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Nach Shadowrun: Returns und dem hervorragenden Shadowrun: Dragonfall bringt Harebrained Schemes nun das dritte Videospiel in der sechsten Welt heraus. Und da alle Teile zur selben Zeit spielen, nämlich etwa 20 Jahre vor der aktuellen Shadowrun-Zeitlinie, kann man nun von einer Trilogie sprechen.

Finanziert wurde das Game wieder über einen erfolgreichen Kickstarter (diesmal satte 1,2 Millionen Dollar). Aber kann das Abenteuer in Fernost die hohen Erwartungen erfüllen? Immerhin glänzte der Vorgänger mit einem spannenden Plot und denkwürdigen Nebencharakteren. Die Antwort vorweg: Jein. Manche Details der Reihe wurden verbessert, an Eigenständigkeit aber gespart und insgesamt nicht genug poliert. Aber eins nach dem anderen …

Die Story: Zwei unterschiedliche Brüder

Der dritte Teil von Shadowrun: Returns dreht sich um zwei ungleiche Brüder. Während Duncan eine Karriere in Seattle als Lonestar-Cop gemacht hat, ist der Protagonist auf die schiefe Bahn geraten und im Gefängnis gelandet (Alles andere, etwa den Namen des Helden, die Umstände seiner Vergangenheit und seine Persönlichkeit, legt der Spieler während des Spiels selbst fest). Was beide Brüder wieder in Hong Kong, der Stadt ihrer Kindheit, zusammenführt, ist eine mysteriöse Nachricht ihres Ziehvaters Raymond, der bald darauf verschwindet. Von den Behörden gejagt und in den Nachrichten als Terroristen gebrandmarkt bleibt nur die Flucht in den Untergrund. Als Shadowrunner schließen sich ihnen bald interessante Charaktere an, etwa die Ratten-Schamanin Gobbet, die nüchterne Deckerin Is0bel oder der Bastler und Drohnenrigger Racter. Deren Hintergrundgeschichten lassen sich in langen Dialogen erkunden. Die Haupthandlung tritt bald in den Hintergrund, während die Brüder sich durch Jobs und Runs einen Namen im Untergrund machen. Erst nach und nach verdichten sich Hinweise auf eine übernatürliche Bedrohung für die Slums von Kwoloon und die ganze Stadt.

Das Spiel: Runner, bleib bei deiner Predator

Ein neuer Plot bedeutet natürlich auch eine neue Charaktererstellung. Das Übernehmen von liebgewonnenen Helden aus Shadowrun: Dragonfall etwa ist nicht möglich. Ansonsten aber bleibt alles beim Alten: Bald erledigt das Team wieder Aufträge von einer Zentrale aus (diesmal einem alten Schiff), kauft bei Händlern immer bessere Waffen ein und erkundet die Hintergrundgeschichten der Begleiter in langen Dialogen. Die Begleiter reagieren dabei auf Spielentscheidungen, etwa, wer mit auf eine Mission genommen wird. Echte Entscheidungsfreiheit gibt es aber nicht. Viele Dialoge dienen eher zur Charakterisierung der Figuren und zur Bestimmung des Hintergrundes des Protagonisten. Immerhin beim Aufleveln des Charakters hat man freie Wahl und schaltet neue Sonderfähigkeiten frei.

Die Kämpfe laufen wieder rundenbasiert ab und übernehmen das verbesserte Kampfsystem aus dem Directors Cut von Dragonfall mit Fokus auf richtige Deckung und Positionierung. Mit dem Pen&Paper-System von Shadowrun 5 hat das aber wenig zu tun. Die Kämpfe in Shadowrun: Hong Kong sind zwar spannend, aber nicht so komplex wie am Spieltisch und meist recht leicht zu knacken. Tipp: unbedingt auf höherem Schwierigkeitsgrad spielen! Magische Leylinien und hackbare Drohnen sorgen für ausreichend Abwechslung in den Taktik-Gefechten.

Die Zonen Hong Kongs sehen schick aus, doch es fehlt ihnen leider an Interaktionsmöglichkeiten.
Die Zonen Hong Kongs sehen schick aus, doch es fehlt ihnen leider an Interaktionsmöglichkeiten.

Größer, hübscher, leerer

Auch grafisch hat sich seit Shadowrun: Dragonfall nicht viel getan. Shadowrun: Hong Kong benutzt die gleiche Engine wie die beiden Vorgänger. Hinzugekommen sind eine Vielzahl neuer Charakterportraits für den eigenen Helden. Was auffällt, sind die größeren Levelkarten. Doch das hat einen Haken: die Interaktionsmöglichkeiten sind nach wie vor stark eingeschränkt.

Man kann mit ein paar Händlern reden, vielleicht eine Tür öffnen, mehr nicht. Beute und Zufallsfunde sind immer noch sehr rar. Viele der umherlaufenden NSC haben keine Dialoge und sind reine Staffage. Das merkt man durch die ausladenden Areale nur noch mehr und so kommt bald das Gefühl von „Leere“ auf. Spiele wie Satellite Reign schaffen es hier (auch grafisch) besser, eine düstere Metropole der Zukunft zu erschaffen.

Nichts für lesefaule Zocker

Hand aufs Herz: Die Stärke von Shadowrun: Returns waren schon immer die Dialoge und das Setting. Da ist es kaum verwunderlich, dass ein Großteil der Entwicklung in die Dialogtexte geflossen ist. Deren Beschreibungen sind wieder sehr stimmungsvoll und die Charaktere haben viele Möglichkeiten, sich aus brenzligen Situationen herauszuquasseln. Insgesamt lassen sich mit genug Charisma etwa die Hälfte aller Kämpfe umgehen – das dürfte Rollenspiel-Puristen freuen. Im Vergleich zu Shadowrun: Dragonfall wirken einige Wendungen der Handlung aber doch arg klischeehaft.

Die harten Fakten:

  • Entwickler: Harebrained Schemes
  • Erscheinungsjahr: 2015
  • Sprache: Englisch
  • Plattformen: Windows PC, OS X, Linux
  • Preis: 19,99 EUR
  • Bezugsquelle: Steam
Die Texte sind das Herzstück! Wer Dialoge weiterklickt, um zum nächsten Kampf zu kommen, verpasst das eigentliche Spiel.
Die Texte sind das Herzstück! Wer Dialoge weiterklickt, um zum nächsten Kampf zu kommen, verpasst das eigentliche Spiel.

 

Im Vergleich: Verschlimmbesserungen

Harebrained Schemes ist dafür bekannt, auf Fankritik einzugehen, was man bereits an den Kickstarterzielen ablesen konnte. Aber ob das immer gut ist? So kann der Spieler jetzt per Klick auf das Waffensymbol freiwillig in den Kampfmodus schalten, damit Feinde überraschen und einen taktischen Vorteil gewinnen. Das führt aber dazu, dass man manch interessanten Dialog und die Charakterisierung einiger Bösewichte verpasst. Ganz verändert wurde das Hacken der Matrix.

Hier müssen Decker nun in Echtzeit patrouillierenden Abwehrprogrammen ausweichen. Nur wer sich erwischen lässt, löst einen Kampf aus. In der Praxis bedeutet das, Bewegungsmuster auswendig lernen und hektisch klicken. Um in verschlossene Datenknoten zu kommen, müsst ihr dann Zahlenblock-Erinnerungsspielchen bestehen. Das macht zwar Spaß, ist aber sicher nicht jedermanns Fall. Auch bei den Begleitern dürfte nicht jeder zufrieden sein: So könnt ihr Duncan, Gobbet und Co. nicht selbst skillen, sondern nur alle paar Stufen einen Bonus auswählen und die Ausrüstung festlegen. Leider ist das Inventar eher schwerfällig und erfordert regelmäßige Neuzuweisung zwischen den Missionen. Auch gibt es bei verschlossenen Räumen und Nebenquests mehr Rätsel als beim Vorgänger, von denen einige richtiges Grübeln erfordern. Das dürfte bei Durchschnittszockern aber eher zu einem Blick in ein Walkthrough führen.

Fazit

Shadowrun: Hong Kong macht vieles richtig und hat dort Story und Herz, wo andere moderne Rollenspiele mit Grafikwüsten aufwarten. Wer Fan vom Shadowrun-Universum ist, kann bedenkenlos loszocken und erhält dazu in der Collectors Edition einen stimmungsvollen Cyberpunk-Soundtrack von Jon Everist für die heimische Rollenspielrunde. Tatsächlich haben es diese Videospiele geschafft, mich durch herausragende Atmosphäre und stimmige Charaktere vom Shadowrun-Muffel zu einem Fan der Sechsten Welt zu verwandeln – na, wenn das nichts ist!

Im direkten Vergleich mit dem herausragenden Dragonfall aber ist der dritte Teil ein Rückschritt. Man mag sich auch fragen, wo die doch stattliche Kickstarter-Summe in der Entwicklung hingeflossen ist. So ist Shadowrun: Hong Kong ein solides Rollenspiel, das aber auch gut ein Kampagnenmodul für einen der beiden Vorgänger hätte sein können. Hoffentlich entschließt sich Harebrained Schemes zu einem weiteren Directors Cut, um den Titel zu einem echten Klassiker zu polieren. Nur bitte nicht aufhören! Auch beim nächsten Shadowrun-Titel bin ich als Backer gern wieder dabei.

Daumen4Maennlich

Artikelbilder: Harebrained Schemes

 

2 Kommentare

  1. Sie haben aufgehört. Es wurde noch die Mini Kampagne wie versprochen rausgebracht und dann haben sie sich von SR zurückgezogen und kümmern sich um Battletech und Necropolis.

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