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Ich muss es gleich im Vorfeld sagen: Ruins of the North ist so gut, dass man danach enttäuscht sein muss! Enttäuscht, weil es der Verlag nicht schafft, mehr solcher Glanzstücke herauszubringen. Zu Beginn gab es mit Tales of Wilderland, The Heart of the Wild und The Darkening of Mirkwood ein Dreierpack, das sich gewaschen hatte: Abenteuersammlung, Settingband und Großkampagne hielten reichlich Material für Spielgruppen parat.

Dass sich die Strategie geändert hat, kann man an Rivendell und Ruins of the North sehen: Zwar sind die beiden Bände genauso wie The Heart of the Wild und The Darkening of Mirkwood aneinander gekoppelt. Aber es folgt eben kein Kampagnenband. Die Ankündigungen für die Zukunft der Reihe sind ähnlich: Horse-lords of Rohan und Oaths of the Riddermark werden der Settingband und die Abenteuersammlung für jene Region sein.

Sollten die Autoren also unter der Rubrik Überraschendes nicht doch noch mehr Spielstoff aus dem Hut zaubern, wird auch 2015 ein zähes Jahr für Veröffentlichungen zum Spiel The One Ring. Mit dem Doppelpack Rivendell und Ruins of the North können sich erfahrene Gruppen aber trotzdem noch etwas vertrösten, und das auf hohem Niveau!

Inhalt

Ruins of the North ist ein Abenteuerband mit einer hervorragenden Mischung, wenn auch der Name ein wenig falsche Erwartungen weckt. Detaillierte Beschreibungen von Ruinen wie zum Beispiel in MERS wird man hier vergebens suchen. Die meisten beschriebenen Orte haben höchstens eine kleine bis mittlere Dungeon-Karte beigefügt. Die größeren verfallenen Stätten, die sie umgeben, bleiben allenfalls grob umrissen. Natürlich führen die Wege der Helden auch durch die namensgebenden Ruinen, aber The One Ring verwandelt sich gewiss nicht in einen Dungeon Crawl.

Spoiler kann ich euch in dieser Rezension leider nicht ersparen.
Nightmares of Angmar

Das erste Abenteuer beginnt die Sammlung mit einem Knall. Kinder wurden von den Schergen des Schattens entführt, und es ist an der Gruppe, sie zu finden. Die Reise führt von Wilderland über Bergpässe und im Schatten von Mount Gundabad direkt in das dunkle Herz des verlorenen Königreichs Angmar. Doch das wahrhaft Finstere ist der Beginn – die Spieler begegnen einem Stamm verstoßener Menschen, die einst mit Sauron paktierten. Diese leben nun in einer entlegenen Berggegend, und die Folgen jahrhundertelanger Inzucht sind grausig detailliert. Das Abenteuer selbst siedelt sich damit auf der Trennlinie zwischen Licht und Schatten an, und den Spielern ist es überlassen, das Schicksal dieses Stammes zurück zu den Freien Völkern oder weiter in die Verdammnis zu lenken.

Über das Abenteuer hinweg verfolgt der SL die Aktionen der Spieler mit. Nur wer mit Eigeninitiative und aufrechten Taten Respekt erringt, wird wirklich einen Unterschied machen können. Trotz dieser moralischen Komponente enthält das Abenteuer auch knackige Kämpfe und den umfangreichsten Dungeon im Band. Den Haupt-NSC aus dem Rivendell-Band begegnet man in Angmar jedenfalls nicht, sonst wäre es mit dem Überleben schnell vorbei. Man kann mit diesem Abenteuer eine erfahrene Gruppe aus den Gefilden des Hobbits jedenfalls gut nach Eriador übersiedeln, und ihnen eventuell auch gleich eine Operationsbasis in Elronds Heimstatt verpassen.

Harder Than Stone

Die Geschichte des zweiten Abenteuers ist viel schneller erzählt: Ein Kapitän Mordors versucht, aus den Trollen der Trollshaws und Ettendales eine Armee für Sauron zu formen. Durch den Überfall auf eine Zwergenkarawane kommen die Spieler auf die Spur dieses Ogers und folgen ihm bis zu einer Art Werbeveranstaltung. Schaffen sie es, sich einzuschleichen, Informationen zu sammeln und erfolgreich zu entkommen, ist die Mission auch schon erfüllt.

Es wäre aber allzu geradlinig, würde es hier nicht eine Verwicklung geben. Die zentrale Ruine dieses Abenteuers ist ein altes Fort der Menschen des Westens. Unter ihr sollen Goblins neue Tunnel durch die Misty Mountains anlegen und haben dabei eine uralte Kammer entdeckt. Hier war ein Geist verborgen, der einst in die Dienste Saurons gezwungen wurde. Können die Spieler zusätzlich das Leiden dieser Kreatur beenden und damit den Schatten eines Dieners berauben?

Concerning Archers

Es gibt Geschichten, die sind nur für echte Tolkienfans geeignet, und würden so wohl kaum in anderen Systemen ausgespielt. Die Kameraden treffen in Rivendell Bilbo Baggins, der mit einem Elfenhistoriker darüber streitet, ob Hobbit-Bogenschützen bei der Verteidigung Fornost Erains mitgekämpft haben oder nicht. Der umtriebige Hobbit wird versuchen, die Gruppe dazu zu bewegen, in dieser Ruine mal nachzusehen. Ein solcher Zwiestreit mag in Mittelerde Sinn machen, wo die Völker auch um ihr Andenken ringen. Damit aber die Spieler nicht das Gefühl kriegen, sich für eine Kleinigkeit in Gefahr zu begeben, legt Glorfindel noch eine Schippe drauf und engagiert die Gruppe als Kundschafter, um Aktivitäten des Feindes in der Gegend zu sondieren.

Beim Durchforsten der alten Königsstadt trifft man auf eine Raubgrabung unter Leitung eines diebischen Zwergs, auf eine Orkhorde, böse Geister und die unerlösten Hobbitschützen, die dort noch immer spuken. Eher geradlinig lassen sich so alle Missionsziele erfüllen. Im Untergrund hätte auch eine Karte nicht geschadet, man kann ihr Fehlen aber verschmerzen.

The Company of the Wain

Völlig ruinenlos geht es in „The Company of the Wain“ zu. Man kommt hierbei den unsauberen Umtrieben einer Handelskarawane auf die Spur, die im dünn besiedelten Eriador von Ort zu Ort zieht. Die Spieler könnten hierbei sogar Saruman zum ersten Mal auf die Schliche kommen, der steckt nämlich hinter dem Mummenschanz. Die Autoren setzen in The One Ring jedenfalls die Intrigen der Hauptakteure des Herrn der Ringe gut um, man fühlt sich als Teil einer lebendigen und sich fortentwickelnden Spielwelt.

Den Spionen kommt man am ehesten über ihre finsteren Geschäfte auf die Spur – ob sie nun Gandalfs Lieblingsfeuerwerker verschleppen wollen oder die misstrauische Gruppe in einem Dorf anschwärzen. Es gibt einiges zu entdecken und durchleben, und man hat als Spieler die Wahl des Vorgehens. Vor ein Dorfgericht mit der versammelten Bevölkerung gestellt zu werden ist jedenfalls eine erinnernswerte Begegnung. Auch das Ende bleibt offen – ob man die Unholde nun den Rangers of the North überlässt oder sie gar in zukünftigen Abenteuern wiederkehren, entscheidet sich im Spiel. Mit dieser Wahlfreiheit und flexiblen Einbindung in andere Storylines hebt sich „The Company of the Wain“ von den meisten Szenarien für The One Ring ab.

What Lies Beneath

Ein Bestandteil von The One Ring ist, dass es ein stetiger Kampf ist, der verderbenden Wirkung des Schattens zu entkommen. Die Gruppe begleitet einen Ranger, der das alte Herrenhaus seiner Familie von Banditen befreien und zu einem Unterschlupf für Agenten des Lichts machen will. Leider ist der Gute dabei, das letzte Bisschen Verstand zu verlieren, weil ihn ein verwunschener Urahne heimsucht. Als wäre das nicht genug, entpuppen sich die „Banditen“ als Abenteurergruppe, die sich selbst einen Namen machen will. Diese Geschichte findet ihren dunklen Höhepunkt beinahe wie ein Kammerspiel, wenn alle zusammen in der Ruine übernachten…

Hier entscheidet die Wahlfreiheit der Spieler, wie schnell sie die Umstände durchschauen, wie geschickt sie mit NSC interagieren, und ob sie den Spuk beenden können, bevor zu viele Unschuldige sterben. Auch der SL ist stark gefordert, muss er doch überzeugend den Verrückten und alle anderen NSC so mimen, dass ihr Schicksal die Spieler auch wirklich berührt.

Shadows over Tyrn Gorthad

Episch schließt der Band ab. Die Gruppe tut sich mit niemand Geringeren als Gandalf selbst zusammen. Die bösen Geister der Barrow Downs haben ihre Gefilde verlassen und bedrohen die umliegenden Lande, also das Auenland und Bree und auch die East Road. Der graue Magier braucht Informationen aus der entlegensten Ecke Angmars. Dort soll man so viel von den nekromantischen Flüchen des Hexenkönigs sammeln, wie man nur kann.

Wäre das nicht schon beschwerlich und gefährlich genug, sucht man jetzt noch Zusatzinformationen über die betroffene Region, bevor man zusammen mit Gandalf die Bannzauber in den Downs erneuert. Ein besonderes Schmankerl in dieser Phase ist sicherlich die Begegnung mit Tom Bombadil, der vielleicht nie die Ehre hatte, in den Filmen aufzutauchen, aber hier sicherlich einen tiefen Eindruck bei den Spielern hinterlassen wird.

Das Abenteuer zieht sich über mindestens zwei separate Spielphasen hinweg und endet mit einem epischen Gefecht, bei dem die Spieler Gandalf vor den andringenden Untoten schützen müssen. Schlaue Spielanlage und taktische Gewitztheit beeinflussen die Erfolgschancen hierbei entscheidend. Selbst wenn SC in dieser Phase sterben sollten, verbleibt doch das Gefühl, an einem zentralen Teil der Geschichte dieser Lande mitgewirkt zu haben. Spielgruppen haben zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon 20 spielinterne Jahre auf dem Buckel, und die hart errungene Erfahrung können sie hier sicherlich brauchen.

Es menschelt

The One Ring wurde gelegentlich vorgeworfen, vorrangig eine „Wandersimulation“ zu sein. Tatsächlich nehmen sich die Regeln der langen Reisen durch Mittelerde ja auch an, und auch hier führen viele Abenteuer von Ort zu Ort auf beschwerlichen Wegen.

Mein Eindruck bei Ruins of the North ist aber, dass weder das Reisen noch die namensgebenden Ruinen den Hauptanteil des Bandes ausmachen, sondern die vielfältigen Interaktionen mit hervorragend ausgearbeiteten NSC! Die Abenteuer „Nightmares of Angmar“, „The Company of the Wain“ und „What Lies Beneath“ sind randvoll mit Personen, denen die SC begegnen können. Hier steckt viel Herzblut der Autoren drin.

Auch auf Seiten der Gegner mangelt es nicht an bemerkenswerten Figuren. Es gibt viele, die mit Namen und Beschreibung gut herausgearbeitet sind, und alle wichtigen Gegner und Begegnungen wirken sehr individuell und stimmig im Rahmen der Tolkienschen Welt. Auch hier wird durchaus mit Überraschungen aufgewartet.

Ein paar Elfen und Zwerge dürfen auftreten, doch zumeist sind es die Menschen Eriadors und manchmal auch Wilderlands, die hier auf die Bühne drängen. Direkt oder indirekt sind auch bedeutende Charaktere der Romane vertreten: Gandalf, Saruman, Bilbo, Glorfindel, Elrond und Tom Bombadil. Ihren gestiegenen Möglichkeiten entsprechend beginnen erfahrene Charaktere nun also wirklich, in die größeren Geschehnisse Mittelerdes einzugreifen. Der Schwerpunkt verlagert sich hierbei vom Hobbit zum Herrn der Ringe, obwohl das Ende des Ringkriegs noch ca. 40 Jahre (oder je nach Spielanlage noch mehr) in der Zukunft liegt.

Kartographie: Fehlschlag ohne Sauron-Rune

Die Karten im Band hinterlassen bei mir gemischte Gefühle. Zum einen sind sie äußerst ansprechend gemacht und sehen einfach stimmungsvoll aus. Zum anderen ist ihre Nützlichkeit stark begrenzt.

Ein wenig Kritik ist hier durchaus angebracht: Keine der Karten hat einen Maßstab. Zwar ist The One Ring kein Spiel für Dungeon Crawling, aber die Karten stellen ja die jeweiligen Lokalitäten dar, die auch der SL seinen Spielern präsentieren muss. Das wird dadurch erschwert, dass die Karten zwar ohne Verschnörkelung auskommen, gerade aber Höhlen so verwinkelt und kunstvoll gezeichnet sind, dass der SL diese wohl kaum abpinseln kann. Vielleicht kann man sich hier noch mit Abdecken der Originalkarte behelfen, da diese Karten zumindest ohne beschreibenden Text auskommen.

Noch größer ist das Problem bei der Karte von Carn Dûm aus dem ersten Abenteuer. Diese ist zur Hälfte ein kunstvoll gemaltes Bild und zur Hälfte eine stilisierte Karte, die mit diesem Bild verschmilzt. Legt man den Spielern das Bild vor, vergibt man aber vielleicht wertvolle Hinweise, für die die Spieler eigentlich Arbeit investieren müssten, weil quer über das Bild bereits Nummern an wichtigen Stellen vergeben wurden. Eine übersichtliche Karte der Strukturen an der Oberfläche ist nicht mitgeliefert, ein Bild der Ruine ohne Hinweise und Kartenanteile fehlt auch. Vielleicht kann man den Spielern ja das (nicht identische) Bild aus dem Band Rivendell zeigen, um die richtige Stimmung zu vermitteln. Ich jedenfalls fände es sehr schwer, die Ruine meinen Spielern angemessen zu präsentieren. Das Ganze sieht toll aus, aber hier wurde am falschen Ende gespart. Eine Karte mehr oder die Abbildung alleine hätten hier einen großen Unterschied gemacht.

Preis-/Leistungsverhältnis

Wie bei anderen Büchern der Reihe ist das PDF mal wieder preislich zu hoch angesetzt gemessen an der Seitenzahl. Es lohnt sich hier entweder auf eine Preisreduktion in Form eines Sales auf RPGNow zu warten oder gleich das Hardcover im Rahmen des von Cubicle 7 unterstützten „Bits & Mortar“-Programms zu kaufen und das PDF gratis dazuzubekommen. Erhält man Print und PDF zusammen, erscheint mir der Preis angesichts des hochwertigen Produkts als gerechtfertigt.

Erscheinungsbild

Ruins of the North One Ring CoverSeit The One Ring auf das Hardcoverformat umgestellt hat, sind die Bücher einfach nur wunderbar. Die Illustrationen sind ein Gedicht. Die Bücher haltbar und schön gestaltet. Die Schrift gut lesbar, der Textsatz angenehm für das Auge.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Cubicle 7 Entertainment Ltd
  • Autor(en): Adam Dials, James R. Brown, Richard Harrison, T.S. Luikart, Marco Rafalá, James M. Spahn
  • Erscheinungsjahr: 2015
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF | Hardcover
  • Seitenanzahl: 144
  • ISBN: 978-0857442499
  • Preis: 22,99 USD (PDF) | ab 34,95 EUR (Print)
  • Bezugsquelle: Amazon (Print) | DriveThruRPG (PDF) | Sphärenmeister (Print+PDF)

 

Bonus/Downloadcontent

Nicht vorhanden. (Die digitale Version enthält die Karten Eriadors als Zusatz-PDF.)

Fazit

Nicht jeder traut sich zu, überzeugende Geschichten innerhalb des Kanons Mittelerdes ansiedeln zu können. Darum ist es auch so wahnsinnig wertvoll, dass die Autoren von Bänden wie diesem so ausgezeichnete Arbeit leisten und damit uns Spielleitern gutes Material an die Hand geben, mit dem wir arbeiten können.

Die Mischung macht’s. Es wird gereist, erforscht, gekämpft und mit NSC und Gegnern interagiert. Dabei werden auch die Ecken erkundet, die Hobbit und Herr der Ringe eher nur streifen oder von denen man sogar nur andeutungsweise hört. Das ist spannend für Spieler und SL gleichermaßen.

Der Besitz des Schwesterbands Rivendell ist dringend anzuraten – zu oft wird querverwiesen. Diese einseitige Abhängigkeit gab es schon zwischen The Heart of the Wild and The Darkening of Mirkwood und sie wird sich auch bei Horse-lords of Rohan und Oaths of the Riddermark wiederholen.

Ruins of the North ist einfach nur gut. Es hat mich sofort in den Fingern gejuckt, es zu leiten! Es liest sich gut, es hat viele Facetten, es macht die Welt lebendig. Mit viel Gefühl für das Originalmaterial wurden auch zentrale Figuren des Herrn der Ringe eingebunden, und das Ganze wirkt wie aus einem Guss. Das ist sicherlich keine kleine Leistung!

Meine Empfehlung: Ohne Reue kaufen!

Daumen5maennlich

Artikelbilder: Cubicle 7 Entertaimnent Ltd

 

8 Kommentare

  1. […] Um das Ganze noch etwas bizar­rer zu machen, ent­hal­ten das Grund­re­gel­werk und die bei­den genann­ten ande­ren Ver­öf­fent­li­chun­gen jeweils Teile einer fort­lau­fen­den Kam­pa­gne. Anstatt diese also sepa­rat zu ver­öf­fent­li­chen, zieht sich diese durch die Quel­len­bände. Dies erspart einem aber immer­hin das umge­kehrte Deba­kel, dass sich bei The One Ring, auch aus dem Hause Cubi­cle 7, die Kam­pa­gnen ohne die sepa­ra­ten Quel­len­bände nicht spie­len lie­ßen. […]

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