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In meiner Kolumne „Die Letzte Seite“ möchte ich in regelmäßigen Abständen Schlaglichter auf Phantastik und Co. werfen. Heute befasse ich mich mit Tabus und Tabubrüchen, mit moralischen Grenzen und dem viel zitierten „guten“ Geschmack.

Man muss nicht immer über angenehme Themen schreiben, und man hat auch keine Pflicht, in seinen Geschichten über blühende Wiesen und hoppelnde Häschen zu schreiben. Natürlich gibt es auch ein Publikum für diese Utopien, aber das meiste Geschriebene befasst sich eher nicht mit dieser Ausrichtung – zumindest nehme ich das in der Phantastik nicht so wahr.

Die meisten Ergüsse, die dieser Stilrichtung zuzuordnen sind, haben alles, was das Herz von uns großen und kleinen Nerds und Geeks höher schlagen lässt: Eine packende und (in ihren Grenzen) schlüssige Welt, Protagonisten, denen man gerne folgt – vielleicht, weil es einfach coole Säue sind–, ein wenig Mystik oder Horror, vielleicht einen Schuss Politik und Intrigen. Was nicht fehlen darf, sind einer oder mehrere Antagonisten und dann auch noch Blut. Tatsächlich, die meisten Romane der Stilrichtung kommen nicht ohne handfeste Konflikte aus. Gewalt ist Teil der Welt, die beschrieben wird, und damit auch logischerweise ein Element der Handlung. Mal stärker und mal schwächer.

Daran ist an sich nichts auszusetzen. Kaum etwas verleiht einem Buch so viel Würze, wie ein haarscharfer Kampf, der vielleicht über mehrere Kapitel aufgebaut wurde, eine Verfolgungsjagd oder – im Bereich Fantasy gern genommen – eine Schlacht. Es ist einfach spannend, zu fiebern. Und es greift wahrscheinlich auch der alte Drang des Voyeurismus: Gewalt aus sicherem Abstand zu beobachten (und nicht selbst zu erleiden), hatte wohl schon immer seinen Reiz. Die römischen Arenen, aber auch die modernen Box- oder Mixed-Martial-Arts-Ringe sind für mich ein klarer Beweis dieser These.

Und an sich ist das ja auch in Ordnung. Ich bin bei Leibe kein Pazifist, was das Schreiben angeht. Tatsächlich haben einige Werke einen recht hohen „Killcount“, so dass ich der Letzte wäre, der dieses Phänomen der Phantastik in Frage stellen wollen würde. Aber es ist wie überall – es gibt einen schmalen Grat zwischen Stilmittel und dem scheinbaren Drang, schocken zu wollen und Tabus zu brechen. Und es scheint, angetrieben durch das mittlerweile bekannte A Song of Ice an Fire bzw. die Serienadaption Game of Thrones, eine entsprechende Richtung zu geben. Sicher nicht für die gesamte Phantastik, aber für Teile davon.

Ich sehe die Gefahr, dass eine Menge Schreiberlinge auf den Zug aufspringen wollen und werden, der mit Game of Thrones gerade eben sehr erfolgreich ist. Die Serie erfreut sich trotz (oder gerade wegen?) ihrer Tabubrüche und Schocker einer enormen Beliebtheit und es scheint verlockend, dass man eben auf dieser Welle mitschwimmen will.

Regeln? Die sind da, um gebrochen zu werden!

Gerade Game of Thrones polarisiert schon von Beginn der Serie an mit Tabubrüchen, die – subjektiv betrachtet – in den letzten Staffeln erheblich zugenommen haben. Ein Wort der Warnung zu Beginn: Staffel 5 ist durch, ich setze die Schockmomente als gegeben voraus. Wer die Staffel nicht gesehen hat und keine Spoiler erfahren will, der hört nun auf zu lesen.

Denjenigen, die jetzt immer noch bei mir sind, möchte ich die bekanntesten Brüche in den Kopf rufen: Die explizite Darstellung von Folter, Vergewaltigung, Kindsmord, Hinrichtungen, Massaker und, mit trauriger Berühmtheit, die „Red Wedding“. Während man dem Lied von Eis und Feuer unterstellen kann, dass diese Elemente Teil der Welt sind, drängt sich in der Serienadaption das Gefühl auf, all diese (teils von der Vorlage erheblich abweichenden) Dinge sind nur inszeniert, um zu schockieren und hierdurch zu polarisieren. Die Darstellung dieser Handlungen schafft Quote, und letztlich geht es bei einer Serie nur darum. Wenn es aber so weit kommt, dass man als Konsument nur noch erwartet, dass der nächste Tabubruch kommt (und der schlimmer sein muss, als die vorherigen, um Effekt zu zeigen), dann läuft ganz viel ganz falsch.

Die „reale“ Welt contra die Welt in Büchern

Spricht man über die Tabubrüche, die George R. R. Martin in seinen Büchern produziert, dann schlägt einem bald das Scheinargument entgegen: „Das ist realistisch!“. Warum Scheinargument? Weil Martin Fantasy schreibt. Mit Drachen. Und Zombies. Und wahnsinnig inkompetenten Herrschern. Während letztere noch realistisch sein können, sind die ersten beiden Punkte es nicht. Der Autor schreibt über eine fiktive Welt, Realismus kann per se also kein Argument sein.

Und natürlich: Schaut man in die menschliche Geschichte, dann sieht man, dass es dort noch weit übler zugegangen ist, als das, was die meisten Autoren in ihren Büchern zeichnen. Wo also ist das Problem?

Ganz einfach in zwei Punkten. Unsere Welt ist, wie bereits angerissen, eben kein netter Ort. Hier herrschen Ungerechtigkeit und Gewalt an allen Ecken und Enden. Ein Umstand, den man gerne übersieht, wenn man im behüteten Europa groß geworden ist. Dank der modernen Medien kann ich mich dem als einigermaßen aufgeweckter und interessierter Mensch aber nicht entziehen. Sie sind voll von Horrormeldungen. Warum zum Teufel sollte ich aber ein Buch lesen? Um dort genau den gleichen Schrecken zu finden, den es in der realen Welt auch gibt? Ich persönlich bin ja der Ansicht, dass Menschen Bücher lesen, um zu träumen. Die meisten zumindest. Und darin geht es wohl nicht um Albträume ;).

Und der zweite Punkt ist der: Es gehört keine große Kunst dazu, einem Leser bildgewaltig und schauerlich zu beschreiben, wie Bluttaten vonstatten gehen. Mit ein bisschen Übung ist es einfach, das Geräusch reißender Haut und gespannten Fleisches zu beschreiben, das feuchte Schmatzen, das ein stumpfer Gegenstand erzeugt, wenn er auf ein menschliches Gesicht trifft oder aber die Symphonie knackender und berstender Knochen unter den Hammerschlägen eines Irren Folterknechts. Ja, man kann das gerne verwenden, um einzelne, drastische Szenen zu beschrieben (das mache ich zuweilen auch), aber eigentlich ist es langweilig.

Der Drang, schockieren zu wollen, schafft dann nur eine Aneinanderreihung von Blut und Gedärmen, die ab einem bestimmten Punkt nur noch bizarr wirken, bei zu gedrängtem Einsatz jedoch völlig in ihrer Wirkung verpuffen.

Die leisen Töne

Für mich war immer eine Prämisse ganz klar: Willst du deine Leser wirklich packen und schockieren, dann beschreibe bestimmte Szenen nicht bis ins kleinste Detail. Nutze Andeutungen, Gespräche, Gerüchte – aber beschreibe nicht! Machst du es richtig, beflügelst du ihre Fantasie. Und die ist mörderischer und realistischer, als du es als Autor mit deinen Beschreibungen jemals zu sein vermagst. Streue Andeutungen, lasse Dinge unausgesprochen und vage. Der interessierte Leser fügt sich sein Bild selbst zusammen.

Diese Herangehensweise hat auch noch ganz andere Vorteile. Du musst keine Tabus brechen. Du musst dich nicht als Bote von Blut und Gedärmen verdingen. Leser mit einer hartgesottenen Fantasie werden entsprechen harte und drastische Szenen im Kopf haben, solche mit einem eher wackligen Magen haben andere, angepasste Szenarien im Kopf.

Diese leisen Töne sind es, die ein Autor eigentlich treffen sollte. Natürlich macht man sich mit dem Brechen von Tabus und dem Einreißen von Grenzen schnell einen Namen. Aber wenn man mal ganz ehrlich zu sich ist: Mag ich es wirklich, eine detaillierte Vergewaltigung beschrieben zu bekommen? Oder beiße ich mich dort nur durch, weil ich Hoffnung habe, dass die Geschichte noch einmal besser wird? Würde es mir nicht einfach reichen, wenn der Autor an einem bestimmten Punkt der Erzählung einfach einen Schnitt setzt und den Rest mir überlässt? Für mein Gefühl: absolut!

Abstumpfen

Und dann ist da noch die andere Sache: Das erste Mal ist immer das intensivste. Danach nimmt die Erregung merklich ab. Sicher, es gibt immer wieder Erfahrungen, die es schaffen, nah an den ersten Moment zu kommen, aber im Grund ist klar, wohin die Reise geht.

Bestimmte Horrorszenarien sind für mich mittlerweile beispielsweise unheimlich trocken und langweilig. Weil man es so schon mal erlebt hat. Leider setzt das fast augenblicklich die Schraube nach schneller, höher und weiter in Gang, die wiederum zu den Tabubrüchen führt, die ich weiter oben beschrieb. Ob das notwendig ist? Ich glaube nicht. Wir Menschen sind ja gerne Gewohnheitstiere, die Routinen mögen. Haben wir in der Phantastik einmal unseren Drall gefunden, müssen wir ja nicht immer wieder auf zu neuen (und blutigeren) Ufern, oder?

Das Abstumpfen lässt sich übrigens sehr gut beschreiben. Der erste Teil der SAW-Reihe war ein Bruch mit Konventionen, schockierte und ließ einen manchmal ratlos zurück. Danach waren es nur noch immer blutigere Tabubrüche, an denen sich die ganze Reihe entlangzog. Nichts neues – sondern einfach nur mehr Blut, mehr Ekel, mehr Gedärm. Der Tabubruch ist zum Selbstläufer geworden, der hinterher nicht einmal mehr schockte, sondern erwartbar war. Anders war es beim großartigen Johnny zieht in den Krieg. Ohne Blut und Gedärme hat es dieser Antikriegsfilm geschafft, echte Gänsehaut zu erzeugen. Eben weil man nicht zeigte, wie dem Protagonisten Arme und Beine abgenommen und das Gesicht operiert wurde. Sondern weil man zeigt, wie es sein kann, gefangen in seinem eigenen Körper zu sein, fast unfähig, mit der Umwelt zu interagieren. Das war erschreckend. Aber es war nicht mit hunderten Litern Kunstblut erkauft.

Das Ende vom Lied

Letztlich muss jeder für sich selbst entscheiden, was ihm gefällt. Natürlich gibt es auch Leser, die den beschriebenen Tabubrüchen nachjagen, für die eben diese Elemente die treibende Kraft sind.

Ich hingegen möchte für Geschichten plädieren – und nicht für eine generische Aneinanderreihung möglichst brutaler, grausamer und abstoßender Szenen. Denn die kann ich auch haben, wenn ich einfach mal ein bisschen im Web surfe.

Artikelbild: corepics | (c) fotolia

 

12 Kommentare

  1. Vielen Dank für den Artikel! Finde ich durchaus bedenkenswert.
    Zumal ich das Gefühl habe, dass dieses „Höher, schneller, blutiger, brutaler“ auch dazu führt, dass manche gute Geschichten einfach untergehen …

    Zumal ich den Tabubruch um des Tabubruchs willen noch nie so interessant fand …

  2. Zu Beginn fand ich den Artikel doch sehr interessant, er begann genau so wie ich dieses Thema angehen würde…
    aber leider scheint es für mich eher in eine Kritik am Erfolg von Game of Thrones, Sie schreiben das es „besser“ ist subtiler zu sein, das bei Game of Thrones durch Tabubrüche und solche Beschreibungen quasi der einzige Erfolgsgarant ist.
    ich persönliche lese fast ein wenig Neid heraus, der richtige Ansatz aber dann doch die beleidigte Leberwurst?

    Und zum Schluss dann leider doch nur die „Also ich finde es besser das…., aber muss ja jeder selbst wissen“ – Floskel.
    Ich hab mir mehr erhofft vom Artikel, er wirkte nicht wie Kritik… sondern wie „Find ich doof weil ist so“.

    Ich hätte mir eine andere Art der Auseinandersetzung gewünscht, vielleicht ein näherer Blick auf die Psychologie des Menschen? Nicht nur die Annahme „Ist halt geil sowas zu sehen, wenns einem nicht selbst passiert“. Es ist eine tiefliegende Neugier die Frage „Was ist wenn“ die die Menschheit immer schon getrieben hat… lieber das Hinterfragen eben jener Gedankengänge wäre toll gewesen. Nicht nur die bloße Frage in den Raum werfen und zu sagen „Find ich doof“.

    Ganz persönlich dann noch… den Erfolg zu kritisieren wo selbst keiner ist? Der Autor ist mir völlig unbekannt, ich hab google dazu befragt, keines der Werke ist mir ein Begriff und ich bewege mich recht viel im, vom Autor angesteuerten, Sektor der Fantasy und Sci-Fi. Das ganze wirkt mir zu sehr nach mimimi und einer Art: ich weiß wies besser geht und das andere Erfolg haben liegt am „uninteressierten“ Leser.

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