Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten
Dieser Text bezieht sich auf die englische Ausgabe der Savage Worlds Deluxe: Explorer’s Edition, die im zweiten Halbjahr 2015 aktuell ist. Eine weitere Kennzeichnung der Version nimmt Pinnacle trotz vorhandener Änderungen nicht vor.

Savage Worlds (kurz: SaWo) ist jetzt schon seit vielen Jahren fest in der Spieleszene etabliert. Obwohl der Hype sich inzwischen hin zu FATE und dann weiter zu den Varianten von Apocalypse World verlagert hat, erscheinen weiter neue Produkte und Settings, sowohl von Pinnacle selbst als auch unter Lizenz. An Vielfalt möglicher Spielwelten ist SaWo jedenfalls kaum zu überbieten, egal ob es nun Fantasy wie in Fritz Leibers Lankhmar ist, eine Mischung aus Krieg und Lovecraft-Horror wie bei Achtung! Cthulhu, die neu erschienene Reihe Savage Tales of Horror, eine fiktive Renaissance mit Untoten wie in Ultima Forsan oder viktorianischer Steampunk à la Space 1889: Red Sands – die Bandbreite ist wirklich beeindruckend.

Im aktuellen PDF der Savage Worlds Deluxe: Explorer’s Edition sind im übrigen alle Errata und das aktuelle Regelupdate bereits mit eingearbeitet.

Universalsystem mit Anpassungen

Den meisten, und sicherlich den besten, Savage-Worlds-Settings ist gemeinsam, dass sie den Regelkern oft nur geringfügig erweitern. Die Basisregeln werden hierbei zumeist um einige Talente, Handicaps und Setting-Regeln ergänzt. Mit relativ wenig Leseaufwand und Regelstudium ist ein SL darum in der Lage, Charaktere für ein neues Setting zu erstellen und mit seiner Gruppe loszulegen.

Für die typischen Subgenres orientieren sich viele Settings auch an den von Pinnacle veröffentlichten Companions bzw. fasst Pinnacle dort etabliert genretypische Regeln zusammen – so entsteht wiederum eine gewisse Einheitlichkeit. Solche Companions gibt es für Fantasy, Science-Fiction, Horror und Superheldengeschichten.

Universell in allen Bereichen
Universell in allen Bereichen

Im Regelfall braucht es zwischen ein und vier Büchern, um ein Setting zu bespielen. Das Grundregelwerk wird immer benötigt. Settings sind manchmal als Einzelbände erhältlich und manchmal in einen Spieler- und Spielleiterband aufgeteilt. Gelegentlich referenziert ein Setting auch noch Regeln aus einem Companion. Deadlands Reloaded erfordert zum Beispiel das Grundregelwerk, den Player’s Guide und das Marshal’s Handbook;diese drei Bänder überlappen sich inhaltlich nicht. Bei den Abenteuerbänden Savage Tales of Horror wird hingegen auf das Grundregelwerk und (zumindest im Buch selbst) den Savage Worlds Horror Companion verwiesen. Mit Settingband und Grundregelwerk kann man aber in den meisten Fällen losspielen.

Was übrigens die deutsche und englische Ausgabe unterscheidet, ist, dass Prometheus oft alte Regeln als Optionalregeln im Buch belassen hat. Die englische Ausgabe schreitet hingegen ungeniert ohne Blick zurück fort.

Fast, Furious, Fun

Die englische Deluxe-Ausgabe der Grundregeln
Die englische Deluxe-Ausgabe der Grundregeln

Savage Worlds ist mit relativ wenig Regeldetails gut zu beschreiben, auch wenn es Zusatzregeln für viele Situationen gibt. Alle Attribute und Skills sind mit den Würfeln beschrieben, mit denen sie auszuführen sind. Man hat also zum Beispiel einen W8 in Stärke oder einen W6 in Schießen. Bei Proben ist in der Regel die 4 die Zielzahl. Manchmal gilt eine andere Zielzahl (zum Beispiel im Nahkampf die Parade) und oft gibt es einen Modifikator auf den Wurf selbst, der direkt auf den Wurf aufgeschlagen wird.

Hierbei gilt, dass Würfel „explodieren“ – wirft man die höchste Augenzahl auf einem Würfel, dann darf man diesen Würfel erneut würfeln und das einzelnen Ergebnisse zusammenrechnen, gegebenenfalls auch mehrmals. Dadurch sind in der Theorie beliebig hohe Ergebnisse möglich, in der Praxis liegt der Erwartungswert eines Würfelwurfs bei explodierenden Würfeln etwas höher. Die explodierenden Würfel führen aber zu einem Restrisiko, das immer wieder mal zu Instant Kills führt – sei es bei Erzbösewichten im Showdown oder bei SC. Das gehört zum Spielgefühl bei SaWo einfach dazu und unterscheidet es von leichter abschätzbaren Systemen wie der Trefferpunkterechnerei bei Dungeons & Dragons.

Zu Beginn jeder Spielsitzung hat jeder Spieler bereits Bennies, eine Spielwährung, mit der man sich das Wiederholen von Würfen erkaufen kann. Man kann sich damit auch den Versuch erkaufen, Schaden abzuwenden, anstatt ihn hinzunehmen. Stets entscheiden aber weiterhin die Würfel. Die SC gelten als besonders begabte Individuen, als Wild Cards. Im Gegensatz zu für die Handlung weniger relevanten Extras dürfen Wild Cards einen Würfel mehr werfen, den Wild Die. Das ist in der Regel ein W6, und das bessere Ergebnis gilt. Doch Vorsicht – auch der SL hat Bennies und Erzschurken sind auch Wild Cards. Eines bleibt jedoch den Spielern vorbehalten: Sie können sich durch gutes Rollenspiel und das Ausspielen von Nachteilen weitere Bennies verdienen. Dies kann auch im Kampf geschehen und das Ergebnis entscheidend beeinflussen.

Im Gegensatz zu anderen Spielen verwendet SaWo keine Trefferpunkte. Ein SC kann bis zu drei Wunden hinnehmen, bei der vierten kippt er aus den Latschen. Die Wunden unterscheiden sich aber von regulären Trefferpunkten dadurch, dass jede Wunde auch zu Abzügen auf alle Würfe führt. Damit dreht sich das Kampfglück bereits, wenn man durch Wunden bedingt immer schlechtere Wurfergebnisse einfährt.

Systemspezifische Besonderheiten

Battlemaps sind nicht nötig, helfen aber bei dem taktischen Anspruch
Battlemaps sind nicht nötig, helfen aber bei dem taktischen Anspruch

Einen Sonderzustand namens „angeschlagen“ gibt es auch: Man hat noch keine Wunde einstecken müssen, ist aber desorientiert. Erst durch das Ausgeben eines Bennies oder das Schaffen eines Wurfs kann man diesen Zustand wieder verlassen. Hierbei wurden die Regeln entscheidend entschärft und der Spielfluss beschleunigt. Früher konnte ein SC im Zustand „angeschlagen“ relativ lange steckenbleiben, jetzt reicht ein einfacher Wurf gegen die Zielzahl 4, um wieder handlungsfähig zu werden. Damit können die Kampfteilnehmer in relativ kurzer Zeit und meist ohne Verbrauch von Bennies wieder am Geschehen teilnehmen und wenn man sich den Zustand des Gegners zunutze machen will, muss man schnell schalten und Aktionen gut koordinieren und kombinieren, denn ein angeschlagener Gegner ist leichter zu verwunden. Eine Regeloptimierung, die übrigens erst 2015 in die Standardregeln übernommen wurde, aber sicher dem Spiel-Motto „Fast, Furious, Fun!“ deutlich näher kommt.

Damit ist die ursprüngliche SaWo-Design-Prämisse „Up, Down, or Off the Table“ endgültig erfüllt: Auf dem Spielplan bildet die Miniatur den Zustand der Spielfigur direkt ab. Stehend („up“) bedeutet, dass sie handlungsfähig ist. Liegend („down“), dass sie „angeschlagen“ und vorübergehend handlungsunfähig ist. Wird die Spielfigur durch Wunden völlig handlungsunfähig gemacht, wird sie vom Spielplan genommen („off the table“). Den alten, impliziten Zustand „angeschlagen, aber erst in der nächsten Runde handlungsfähig“ gibt es nicht mehr – damit kann schon auf dem Tisch das Wichtigste ohne weitere Hilfsmittel im Blick behalten werden.

Eine andere Besonderheit ist das Abwickeln der Initiative durch Pokerkarten. Für alle an einem Kampf Beteiligten werden Karten vom Stapel gezogen und die höchsten Werte (oder Farben) agieren zuerst (oder auf Wunsch verzögert). Eine besondere Rolle kommt hierbei den beiden Jokern zu: Sie bringen dem Spieler ein +2 auf seine Würfe in dieser Runde und in manchen Settings noch weitere Vorteile. Spielkarten werden auch in anderen Regelsituationen wie Verfolgungsjagden, Herausforderungen unter Zeitdruck oder beim Bestimmen von Zufallsbegegnungen eingesetzt.

Individuelle Charaktere mit wenig Aufwand

Die Eleganz besteht unter anderem in der Verwendung der Regeln in allen Settings
Die Eleganz besteht unter anderem in der Verwendung der Regeln in allen Settings

Savage Worlds kommt mit fünf Attributen und knapp zwei Dutzend Skills sehr gut zurecht. Es gibt in der Regel nur die drei Kampfskills Schießen, Kämpfen und Werfen. Das mag relativ grob erscheinen, hat sich aber in der Praxis bewährt.

Individualisiert werden Charaktere über Talente und Handicaps. Talente sind regeltechnische Vorteile, Handicaps ebensolche Nachteile oder Macken, die es auszuspielen gilt. Und diese Macken sind wichtig, denn für ihr Ausspielen gibt es die überlebenswichtigen Bennies! Pro Spielsitzung gibt es zwischen 1 und 3 Erfahrungspunkte und je 5 XP darf ein SC sich ein neues Talent oder andere Verbesserungen kaufen. Es gibt also in der Regel alle zwei Spielsitzungen etwas zu verbessern. Zusätzlich steigen die Charaktere alle 20 XP einen Rang auf und können dann mächtigere Talente erwerben, bis sie lebende Legenden sind. Aber auch lebende Legenden haben in SaWo nur drei Wunden, bevor sie tief in der Bredouille sind, ein Restrisiko bleibt stets.

Es wird immer wieder mal behauptet, SaWo-Charaktere wären sich zu ähnlich. Zu wenig Variationen der Spielwerte und Klassen gibt es schließlich auch keine. Aber aus der Spielpraxis heraus kann ich nur sagen, dass das nicht richtig ist. Die Kombinationen von Attributen, Fertigkeiten, Talenten und Handicaps (und manchmal auch Rasse) zusammen mit dem individuellen Rollenspiel erzeugen immer neue Variationen selbst über die eigentlichen Werte hinaus. SaWo mag ein Universalsystem sein, aber mit minimalem Aufwand verstehen es gute Autoren sehr wohl, das System nie generisch wirken zu lassen.

Einem geübten SL geht ein SC sicher in einer Viertelstunde von der Hand. Bei neuen Spielern dauert es deutlich länger. Aber selbst gesteigerte Charaktere höherer Ränge bauen sich im Schnitt deutlich schneller als in anderen Systemen wie zum Beispiel Pathfinder. Der elegante Regelkern macht’s möglich.

Fazit

Savage Worlds hat über die Jahre für mich nichts an seinem Reiz verloren. Mal schnell ein eigenes Setting oder ein Abenteuer ohne ausgearbeitete Welt zusammenbauen? Mit SaWo und den Companions kein Problem. Es gibt haufenweise One Sheets (Abenteuer, die auf ein Blatt Papier passen) zum Herunterladen oder Kaufen, so dass man mit minimaler Vorbereitung losspielen kann. Es existieren viele interessante Settings und auch Abenteuerbände.

Was mir auch immer Freude bereitet, sind die Reaktionen der Spieler. Der Jubel, wenn ein Würfel besonders hoch explodiert – oder der Schrecken, wenn dies dem SL glückt. Am Spieltisch hat SaWo eigentlich immer gezündet, und wenn man es, wie ich, ohne Bodenplan spielt, oft auch mit minimalem Aufwand. Spieler scheinen sich auch nach längeren Pausen wieder ohne Mühe in die Regeln einzufinden.

Artikelbilder: Pinnacle Entertainment
Diese Produkte wurden kostenlos zur Verfügung gestellt

 

8 Kommentare

  1. Ok das macht es schon wieder bisserl interessanter. Das Angeschlagen-Sein fand ich extrem nervig.

    Ich würde jetzt zwar kein SW Setting jemals wieder bespielen, aber mit dieser Regel hätte ich wohl nie so gefrustet das Handtuch geworfen.

  2. Das Angeschlagen-Sein hatte auch in der alten Form seinen Reiz. Aber ja, die Neuregelung wirkt durchaus stimmig.
    Als Spieler mag ich SW immer noch ganz gern als System des kleinsten gemeinsamen Nenners – wenn sonst nix geht.
    Oder auch mal für cinematisches Spiel. Mehr als eine Kurzkampagne würde ich aber nicht mehr spielen wollen.

    Als Spielleiter hat das System mich mittlerweile wahrscheinlich schon (fast) ganz verloren.

    Woran liegt das?
    Die Hauptknackpunkte sind mMn immer noch nicht adressiert worden.
    SaWo läuft ohne eine gewisse „Statisten-Dichte“ nicht und dasselbe gilt, wenn der Bennie-Fluss in Unordnung gerät.
    Für mich sind das Dinge, die die praktische Anwendung des Systems auf jeden Fall limitieren (auf hollywoodeske Sachen) und die auf metagaming-Ebene entweder Gesellschaftsspieltendenzen oder Storygamingbezüge zum klingen bringen. Es ist halt an der Stelle nicht Abenteuer-Erzählspiel, Freiform, Simulation … oder old school, die ich deutlich lieber mag.

    >>Es wird immer wie­der mal behaup­tet, SaWo–Cha­rak­tere wären sich zu ähn­lich.<<
    Die Behauptung kann ich voll gut nachvollziehen. Spielmechanisch und kompetenztechnisch ähnelt sich doch manches sehr. Der Vorwurf "alles fühlt sich gleich an", weil viele Regelungen analog zueinander funktionieren und verschiedene Subsysteme immer auch dieselbe Weise ineinander greifen, unterscheidet Savage Worlds mMn wenig von D&D4.
    Andererseits: Ja, es ist letztendlich eine Frage des Spielertyps, wie viele besondere Spielmechanismen er für seinen Charakter haben will und wie viel Differenzierung allein durch die Persönlichkeit seiner Spielfigur transportiert wird.

    Mein Fazit:
    Der Lack ist ab. Als Spezialwerkzeug im Werkzeugsammelsurium ist SaWo immer noch von mir geschätzt.

    • „Es ist halt an der Stelle nicht Abenteuer-Erzählspiel, Frei­form, Simu­la­tion … oder old school, die ich deut­lich lie­ber mag.“

      Sagst du damit nicht eigentlich eher (und insgesamt), dass sich dein Geschmack verändert hat? Das ist jetzt nicht als Kritik gemeint. :) Wobei ich jetzt nicht weiß, wie die Simulation da in die Liste geraten ist…

  3. „Sagst du damit nicht eigent­lich eher (und ins­ge­samt), dass sich dein Geschmack ver­än­dert hat?“

    Nein, eigentlich nicht. Was mir mit der Zeit immer deutlicher klar geworden ist ist Folgendes:
    >Fast, Furious, Fun< löst Savage Worlds zwar ein – aber auf seine ganz spezielle Weise. Es steht vom Spielgefühl irgendwo zwischen d20 und Hollywood. Es erfordert eine entsprechende Spielweise, um mit den Regeln dauerhaft Spaß zu haben. (Wobei dazu gesagt werden muss, dass die erforderliche Spielweise durchaus eine gewisse Popularität besitzt, bzw. zeitweise als "kleinster gemeinsamer Nenner" in einer Rollenspielrunde funktioniert.)

    Letztendlich wirkt Savage Worlds dennoch als Regelwerk deutlich weniger integrativ in Bezug auf verschiedene Arten Rollenspiel zu betreiben als es vorgibt. Das macht es nicht zu einem schlechten System sondern begrenzt nur seine Einsatzfähigkeit als Universalsystem. (Das, was du im Artikel mit dem Begriff beschreibst, weist eher darauf hin, dass Savage Worlds eine ganze Reihe belieber Genres bedienen kann.)

    • Ich gebe dir da vollkommen recht – vielleicht habe ich für meinen persönlichen Geschmack auch noch nicht ausgereizt, was Savage Worlds gut kann.

      Mit den Genres ist das so eine Sache, schließlich ist der Begriff so dehnbar und undefiniert. Eine große Vielfalt Fantasy, Scifi, Superhelden, Kriminalgeschichten kann tatsächlich mit Savage Worlds abgebildet werden, wenn es dabei knallt und rummst und die Story schnell voranschreitet umso besser. Für mich selber habe ich auch kein Problem damit, wenn bei SaWo mal nicht so viel los ist, das hat in meinen Runden sehr gut funktioniert.

      Für alles eignet es sich dann definitiv nicht. Ich meine damit, dass alle Settings irgendwie halt doch zu SaWo werden, also dem Spielstil des Systems ähnlicher, und wenn das mit der beabsichtigten Stimmung nicht vereinbar ist, dann geht das halt nicht. SaWo lässt sich in dem Sinne nicht umbiegen, da es seine Stärken verliert, wenn man zu sehr von seiner Kernidee abweicht.

      Das stört mich aber umgekehrt auch nicht. Ich denke mal, dass kein „Universalsystem“ so universal sein sollte, dass es kein ihm eigenes Spielgefühl hat. *World-Spiele eskalieren ja z.B. sehr gerne, wenn man aufgrund schlechter Würfe neue Spielsituationen schafft. FATE hat auch ein bestimmtes Spielgefühl. Usw. Dass Pinnacle den Systemkern der Deluxe so stabil belassen hat, scheint darauf hinzuweisen, dass sie ihre (große) Nische verstanden haben könnten.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein