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Es ist der Frühling des Jahres 1544. In der Hauptstadt des Finsterlandes, Alexandragrad, hat ein Antiquitätensammler ein verlockendes Angebot: Er zahlt viel Geld für einen Dracolithen, einen jener Steine, die von der Macht der „Alten Drachen“ erfüllt sein sollen. Das klingt wie die schrullige Sammelleidenschaft eines wohlhabenden Bürgers, von denen es nicht wenige im Finsterland gibt. Außerdem sind Drachen nur Mythen oder im schlimmsten Fall seit Ewigkeiten ausgestorben – richtig? Die Aufgabe klingt simpel und wenig gefährlich. Was könnte dabei schon schiefgehen?

Inhalt

Dracolith ist nicht das erste Abenteuer für Finsterland, aber die erste gedruckte Kampagne. Der Softcoverband besteht aus drei aufeinander aufbauenden Abenteuern, die sich alle um das selbe Thema drehen: Drachen. Jedes der drei Abenteuer ist dabei für einen längeren Spielabend gedacht und für Spielrunden, die schon etwas vertrauter mit der Welt von Finsterland sind.

Aufhänger der Handlung sind die „Dracolithen“, besondere Steine, in denen die Macht der gestorbenen alten Drachen ruht (quasi „Karfunkelsteine“ aus DSA). Drachen sind in Finsterland ja seit Urzeiten ausgestorben – das weiß jeder. Sammler bezahlen daher ein Vermögen für sie, obwohl Dracolithen bei Hautkontakt gefährlich sind und Menschen den Verstand rauben. Natürlich möchte ein böser Kult diese Steine in die Finger bekommen und damit finstere, eigene Ziele verfolgen – das klingt nach schwarzer Magie, alten Geheimnissen und bedrohlichen Wesenheiten á la Call of Cthulhu. Tatsächlich leiht sich Dracolith von der Atmosphäre des investigativen Horror-Rollenspiels und am Ende bedrohen die Kultisten sogar die ganze Spielwelt. Weltuntergang in Flammen? Warum nicht.

Für Spieler: Rätsel und Drachen

Für Spieler bietet Dracolith einen Parforceritt durch das okkulte Finsterland. Die Charaktere verrichten dabei hauptsächlich Detektivarbeit und erforschen die Geheimnisse der Drachen und des Dracolithensteins. Den Großteil der Zeit befragen sie Personen, stellen Zusammenhänge her, werten alte Bücher aus oder stellen sich Rätseln und Prüfungen. Das ist perfekt für Spielrunden mit Okkultisten und Spaß an Rätseln und dem Hintergrund der Spielwelt. Für actionbegeisterte Steampunk-Fans bietet die Handlung aber nicht so viel. Technische Errungenschaften kommen kaum vor, die Kampagne dreht sich ganz um Magie, Magier und magische Wesen. Dabei gibt es mehrere optionale Geheimnisse, die die Spieler aufdecken und dadurch mächtige Verbündete gewinnen können. Was hat es etwa wirklich mit dem Antiquitätenhändler auf sich? Warum verschwinden Menschen am Echsenberg?

Ein Highlight der Kampagne ist die Arbeit für die Kaiserliche Sonderkommission, samt Spesenkonto und begrenzten Befugnissen. Insgesamt ist Dracolith deutlich epischer als ein Durchschnitts-Abenteuer im Finsterland und kann die Charaktere in den Fokus der feinen Gesellschaft und Behörden katapultieren. Spieler, die lieber außerhalb des Rampenlichts spielen und Weltrettung albern finden, werden mit der Kampagne weniger glücklich werden.

Ein Fanprojekt!

Wer die Ereignisse von Dracolith der Feder von Georg Pils zuschreiben möchte, jenem sympathischen Autor, der auf großen Messen in so herrlich frecher, österreichisches Mundart die Vorzüge seines Rollenspiels anpreist, der irrt. Tatsächlich stammt die Kampagne von Markus von Leon, einem Finsterland-Fan. Dessen Ideen haben das Autoren-Team so begeistert, dass sie die Kampagne nun offiziell herausbrachten.

In Dracolith geht es hoch hinaus: Ab dem zweiten Abenteuer sind die Charaktere Teil einer kaiserlichen Sonderkommission.
In Dracolith geht es hoch hinaus: Ab dem zweiten Abenteuer sind die Charaktere Teil einer kaiserlichen Sonderkommission.

 

Für Spielleiter: Guter Aufbau auf engen Schienen

Gleich zu Beginn des Kampagnenbandes wird Dracolith in die Ereignisse des Finsterlandes einsortiert. Das passt gut zu einer so lebendigen und fortlaufenden Hintergrundwelt und schließt an das Abenteuer „Der Herr der Sphären“ aus dem Almanach der Zauberkunst an. In der Kampagne werden Nichtspielercharaktere und die dortigen Ereignisse aufgegriffen und weitererzählt. Der Autor empfiehlt, das Abenteuer dringend vor Dracolith zu spielen und listet den Almanach der Zauberkunst sogar als Voraussetzung. Ich bin anderer Meinung: Wer keine Lust auf Präludien hat, kann Dracolith mit seiner Spielrunde auch so spielen – sofern die Spieler nicht mehr Anfangscharaktere sind. Das hat meine Spielrunde getan und es hat gut funktioniert …

Das passiert in den Abenteuern & Spielerfahrungen (Spoiler! Nur für Spielleiter)

Spoiler

Gaspardis Angebot: Der reiche Kunst- und Antiquitätenhändler Gaspardi heuert die Spielercharaktere an, einen Dracolithen zu finden. Sie gehen mehreren Hinweisen nach und stoßen auf eine Sekte, deren Anführer sich als Drache ausgibt und das okkulte Buch „Drachendämmerung“ besitzt. Sie schleichen sich in das Haus der Sekte ein und entlarven ihn als Schwindler und Schauspieler. Das Buch jedoch ist echt und kann einen alten Drachen wiedererwecken. Seine jüngste Schülerin flieht damit und stellt sich als Amelia von Hadmar (aus Der Herr der Sphären) heraus.

Unsere Runde hatte direkt beim Einstieg ins Abenteuer ein Problem, was aber nicht damit zusammenhing, dass sie „Der Herr der Sphären“ nicht gespielt hatten. Es lag viel eher am Desinteresse an Gaspardis Einladung zu einer Soirée. Erst als ich als Spielleiter interessante Gerüchte streute („ungewöhnlich reich, seltsamer Kauz, Verbindungen zum Kaiserhaus?“) folgten die Spieler der Handlung. Das führte wiederum dazu, dass die erste Szene des Abenteuers sehr viel Raum bekam und die Spieler detailliert das Haus untersuchten. Gaspardis Tests in den Räumen fanden sie anstrengend, begannen ihm immer mehr zu misstrauen und willigten nur missmutig ein, ihm zu helfen („Der hat Dreck am stecken, ich sag es euch!“). Die Infiltration des Kultes lösten die Spieler, indem sie sich vorgeblich dem Kult selbst anschlossen. Da dies nicht vorgesehen war, musste hier frei improvisiert werden, was einen ganze Spielabend in Anspruch nahm. Als Amelia mit dem echten Kodex am Ende floh, fanden dies alle eine gelungene Wendung.

Staub der Vergangenheit: Die Kaiserliche Sonderkommission heuert die Spielercharaktere an, Amelia zu verfolgen. Diese führt eine echte Sekte und will mit dem Dracolithen einen alten Drachen wiedererwecken. Das Herzstück des Abenteuers spielt in der Bibliothek des Verlages für magische Literatur, wo die Spieler das Buch suchen, mit dem Amelias Ritual verhindert werden kann. Um weiterzukommen, müssen die Spieler dort Rätsel lösen.

Der Start des zweiten Abenteuers verlief in unserer Spielrunde etwas glimpflicher. Die Spieler erstatteten tatsächlich von sich aus den Behörden Bericht über die Ereignisse im Kult und ließen sich von ihnen einspannen, Amelia zu finden. Die kurzfristige Vermutung, Gaspardi könnte mit Amelia unter einer Decke stecken, führte zu einem weiteren, improvisierten Besuch beim Kunsthändler, bei dem sie sogar seine wahre Identität aufdeckten – ihre Schrecken und Zweifel konnte Gaspardi aber mit Ehrlichkeit zerstreuen und die Spieler akzeptierten, sein Geheimnis zu wahren. Mit Gaspardis Unterstützung gelangten sie dann auf die richtige Spur. Für eine Weile direkt für das Kaiserreich zu arbeiten und ein Spesenkonto zu haben, fanden alle Spieler richtig gut. In Merting beschlossen die Charaktere aber, dem Archivar nicht zu vertrauen („Sicher ein Kultist!“) und sperrten ihn in einer Kammer ein, um die Bibliothek auf eigene Faust zu erkunden – dadurch fehlten seine Informationen in den Erzähltexten. Die Erkundung der Bibliothek genossen die Spieler aber sehr und wetteiferten bei der Lösung der dortigen Rätsel. Der Kampf gegen den Kultisten, der ihnen das Buch abnehmen wollte, gestaltete sich sogar richtig episch und verwüstete Teile der Bibliothek – („Ups. Das bezahlt sicher der Staat … bloß weg hier.“)

Ritualleuchten: Amelia wartet auf dem Echsenberg bei der Hauptstadt Alexandragrad, die das erste Opfer des Drachen werden soll. Die Spielercharaktere müssen aber erst einmal die nötigen Dinge besorgen, um das Ritual aufzuhalten. Dann besteigen sie mit dem Buch den Berg und werden mit dem Erlvater konfrontiert, einem magischen Wesen, das Amelia für sich eingespannt hat. Erst in der richtigen Nacht konfrontieren sie die echte Kultführerin.

Bei diesem Abenteuer waren die Spieler etwas missmutig. Nach der Bibliothek wollten sie direkt Amelia konfrontieren und konnte nur von Gaspardi überzeugt werden, besonnen zu handeln und das Gegenritual durchzuführen. Die Suche nach den Ingredienzien fanden die Spieler daher eher langweilig – so wurde hier abgekürzt. Am Echsenberg selbst kamen die Charaktere schnell darauf, dass Amelia im Erlenvater einen Verbündeten hat. Sie stellten ihm eine Falle und konnten ihn von ihrer Sache zu überzeugen („Wenn der Drache erweckt wird, zerstört er auch deinen Berg. Schon mal daran gedacht?“). Das war sogar von Abenteuer vorgesehen, aber nicht durchdacht, wie leicht seine tatkräftige Unterstützung die eigentliche Aufgabe macht. So wurde Amelias Kult einfach mit mehr Mitgliedern aufgestockt, um die Spannung zu erhöhen. Die Spieler unterbrachen wie vorgesehen das Ritual und verwickelten Amelia in einen Kampf, inklusive kitschiger Sprüche („Alle Macht den Drachen!“ / „Echt? Die hat doch einen an der Klatsche.“ / „Das merkst du jetzt erst?“). Am Ende entschlossen sie sich dazu, die bewusstlose Kultführerin in ein Irrenhaus einzuliefern und mussten sich für ihr („Unkonventionelles Vorgehen! Gelinde gesagt, meine Herren“) vor der Kommission verantworten. Da sie aber die Hauptstadt gerettet hatten, wurde natürlich ein Auge zugedrückt. Das Buch („wurde im Kampf zerstört, Inspektor. Leider.“) verkauften sie am Ende für viel Geld und versprochene Gefälligkeiten an Gaspardi, den sie seitdem regelmäßig als Verbündeten aufsuchen.

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Jedes der drei Abenteuer – Gaspardis Angebot, Staub der Vergangenheit und Ritualleuchten – ist in jeweils fünf Szenen unterteilt und wird zu Beginn kurz zusammengefasst, samt einer Auflistung der handelnden Personen. Das erleichtert den Einstieg als Spielleiter und dient als Gedächtnisstütze, falls zwischen Spielsitzungen mal längere Zeit liegt. Sehr gut!

Allerdings erkennt man bereits an der Zusammenfassung die engen, vorgedachten Pfade der Erzählung. Wollen die Spieler eigene Wege gehen, muss der Spielleiter gut improvisieren können, damit die Handlung am Ende wieder zusammenläuft. Viele Beschreibungen sind fast schon zu detailliert („stehen die Charaktere […] in einer mächtigen Eingangshalle mit dem Rücken zur Haustür“, S.10), erzeugen dafür beim Lesen Atmosphäre. Echte Sandbox-Elemente gibt es bei Dracolith aber nicht; nur im zweiten Abenteuer, Staub der Vergangenheit, hat der Spielleiter eine Auswahl an Optionen. Der vorgezeichnete Pfad ist dafür in sich schlüssig und nur Spieler, die gezielt aus der Handlung ausbrechen wollen, dürften echte Probleme bereiten.

Ein Highlight, das unbedingt noch erwähnt werden muss, ist das fiktive Kartenspiel Skambül. Dessen Regeln für ein Tarotdeck finden sich im Anhang. Es spielt in der Kampagne keine große Rolle und ist wohl eher als Dreingabe gedacht – macht aber einen Heidenspaß.

Das Geheimnis des Dracolithen für Finsterland (Leichter Spoiler)

Spoiler

Jeder Finsterländer weiß, dass es Drachen gab – immerhin hat man Fossilien von ihnen gefunden und in Museen ausgestellt. Wie das Cover von Dracolith zeigt, sind Drachen aber alles andere als ausgestorben. Sie leben in menschlicher Gestalt verborgen in der Gesellschaft – Shadowrun lässt grüßen. Das wurde bereits im Grundregelwerk (S.146f) angedeutet. Dracolith baut dieses Detail aus und erweitert damit den Hintergrund des Rollenspiels. Neu sind die Dracolithen-Steine: Für die Drachen stellen sie eine Bedrohung dar, da sie sich bei Berührung ihre wahre Gestalt offenbart. Auch die Beziehung zwischen „Verborgenen Drachen“ und „Alten Drachen“, die sie selbst als Monster der Urzeit ablehnen, ist interessant. Das passt überraschend gut zum verrückten Steampunk-Finsterland und dürften Spielleitern auch nach Dracolith zahllose Plotideen bescheren. Das Wissen um die verborgenen Schuppentiere muss aber in kommenden Kampagnen mitgedacht werden: „Da steckt sicher ein Drache dahinter!“ ist seit Dracolith jedenfalls einer der Lieblingssätze meiner Spielrunde.

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Die Handouts dienen meist den Rätseln, sind funktional und lassen sich gut fotokopieren. Wo etwa befindet sich auf der Karte der Ort „des Königs kleinen Finger“?
Die Handouts dienen meist den Rätseln, sind funktional und lassen sich gut fotokopieren. Wo etwa befindet sich auf der Karte der Ort „des Königs kleinen Finger“?

 

Preis-/Leistungsverhältnis

Mir lag die gedruckte Version von Dracolith zur Rezension vor. Mit knapp 20 EUR für eine Softcoverausgabe liegt sie im guten Mittelfeld bei Preisen für Rollenspiel-Abenteuer. Dabei handelt es sich auch nicht um eine Einzelabenteuer, sondern eine Kampagne, für die unsere Gruppe etwa ein halbes Jahr gebraucht hat. Qualitativ ist Dracolith deutlich mehr als „nur“ ein Fan-Projekt und damit preislich völlig in Ordnung.

Erscheinungsbild

Dracolith Finsterland CoverDracolith ist vom Äußeren her ein solider Kampagnenband. Das Cover passt von der blau-grauen Farbgebung zum Rest der Rollenspielreihe, zeigt eine spannende Szene aus dem Finsterland und stimmt damit auf die welterschütternden Ereignisse ein. Das Layout ist sauber und gut lesbar, Rechtschreibfehler halten sich in Grenzen. Innen gibt es bereits aus den Regelwerken gewohnte Schwarz-Weiß-Zeichnungen und eine Vielzahl brauchbarer Handouts zum Rauskopieren. Das ist zwar kein Hingucker wie Degenesis: In Thy Blood oder The Red and Pleasant Land, aber deutlich ansprechender, als die Textwüste manch anderen Kaufabenteuers.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Georg Pils
  • Autor(en): Georg Pils (Herausgeber), Anette Meister (Herausgeber), Markus von Leon
  • Erscheinungsjahr: 2015
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Softcover
  • b>Seitenanzahl: 72
  • ISBN: 978-3950327083
  • Preis: 19,90 EUR (Print), 11,50 EUR (PDF)
  • Bezugsquelle: Amazon (Print), DriveThruRPG.com (PDF)

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der Homepage von Finsterland stehen alle Handouts und Kampfkarten aus Dracolith zum Download bereit. Dazu gibt es eine Vielzahl von PDFs mit zusätzlichen Hintergrundinfos über die Welt, die auch für die Dracolith-Kampagne interessant sein können. Eine solche Menge an brauchbarem Download-Material ist mehr als vorbildlich.

Fazit

Das Okkulte war für mich immer schon ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal von Finsterland gegenüber anderer Steampunk-Settings. Dracolith fängt dies perfekt ein und bietet eine spannende Geschichte um Magie und Drachen in drei aufeinander aufbauenden Abenteuern. Dass diese mit Kulten und Detektivarbeit an Call of Cthulhu erinnert, finde ich nicht schlimm – ganz im Gegenteil. Dass am Ende allerdings die ganze Spielwelt bedroht ist, ist etwas dick aufgetragen.

Das größte Problem mit Dracolith sind die engen Schienen, auf denen die Spieler geführt werden. Die Handlung lässt kaum Spielraum für eigene Ideen. Der vorgedachte Pfad ist zwar schlüssig bedenkt aber kaum Alternativen. Je nachdem, wie eigenständig die Spieler agieren, zwingt das den Spielleiter immer wieder zu freier Improvisation. Für Sandbox-Fans ist Dracolith damit nichts. Alle anderen erhalten eine gelungene Kampagne mit interessanten Rätseln, in der das Geheimnis der Drachen gelüftet wird und die genauso sympathisch ist, wie der Rest der Rollenspielreihe.

Daumen4Maennlich

Artikelbilder: Georg Pils | Teilzeithelden
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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