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Unter den Pseudonymen Lillian A. Darling und Rupert Dance, deren wahre Identität noch offenbart werden mag, nahmen sich zwei Autorinnen offenbar einer Herzensangelegenheit an: der Neuinterpretation volkstümlicher Märchen. Zuerst rein in E-Book-Form, erschien dieses Werk im März 2015 auch in einer Printversion und zollt damit, zu Recht, auch der alten Tradition des gedruckten Wortes modernen Respekt.

Story

Das Werk Blaue Feen & Weiße Königinnen beinhaltet eine Sammlung von Kurzgeschichten und Gedichten. Diese behandeln Neuinterpretationen sogenannter volkstümlicher Märchen.

Von Schneewittchen über La Barbe bleue (deutsch: Der Blaubart), die Schneekönigin und das Aschenputtel bis hin zum Tapferen Schneiderlein finden sich 13 Kurzgeschichten und drei Gedichte. Die Märchen, die als Grundlage dienen, erfuhren hier eine teils grundlegende Veränderung. Sie werden teilweise in einen moderneren Kontext verlagert, mitunter gar düsterer gezeichnet als das Original oder aus einer anderen Perspektive erzählt.

Die Essenz der Märchen, so auch der Nebentitel des Werkes, ist hier das Ziel in all jenen neuinterpretierten Mären. Dies wird im Quasivorwort deutlich betont wie auch die Gedankengänge, die sich der Leser selbst stellen mag, oder sich zu den originalen Märchen bereits früher stellte. Wo in den Originalen die Welten oft in ein klares Schwarz und Weiß getrennt waren, wo das blonde Haar einer Maid für Unschuld und das Gute, die schwarzhaarige Hexe für das Böse stand, verwischen nun diese Grenzen. So ist Rapunzel, bekannt dafür ihr Haar aus ihrem Turm herabzulassen, in Der letzte Märchenprinz immer noch genauso ansehnlich wie das bekannte Original. Diesmal jedoch verbirgt sich ein dunkles Geheimnis hinter ihrer Anwesenheit im hohen Turm.

In Herz aus Eis finden wir keine Eiskönigin, sondern einen Eiskönig. Dezent grämt sich jener über das vermeintliche Vergessen seiner Existenz durch die Menschen. In einem Pub bereitet er sich für einen letzten kalten Schrecken vor.

Allzu liebliche Meerjungfrauen erleben wir in My Darkest Water, dem Hans Christian Andersens Den lille Havfrue zugrunde liegt. Doch sind die Meerjungfrauen, was sie scheinen? Verzaubern sie die Menschen mit ihrer schönen Pracht, wollen ihnen nur Gutes?

Das tapfere Schneiderlein ist nun nicht mehr männlich, sondern ein keckes Weibsbild mit ebenso großer Klappe wie das Original. Mit Riesen, Wildschweinen und Einhörnern muss sie sich herumplagen, um im Dorf ihren gerechten Lohn zu erhalten.

Auch das Rotkäppchen aus den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm findet seinen Platz. „Oma, warum hast du so große Augen?“ erfährt hier eine neue Bedeutung und die Mär selbst einen neuen Schrecken.

Alle Kurzgeschichten bieten ihren ganz eigenen, dem Märchen angepassten Spannungsbogen und ihren ganz eigenen Blickwinkel.

Die Gedichte, die sich dem Dornröschen, dem Aschenputtel und Schneewittchen widmen, sind in einer moderneren Sichtweise geschrieben. Auch hier wird die Essenz, das Wesen der ursprünglichen Märchen, hervorgelockt, dem Leser dezent präsentiert und gewandelt, ohne sie im Kern allzu stark zu transformieren.

Die Autorinnen

Um wen handelt es sich bei den Autorinnen? Diese Frage kommt schnell auf. Im Buch selbst werden die beiden Pseudonyme mit etwas Leben gefüllt. An dieser Stelle sollen die Eigenvorstellungen für sich selbst sprechen:

„Rupert Winston Basil Dance, geboren am 11. Juni auf der Isle of Skye, Schottland, ist ein preisausgezeichneter Novellist (VINCENT PREIS als „bester Fantasy Roman national 2012“ für den Bestatter Roman Kaltgeschminkt), Drehbuchautor und Dramaturg. Nach seinem Studium in The Arts and Media und Literature: 19th Century / Romanticism in England, machte sich der ehemalige leitende Buchhändler als Autor für Bühne, Film, TV und Buch, selbständig. Er drehte Imagefilme, Music Videos und arbeitete bereits mit dem The Dungeon/Merlin Entertainments, dem Imperial Krimi Theater und den University Players des English Theatre in Hamburg. Letzteren diente er als Script-consultant für die Inszenierung New Frankenstein. Er übersetzte den britischen Erfolgsautor Jonathan Green ins Deutsche, und arbeitet mit Filmemachern und Anthologisten aus den USA, Kanada, Großbritannien und der Schweiz.“

„Die in Hamburg geborene Autorin und Literaturwissenschaftlerin Lillian Anne Darling, wollte als Achtjährige Opernsängerin werden, und ließ demzufolge auch zwanzig Jahre später als Polly Peachum in Brechts „Die Dreigroschenoper“ auf der Bühne ihre Stimme hören. Doch letztendlich lag ihr das Fabulieren mehr im blauen Blut (es heißt, in ihrem Stammbaum habe es alten dänischen Adel gegeben). Mit dem Erwerb der Schreibfähigkeit, erwachte auch die Lust am Formulieren. Bereits im zarten Alter von fünf Jahren diktierte sie ihrem schmunzelnden Vater Märchen in die Feder. Studiert hat sie später, was sie faszinierte: Literaturwissenschaft, Geschichte, Philosophie. Nach Projekten als Regieassistentin (u.a. am Matthias Claudius Theater in Hamburg) sowie langjähriger Tätigkeit als Lektorin und Werbetexterin, verdient sie seit 2006 als freie Autorin ihre Brötchen.“

Die Pseudonyme werden, wie die Beschreibungen dem Kundigen andeuten, nicht sehr konsequent gehalten. Auch im Buch selbst wird bereits am Anfang offenbar, dass es sich bei Rupert Winston Basil Dance um die schottische Autorin Rona Walter handelt. Hinter Lillian Anne Darling verbirgt sich die Hamburger Autorin Kristina Lohfeldt.

Warum also zwei Pseudonyme, wenn die Identität so schnell offenbar wird? Laut Aussage von Walter und Lohfeldt in einem Interview für den Zauberspiegel wurde dies nicht für die Außenwelt, sondern als eine „Art Eigenüberlistung“ genutzt. Beide Autorinnen gedachten sich so von ihren bisherigen primären Genres zu lösen.

Schreibstil

Der Schrecken zuerst: Die Geschichten sind allesamt nicht allzu leicht zu lesen. Das Gute danach: Das dürfen sie auch nicht sein, sind doch alle aufgegriffenen Mären in ihrer eigentlichen Form nicht in moderner Sprache verfasst.

Dieses Werk, seine 13 Kurzgeschichten und drei Gedichte, ist keines, das man mit einem Ohr am MP3-Player auf dem Weg zur Arbeit in der Bahn liest. Wenn man es doch täte, so täte man gleichzeitig der Atmosphäre der Erzählungen Unrecht. Auf die Atmosphäre muss sich eingelassen werden, gleich wie man sich früher auf die ursprünglichen Märchen einließ.

Die Gewalttätigkeit vieler alter Märchen wird hier nicht erreicht. Blutige und aus heutiger Sicht wohl auch sexistische Grundthemen werden umgangen. Betont werden sollte, dass sie nicht auffällig vermieden werden. Es ist schlicht der Fokus der Erzählung, der in einem subtileren Kontext angesiedelt ist. Einige Kurzgeschichten erfahren beinahe als cthuloid, den Welten H.P. Lovecrafts entsprungene, Momente, mit denen man als Leser nicht gerechnet hätte. So sind es eher die kalte Verwunderung, der subtile Schrecken und die schmunzelnde Neugier, die den Platz der brachialen Gewalt einnehmen.

Die bewusst und gekonnt genutzte alte Schriftsprache verschnörkelt sich in langen Sätzen, wandelt ihre Bedeutungen und weiß den Leser einzuwickeln. Lektoren moderner literarischer Werke, die dem heutigen Zeitgeist frönen, mögen in Schreck erstarren. Hier ist dies genauso Teil der Essenz der Märchen, wie es der Inhalt selbst ist. Inhalt und Schriftbild gehen in Blaue Feen & Weiße Königinnen eine enge Symbiose ein, die nur miteinander funktioniert und Früchte zu tragen weiß. Doch ist gerade dieses Schriftbild nicht für jedermanns Geschmack geeignet.

Letztendlich bietet dieses Werk die Möglichkeit, alte Märchen neu interpretiert zu erfahren und Motive zu hinterfragen. Dies nicht auf eine allzu moderne Weise, doch auch nicht als bloße Kopie der Originale. Auch Leser, die die Originalmärchen nicht kennen, können sich in ihnen verfangen. Derjenige, der die Originalmären kennt, wird jedoch deutlich mehr an Perspektivwechsel und Kopfarbeit erfahren.

Die Gedichte, die auflockernd zwischen den Kurzgeschichten platziert sind, lassen sich gut lesen. Der Rhythmus stimmt und bringt den Leser dazu, ihn fast von allein aufzunehmen.

Preis-/Leistungsverhältnis

Für 6,96 EUR in der Printversion sowie 3,99 EUR in der E-Book-Version, bekommt man, laut Amazon, 146 Seiten geboten. Schaut man genauer hin, so sind es 135 Seiten Lesestoff plus weitere Informationen und Quellen zu Märchen und den beiden Autorinnen. Das Preis-/Leistungsverhältnis gibt hier keinen Anlass zu klagen.

Erscheinungsbild

blaue feenDas Erscheinungsbild des E-Books ist solide, die Seiten sind gut zu lesen. Die Gedichte füllen, ihrem Rhythmus entsprechend, nur halbe Seiten. Was im E-Book jedoch kurz auffiel, war der Eindruck, die Buchstaben seien sehr fein dargestellt. Es wirkt, als gäbe es bei großer Auflösung Lücken in den Buchstaben, als würden Teile fehlen. Dies ergibt sich aus einer sehr feinen Buchstabenzeichnung.

Stört dies noch nicht beim E-Book, verhärtet sich dies in der Printversion jedoch zu einem kleinen Makel. Die Druckqualität ist leider nicht die beste, so wirkt der Druck etwas schwach. Zusammen mit den sehr feinen Buchstaben wirken manche Textstellen tatsächlich etwas blass und nebulös.

Auf dem Cover ist eine sich auf schwarzem Grund spiegelnde Krone mit ausgelaufener blauer Flüssigkeit zu sehen. Auf der Rückseite ist dieselbe Krone abgebildet, diesmal mit an Blut erinnernder Flüssigkeit. Für die Covergestaltung zeichnet Marcus Schwammberger verantwortlich.

Leider sind die Namen der Autorinnen auf dem Cover bei näherer Betrachtung etwas grobkörnig, digital dezent pixelig, niedergeschrieben. Zusammen mit dem Einband, der sich schnell zu wölben begann, ohne mit hoher Luftfeuchtigkeit in Berührung gekommen zu sein, ist die Printvariante eher von mittelmäßiger Druckqualität.

Die harten Fakten:

  • Verlag: CreateSpace Independent Publishing Platform
  • Autor(en): Lillian A. Darling (Kristina Lohfeldt), Rupert Dance (Rona Walter)
  • Erscheinungsjahr: 2015
  • Sprache: Deutsch
  • Format: kleines Taschenbuchformat
  • Seitenanzahl: 146
  • ISBN: 978-1508700890
  • Preis: 6,96 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Nach dem ersten Gedicht wurde ein Quasivorwort mit der Intention der Autorinnen und gedanklichen Motivationen für die Leser verfasst. Das letzte Kapitel bildet eine „psychologische Quiz-Reise durch die Märchenwelt“. Dort kann der Leser herauszufinden versuchen, welcher Märchencharakter aus dem Buch auf ihn am besten passen würde. Dazu wird dem Interessierten gleich eine kleine psychologische Diagnose mitgeteilt.

Darüber hinaus gibt es eine Liste von Märchenbüchern- und Sammlungen, einen Link zu Dina Goldsteins Fallen Princesses sowie Hinweise auf potenziell interessante Filme für den Märchenliebhaber

Fazit

Die prägnanteste Aussage, die als Fazit zu diesem Buch dienen kann, lautet: Auf dieses Buch muss man sich einlassen.

Es ist nicht anspruchslos, eignet sich nicht, um es nebenbei herunterzulesen. Es ist vom Schriftbild her nicht einfach, es fordert den Leser. Und es fordert auch Gedanken, auf die der Leser sich einzulassen gewillt sein sollte, um die Kurzgeschichten und auch die Gesamtheit des Buches selbst voll ausschöpfen zu können. An vielen Stellen fordert es zudem ein a priori vorhandenes Interesse an der Thematik.

Diese Sätze mögen sich für viele abschreckend und anspruchsvoll anhören. Meinem Empfinden nach ist dies in einigen Teilen sogar gewollt. Dieses Buch will kein Konsumgut sein, nichts, was man nebenbei herunterlesen und wenige Minuten später bereits in der geistigen Beliebigkeit verlieren kann. Wer dieses Buch kauft, um es so zu behandeln, wird enttäuscht sein. Wer geistige Herausforderung beim Umgang mit Kurzgeschichten wie auch beim Umgang mit der deutschen Sprache mag, der wird hier ein Werk finden, das ihn zu fordern weiß. Wer darüber hinaus ein Freund alter Märchen ist, sie selbst interpretierte und offene Fragen wie etwa „wo kommt der Geist im Spiegel bei Schneewittchen eigentlich her?“ stellte, der wird seine wahre Freude mit diesem Buch haben.

Die Neuinterpretationen regen zum Nachdenken an. Sie verwischen typische Geschlechterrollen in Märchen und drehen sie um. Einige Elemente könnte man daher durchaus als feministisch betrachten, ohne jedoch dieses Thema mit Pauken und Trompeten zu forcieren. Andere Elemente erinnern an die finsteren Bildnisse des H. P. Lovecraft, ohne das Märchenhafte aus den Märchen zu reißen, sie zu entfremden. Keck und frech kommen Elemente in den Gedichten daher, paaren den alten Zauber der Märchen mit modernen Formulierungen und Elementen.

Anders als bei anderen Neuinterpretationen alter Märchen wird die Essenz selbiger hier nicht der Pop-Kultur geopfert. Eben jene Essenz, der Kern dessen, was klassische Märchen ausmacht, verliert sich nicht in Beliebigkeit. Es ist keine Effekthascherei, keine Verwässerung der Erzählart zu Gunsten eines möglichst seichten Verständnisses vorhanden. Was wollen uns Märchen sagen? Welchen Subtext liefern sie? Dies sind die Fragen, die dem Leser bereits zu Beginn des Werks gestellt werden. Diesen Fragen sieht er sich in jeder hier niedergeschriebenen Interpretation gegenüber.

Es bleibt nur zu sagen, dass Märchenfans dieses Buch nur empfohlen werden kann. Wer sich bisher mit klassischen Märchen nicht anfreunden konnte, der mag hier sogar seinen Einstieg finden.

Daumen4Maennlich

Artikelbilder: CreateSpace Independent Publishing Platform

 

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