet. Dabei werden meist nur die letzten beiden Generationen konkret angesprochen, alle anderen Ahnen höchstens gemeinsam. So ergibt sich eine ununterbrochene Linie von Verehrung und Familie. Dies ist auch ein Grund, aus dem es undenkbar ist, keine Kinder zu haben.

Die Ahnen reihen sich nahtlos in die Myriaden von Gottheiten ein, die existieren. Den animistischen Glaubensvorstellung folgend, ist alles von Geistern oder Gottheiten erfüllt. Es gibt kodifizierte und strukturierte Religionen in Ostasien. Dazu zählt auch der Konfuzianismus, der im Grunde eine Staatsphilosophie ist. Religiöse Vorstellungen sind selten ausschließlich und mit der Ausnahme weniger, kleiner Gruppierungen, hat sich eine Idee wie der Monotheismus niemals durchsetzen können.

Ähnlich wie in der griechischen Antike, sind Götter und Gottheiten fehlbare, launische Wesen, die besänftigt oder bedankt werden müssen, da sonst Konsequenzen drohen. Da es keine allmächtigen Wesenheiten gibt, oder diese generell lediglich beobachten und die anderen machen lassen, gibt es auch keine Ausschließlichkeit. Daher kann man problemlos nebeneinander verschiedenen Zeremonien und Ritualen aus verschiedenen Glaubensrichtungen folgen, ohne dass dies als Widerspruch aufgefasst wird.

Eine Religion, die sich von der Natur entfernt, ist ebenso undenkbar. Gottheiten, die nicht in die Abläufe der Welt eingebunden sind, gibt es nicht. Solche entfernten Vatergestalten wie im Christentum sind daher auch nicht denkbar. Zudem werden viele Rituale in ihrer staatstragenden Funktion gesehen. Die Struktur muss geschützt werden und Religion ist nur ein Mittel dazu. Religion dient nicht dazu, Struktur zu schaffen. Das ist zum Beispiel auch daran zu sehen, dass es in der japanischen Sprache bis zum 15. Jahrhundert kein Wort für Religion gab. Dieses wurde erst erfunden, als die ersten christlichen Missionare ins Land kamen. Vorher hatte einfach niemand die Notwendigkeit, dieses Konzept in ein einzelnes Wort zu pressen.

Fähigkeit und Fertigkeit

Zwar gibt es viele Gottheiten, die Einfluss auf das Leben des Einzelnen haben, aber dem Erfolgsgedanken liegt vor allem eins zu Grunde: harte Arbeit. “Übung macht den Meister” ist nicht nur ein Sprichwort, sondern eine anerkannte Wahrheit in Ostasien. Nur durch harte Arbeit und viel Übung wird man die hohe Kunstfertigkeit erreichen, um ein Meister in irgendetwas zu sein. Dabei ist es egal, worum es sich dabei handelt.

Um etwas wirklich zu erlernen, muss man es üben, üben und nochmals üben. Den Gedanken des Genies, das alles, oder alles auf einem Gebiet, einfach so kann, ist eher unbekannt. Hohe Fertigkeit ist stets das Ergebnis von viel Übung, Geduld und Ausdauer. Das schlägt sich auch in der Ausbildung nieder. Jemandem etwas beibringen bedeutet zunächst, es vorzumachen. Der Lehrling muss sich die Grundlagen selbst erarbeiten, indem er sie dem Meister abguckt. Wenn er das nicht von alleine schafft, besteht auch keine Aussicht für ihn, es je zu können. Ein Verkäufer in Japan lernt erst einmal Kunden ordentlich zu begrüßen und Ware ansprechend zu verpacken, die ersten beiden Jahre lang. Frühestens dann kann man ans Verkaufen denken.

Origami -  manche Geschenke werden nie ausgepackt, das würde die schöne Verpackung zuerstören
Origami – manche Geschenke werden nie ausgepackt, das würde die schöne Verpackung zerstören

Meisterschaft kann ebenso nur auf der Grundlage von Übung entstehen. Nicht die einmalige Innovation macht einen zum Meister, sondern die Fähigkeit alles Gelernte anzuwenden um dann, von diesem Gipfel der Perfektion aus, Neues zu entwickeln. Daher wird man auch frühestens in die Geheimnisse des Meisters eingeweiht, wenn man alle Grundlagen beherrscht.

Selbstverwirklichung

Das Lehrsystem mag zunächst einschränkend wirken, da man wenig Platz für eigene Ideen hat, zumindest vorerst. Jedoch, ist es denn so unmöglich, in seiner Aufgabe Selbstverwirklichung zu finden?

Gegenüber der generellen Idee, dass sich das Individuum nur jenseits der gesellschaftlichen Beschränkungen richtig entfalten kann, ist dieser Gedanke in Asien umgekehrt. Man mag zwar Zeit außerhalb der Ordnung verbringen, zum Beispiel auf einer Pilger- oder Lehrreise (vergleichbar mit dem europäischen Wandergesellen), aber letztlich findet man seinen Platz und seine Erfüllung darin, dass man seinen Platz einnimmt und seine Aufgabe erfüllt.

WuXia und ähnliches

Zwei Kämpfer stehen sich gegenüber, starren sich an und ziehen ihre Schwerter. Mit langgezogenen Schreien gehen sie aufeinander los und liefern sich einen Kampf auf Leben und Tod. Dass das Ganze auf Bambusstelzen auf einem See ausgetragen wird, wundert niemanden – zumindest in China. Fliegende Kung-Fu-Kämpfer, die Wassertropfen in tödliche Geschoße verwandeln und Wände hoch laufen, als wären es Treppen, sind nichts anderes, als eine Fortsetzung des Gedankens der Übung.

Übt man lang genug, sind auch solche Fähigkeiten erlernbar. Da die Vorstellung nicht durch zu exakte Wissenschaft eingegrenzt wird, gibt es auch keine gedanklichen Grenzen für die Fähigkeiten eines Menschen. Man kann alles erreichen, mit genügend Übung und dem Willen des Himmels, man möchte ja nicht seinen Platz in der Struktur verlassen.

Wie das geht? Na, üben, üben, üben
Wie das geht? Na, üben, üben, üben

Zahlen, Farben und ein Ausblick

Kuro - Japan 2048 und voller Geister, kein einfacher Ort zum Leben
Kuro – Japan 2048 und voller Geister, kein einfacher Ort zum Leben

Manche sagen, man solle niemals eine gerade Zahl an Blumen schenken, zumindest in Deutschland. Schenken sie im Osten bitte nur keine vier, am Besten noch in Weiß, denn schon haben sie eine Bekanntschaft weniger. Viel effektiver hätten sie jemandem kaum den Tod wünschen können. Denn weiß ist die Trauerfarbe in Ostasien und die Zahl Vier klingt gesprochen wie der Tod, im Chinesischen und Japanischen zumindest. Schenken sie lieber acht rote Blumen zur Hochzeit. Rot ist die Farbe der Freude und Feierns, Acht eine glückliche Zahl.

In solch kleinen Dingen steckt, wie man sieht, viel Sprengkraft. Kein Wunder, dass viele sich unwohl fühlen, sich auf solch dünnes Eis zu begeben. Die Illusion zerspringt sehr leicht, bei Fehlern derartiger Größe.

In den kommenden Artikeln wollen wir versuchen verschiedene Aspekte, die hier angesprochen wurden, näher zu bringen. Denn ein Ausflug nach Osten lohnt sich. Schließlich soll Reisen ja bilden, das gilt auch für imaginäre Reisen.

 

Artikelbilder: Alderac Entertainment Group, Cubicle 7 Ltd, Wikimedia Commons, Beijing New Picture Film Co.

 

6 Kommentare

  1. Hallo,

    hab den nächsten jetzt vorgezogen, kommt dann nächsten Monat. Zu der anderen Frage, Verzeihung für die späte Antwort, bei der Einkindpolitik ist es deshalb so wichtig einen Jungen zu haben. Ein Grund für den großen Männerüberschuß im heutigen China.

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