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Mit dem Spielbuch Der Weg der Wachtel präsentiert Autor Simon Wiese sein Erstlingswerk. Nachdem er 2004 durch den Klassiker Der Hexenmeister vom Flammenden Berg Blut geleckt hatte, entstanden über die folgenden Jahre vier eigene Abenteuer, die im Freundeskreis auf gute Resonanz stießen. Die überarbeitete Zusammenfassung präsentiert das Gesamtwerk in einem Guss und ist seit Anfang 2015 im Eigenverlag über Lulu erhältlich.

Handlung

Der Weg der Wachtel ist mit 826 Abschnitten deutlich umfangreicher als die meisten anderen Spielbücher, die aktuell auf dem Markt zu finden sind. War der ungewöhnliche Titel das erste, das mich zur Lektüre gereizt hat, so wird dieses Detail im Laufe des Abenteuers leider kaum ausgearbeitet. Stattdessen hätte ein normales Japan-Szenario mit einem menschlichen Protagonisten genauso gut funktioniert, das Potential einer Gesellschaft aus Hühnervögeln nutzt der Autor nicht aus. Nur in diversen Kämpfen in der Wildnis zwischen den Städten geht das Buch auf die geringe Körpergröße einer Wachtel ein: Gegner sind zumeist Käfer und Spinnen, wird es sehr gefährlich, sieht man sich auch einmal einer Ratte oder einem Wiesel gegenüber, und der Kampf gegen einen Frischling gleicht einem Todesurteil. Ich hätte sehr, sehr gern gesehen, dass das Potential dieser Idee konsequent weiter ausgebaut worden wäre.

Zu Beginn gibt sich die Geschichte noch sehr beschaulich: Nachdem sich der Protagonist schiffbrüchig am Strand Japans wiederfindet, kann er an einem naheliegenden Bauernhof mehr über die Gegend erfahren und auch für den Landwirt einen ersten Auftrag entgegennehmen. Erst allmählich offenbaren sich dann aber der ungeheure Umfang und die Entscheidungsmöglichkeiten von Der Weg der Wachtel. Sobald der Leser den Bauernhof hinter sich lässt, kann er zu den vier großen Städten Kyoto, Osaka, Sakai oder Hejo aufbrechen. In jedem dieser Orte kann man ausgiebige Streifzüge über den Markt oder in das Vergnügungsviertel machen, sich nach Arbeit umsehen oder das Umland erkunden. Immer wieder stößt man auf kleinere Aufgaben oder Aufträge. Versucht man vielleicht, in Osaka mit Opium die schnelle Münze zu machen, ohne von den Wachen erwischt zu werden? Erkundet man die Eisenminen von Hejo, wo auch ein armer Bergmann verschwunden ist? Oder begibt man sich zusammen mit einem Jäger im Umland Kyotos auf die Pirsch, um Trophäen zu erbeuten? Die offene Spielwelt von Der Weg der Wachtel imponiert dabei mit ihrer Vielseitigkeit und den zahlreichen Handlungsmöglichkeiten, in denen sich immer wieder überraschende Details verstecken.

Dabei geht Der Weg der Wachtel auch nicht gerade zimperlich mit dem Protagonisten um. Neben den fordernden Kämpfen sieht man sich nicht selten offenkundig gefährlichen Optionen gegenüber, die dann auch gnadenlos zum Exitus führen können. Es ist eben keine gute Idee, als Knappe seinen Herrn im Stich zu lassen oder ohne eine Laterne ein Höhlensystem zu erforschen.

Hat man bei der Erkundung Japans schließlich genug Erfahrung und Kampfstärke gesammelt, so kann man sich auch schließlich für eine von drei Klassen entscheiden: In Kyoto kann man sich den Reihen der ehrwürdigen Samurai anschließen oder den Ninjakriegern beitreten, während man auf der Mönchsinsel vor Osaka in die tiefsten Geheimnisse der Magie vordringen kann. Besonders beeindruckt hat mich dabei, dass die drei Klassen nicht einfach nur den Zugang zu individuellen Fertigkeiten oder Ausrüstung ermöglichen. Nein, stattdessen wartet Der Weg der Wachtel für jede dieser Karrieren mit stimmigen und umfangreichen Questen auf, mit denen sich der Spieler als seiner neuen Verbündeten würdig erweisen muss. Als Samurai zeigt man zunächst seinen Mut, ehe man mit seinem Meister im nördlichen Japan gegen die Horden der Ezo in die Schlacht zieht. Als Ninja soll man seine Fähigkeiten beim Ausspionieren eines Komplotts gegen den Tenno beweisen, während man als Mönch verlorenes Wissen aufspürt.

Mit dem Beitritt zu einer Klasse lässt Der Weg der Wachtel auch zunehmend die freie Erkundung der offenen Spielwelt hinter sich und folgt mehr und mehr einer fortlaufenden Geschichte. Die Bedrohung durch die Ezo, denen der Samurai bei seiner Laufbahn bereits als Erster begegnet, steht dabei im Mittelpunkt. So findet auch mein persönlicher Höhepunkt auf dem Weg zum Finale statt: In einem Ezo-Dorf rund um den Tempel finsterer Beschwörer muss der Spieler ständig auf der Hut sein, mitten im Feindesland nicht als Fremder identifiziert zu werden, während er gleichzeitig versuchen muss, Zugang zur Tempelanlange zu erhalten. Die Verzahnung der einzelnen Elemente hat mich doch sehr beeindruckt, wie der Protagonist langsam seine Tarnung verbessert, unliebsamen Zeugen aus dem Weg geht und Verbündete gewinnt.

Leider kann das Finale selbst diese Tiefe nicht mehr ganz halten. Zwar sind dort noch etliche weitreichende Entscheidungen zu treffen, aber die finale Konfrontation erweist sich schließlich als recht geradlinig. Das mag zunächst einen etwas flauen Beigeschmack hinterlassen, den hervorragenden Gesamteindruck der gesamten Geschichte vermag es letztlich aber nicht zu schmälern.

Regeln

Der Weg der Wachtel wartet mit diversen Regeln auf, um die zahlreichen Optionen abzubilden, die sich im Lauf des Abenteuers ergeben. Der eigene Charakter verfügt zu Beginn über 12 Lebenspunkte und 10 Goldstücke, Attribute gibt es nicht. Stattdessen hängt in diesem Spielbuch viel von der Ausrüstung und erlernten Fähigkeiten ab, und folglich sind es auch diese Elemente, bei denen die Regeln eine gewisse Komplexität aufweisen.

So zeigt eine umfangreiche Ausrüstungsliste penibel unterschiedliche Angriffs- und Verteidigungswerte von Nah- und Fernkampfwaffen, den Panzer von Rüstungen sowie deren Verkaufswert. Letzterer ist nicht zu unterschätzen, da es in den Städten stets die Möglichkeit gibt, in Scharmützeln erbeutete Ausrüstung gewinnbringend zu versetzen.

Im Kampf addiert man zum Angriffswert von Waffe und passender Fähigkeit einen W6 hinzu, übertrifft man damit den Verteidigungswert des Gegners, so fügt man diesem die Differenz an Schaden zu. Sieht man sich mehreren Gegnern gegenüber, kann man nur einen davon attackieren. Anschließend schlägt der Widersacher zurück und muss ebenfalls mit seinem Angriffswert plus einem W6 die Verteidigung des Charakters übertreffen. Letztere setzt sich zusammen aus dem Paradewert der geführten Waffe und dem Wert der getragenen Rüstung. Sind die Lebenspunkte eines Kämpfers auf 0 gesunken, so ist dieser erschlagen.

Bei einigen Kontrahenten hat man auch die Option, sie im Fernkampf zu erledigen, bevor diese auf Nahkampfdistanz herangekommen sind. Dazu darf man pro Schuss mit einem W6 den von der Waffe (insgesamt gibt es fünf verschiedene vom Wurfstern bis zur Muskete) vorgegebenen Trefferwert nicht übertreffen. Auch sollte der Spieler dabei seinen Vorrat an Munition nicht aus dem Blick verlieren.

In Kämpfen erworbenes Gold und Erfahrung kann man neben neuer Ausrüstung auch für Lehrmeister aufwenden, die den Charakter in die mannigfaltigen Fähigkeiten einweisen. Die Liste der Fertigkeiten erweist sich ebenfalls als umfangreich, zumal viele davon in mehreren Stufen zu erlernen sind. Im Kampf helfen Schwertkampf, Parieren, Bogenschießen oder Wurfwaffen. Meistert man Talente wie beispielsweise die Kräuterkunde, vermag man eigene Tränke zu brauen, während man als Schmied eigene Waffen und Rüstungen fertigen kann. Ein Jäger hingegen kann mit erlegten Tieren Trophäen präparieren und diese mit Gewinn verkaufen, während Magie dem Charakter erlaubt, Zauber zu wirken, die auch erst einzeln erlernt werden müssen. So beweist Der Weg der Wachtel auch hier eine enorme Tiefe, die mich weniger an ein Spielbuch, sondern fast schon an ein kleines, aber vollständiges Rollenspiel erinnert hat.

Der Zugang zu den drei Klassen Samurai, Ninja oder Mönch schließlich ist erst möglich, wenn die Summe aus Angriffs- und Verteidigungswert mindestens 10 beträgt. Da dies wie oben beschrieben aber erst durch gute Ausrüstung und passende Fertigkeiten möglich ist, muss der Leser zuerst ausgiebig die freie Spielwelt erkundet haben, bevor er sich der fortschreitenden Geschichte entsprechend seiner Klasse widmen kann. Dieser Übergang gelingt in Der Weg der Wachtel durch diese Bedingung mit Bravour, zumal der Leser stets auch in der offenen Spielwelt weitere Erfahrung sammeln darf, sollte er sich der gestellten Queste noch nicht gewachsen fühlen.

Damit die Entscheidungen des Lesers aber auch Konsequenzen haben, fordert das Spielbuch immer wieder dazu auf, ein oder mehrere Kästchen neben der Abschnittsnummer anzukreuzen – insgesamt bei rund 100 solcher Sektionen. Diese Handhabung erweist sich mitunter als etwas umständlich, insbesondere wenn an ganz anderer Stelle nach einem bestimmten Kreuz gefragt wird. Eine einseitige Liste aller solchen Abschnitte im Anhang hilft zum Glück aber, diese Notwendigkeit zu vereinfachen.

Schreibstil

Der Weg der Wachtel nimmt sich Zeit, um seine Geschichte ansprechend zu erzählen. Die Abschnitte fallen dadurch nicht etwa ungebührlich lang aus, stattdessen werden gerade beim Entdecken neuer Orte deren Stimmung und Flair eingefangen.

Nicht immer ist Autor Simon Wiese aber so erzählfreudig. Die Beschreibungen der Städte und der Erkundungsmöglichkeiten darin wirken oftmals sehr gleichförmig, erst bei der genaueren Erforschung der Stadtteile wie Kneipe oder Hafen zeigen sich dann doch die individuellen Unterschiede. Etwas unglücklich wirkt es auch, wenn bei Rätseln die Abschnitte mit den falschen Antworten nur ein sprödes „Weiter bei XYZ“ aufweisen, ohne die Fehlentscheidung zumindest in ein bisschen schmückende Prosa zu verpacken.

Preis-/Leistungsverhältnis

Für rund 15,- EUR über Lulu bietet Der Weg der Wachtel einen enormen Umfang, der den Leser lange beschäftigt. Im Vergleich finden sich selbst bei etablierten Verlagen für einen nur geringfügig kleineren Betrag zumeist Spielbücher, die über deutlich weniger Abschnitte verfügen.

Erscheinungsbild

Weg der Wachtel CoverDas über Lulu produzierte großformatige Taschenbuch liegt gut in der Hand und verkraftet auch das bei einem Spielbuch typische häufige Blättern tadellos. Gerade der Buchrücken ist angenehm stabil und hat bei mir trotz der umfangreichen Lektüre nicht einen Knick gezeigt. Dafür fehlt ihm leider eine Beschriftung.

Das Innenleben von Der Weg der Wachtel ist gut strukturiert. Nach einem lesenswerten Vorwort, in dem Simon Wiese seinen Werdegang vom Fan zum Autor schildert, folgen die gut erklärten Regeln. Im Anhang finden sich noch einmal ein Glossar der wichtigsten Regelbegriffe, ein Gegenstandsverzeichnis und natürlich der Heldenbogen sowie ein Extrablatt mit allen Stationsmarkierungen zum vereinfachten Ankreuzen.

Bebildert wurde Der Weg der Wachtel ebenfalls von Autor Simon Wiese. Macht das hübsch kolorierte Titelbild bereits Lust auf mehr, so sind im Innenteil allerdings kaum noch Illustrationen zu finden. Diese haben auch eher den Charakter von kleinen Vignetten zwischen zwei Abschnitten, ganzseitige Zeichnungen fehlen völlig. Allen Illustrationen ist gemein, dass diese sichtlich die Werke eines Hobbyzeichners sind, auch handelt es sich erkennbar um einfache Bleistiftzeichnungen. Hier hätte es dem Gesamtbild gutgetan, die Grafiken zuvor noch ordentlich zu tuschen, damit sie zumindest auch den klaren Strich des Titels aufweisen können. Für das Werk eines engagierten Autors, der hier einen Rundumschlag liefert, ist dies aber nur ein kleines Manko.

Umso mehr hat mich stellenweise die Aufteilung der Spielabschnitte irritiert. So verweisen die einzelnen Entscheidungsbäume an zentralen Wegpunkten – etwa dem Zentrum einer Stadt, beim Betreten einer Kneipe oder im Gespräch mit anderen Personen – stets auf direkt aufeinanderfolgende Abschnitte. Fast wirkt es so, als hätte der Autor beim Schreiben die so entstehenden Blöcke am Stück runtergeschrieben und die nötigen Abschnittsnummern einfach an den bestehenden Text angehängt. Das ist einerseits nicht tragisch und ist etwa bei Erkundungsgängen in einer Stadt ganz praktisch, weil es viel Geblätter erspart. Andererseits aber lädt es bei schwerwiegenderen Entscheidungen verlockend zum Spicken ein, und seien wir doch ehrlich – wer blättert in einem Spielbuch nicht mal schnell nach, was ihn bei einer anderen Wahl erwartet hätte?

Die harten Fakten:

  • Verlag: Wiese-Fantasy
  • Autor: Simon Wiese
  • Erscheinungsjahr: 2015
  • Sprache: Deutsch
  • Format: broschiert
  • Seitenanzahl: 395
  • EAN: 5-800108-141828
  • Preis: 15,04 EUR (Taschenbuch)
  • Bezugsquelle: Lulu (Taschenbuch), Download (pdf)

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der Homepage zu Der Weg der Wachtel findet man den Heldenbogen samt Stationsmarkierungen zum Ankreuzen von Abschnittsnummern im pdf-Format. Das ist aber nicht alles: Hier gibt es sogar die Möglichkeit, sich das gesamte Spielbuch gratis herunterzuladen. Ein tolles Angebot zum Reinschnuppern, ich empfehle aber dennoch die gedruckte Variante. So verfügt die pdf-Version über keinerlei Verknüpfungen von Abschnitt zu Abschnitt, zudem finde ich persönlich, dass zur ordentlichen Lektüre von Spielbüchern auch das raschelnde Blättern von Papier gehört.

Fazit

Der Weg der Wachtel vollbringt einen grandiosen Spagat zwischen offener Spielwelt und fortschreitender Geschichte. Auf Reisen zwischen vier Städten Japans sammelt der Held Erfahrung bei vielseitigen Aufträgen und Nebenaufgaben, bis er schließlich stark genug ist, dem Tenno im Kampf gegen die Ezo im Norden des Landes beizustehen. Dass der Leser dabei auch noch gänzlich andere, umfangreiche Aufnahmeprüfungen je nach Karriere als Samurai, Ninja oder Mönch zu bestehen hat, steigert den Wiederspielwert nur noch mehr.

Ganz ohne Makel ist dieses Spielbuch dabei aber nicht: Die Illustrationen sind deutlich auf Amateurniveau, die hübsche Idee eines Hühnervogels als Protagonisten kommt kaum zur Geltung, und zum Finale hin haben die Entscheidungen des Lesers nur sporadischen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte.

Bedenkt man jedoch, dass Der Weg der Wachtel eigentlich „nur“ das Werk eines begeisterten Fans ist, der hier sein eigenes Spielbuch der Öffentlichkeit präsentiert, dann kann ich über solche Kleinigkeiten gerne hinwegsehen. Simon Wieses Debüt kann sich locker mit den Publikationen etablierter Verlage messen, so dass ich nur zu einem Urteil kommen kann: Kaufen!

Daumen5maennlich

Artikelbilder: Simon Wiese

 

1 Kommentar

  1. Hi, ich habe gestern einen Podcast entdeckt, der ein Audio-Let´s Play dieses Buches macht. Das Spiel ist super; ich habe es selbst schon gespielt und der Podcast gefällt mir auch gut; hat schon beinahe Hörbuch / Hörspiel Qualitäten und ist es durchaus wert, mal reinzuhören.

    Bei Spotify nennt sich das „Reisetagebuch eines Stubenhockers“, aber hier gibt´s das auch :-)

    https://podcast66f662.podigee.io/

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