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17^^ Die Genre-Bezeichnung Romantasy, unter welche ich diesen Titel gedanklich schon platziert hatte, möchte beim Engelseher einfach nicht so ganz passen. Nicht, dass die Kategorisierung völlig abwegig wäre. „Ein Mensch verliebt sich in einen schwarzen Engel“, heißt es schließlich rückseitig und: Mystische Wesen plus Liebe ergibt dieser Tage ja eigentlich immer Romantasy, oder? Andererseits hält der Text selbst deutlich mehr, als der Klappentext verspricht, und dafür bin ich sehr dankbar. Der Engelseher siedelt sich jenseits des Mainstreams an und hat damit meine Vorstellungen locker übertroffen.

Story

Jeásh ist ein Sterblicher. Er lebt und leidet, wie es manche Sterblichen tun, aber im Gegensatz zu den Meisten kennt er nicht die Gründe für die Gefühle von Trauer und Einsamkeit, die ihn plagen. Er lebt am Abgrund, ständig in der Gefahr in Depressionen zu verfallen und sich vom nächsten Hausdach zu stürzen. Er vermisst etwas, ohne zu wissen, was das sein mag und weil seine Mitmenschen seine stetig schwankende emotionale Lage nicht ignorieren können, landet er bald in einer Klinik, die ihn vor sich selbst schützen soll. Allerdings braucht er schon bald Schutz vor etwas ganz anderem.

Ezariel ist ein schwarzer Engel. Angefüllt mit negativen Emotionen und dazu fähig, solche zu verstärken. Er wacht an Jeáshs Seite über das Leben und Streben des jungen Mannes. Allerdings wacht er nicht alleine. Denn stärker noch als an seine dunkle Natur fühlt sich Ezariel an die göttliche Ordnung gebunden, welche besagt, dass einen jeden Sterblichen zwei Engel im Verborgenen begleiten. Ein weißer und ein schwarzer Engel.

Und so steht auf Jeáshs anderer Seite Malach. Ein weißer Engel, der das Positive in Jeásh stärkt. In den dunkelsten Stunden des jungen Mannes liefern die beiden sich einen Kampf um seine Seele. Was aus Jeásh wird, muss seine freie Entscheidung sein, die durch sie in die eine oder in die andere Richtung beeinflusst werden kann. So ist es bestimmt.

Malach entscheidet in einem besonders dunklen Moment Jeáshs, einen Teil von sich herzugeben, um ihn zu retten. Eine Entscheidung, die auch ein Engel nur einmal im Leben des Sterblichen treffen kann und welche nicht nur für den Menschen, sondern auch für den Engel Konsequenzen hat. Getrieben von der Enttäuschung darüber, dass Jeásh sich trotz des Opfers nicht endgültig von dunklen Gefühlen ablenken lässt, verlässt Malach seinen Posten und den Sterblichen. Verlässt die Dreierordnung und verliert mit seiner Aufgabe seine Farbe und sein Wesen. Von da an ist nichts mehr wie es einmal war.

Ezariel versucht, Malach zu ersetzen und ein farbloser Engel zu werden, der gleichsam die eine, gleichsam die andere Seite vertreten kann.

Malach versucht, das Nichts, das sich in ihm ausbreitet, zu füllen und macht dabei schon bald Jagd auf seinen einstigen Schutzbefohlenen.

Und Jeásh? Er versucht zu verstehen, was das alles zu bedeuten hat, wer er ist und wie er sein Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen kann. Sucht nach Schutz vor dem entarteten Malach und nach einem Weg, der ihn und Ezariel nicht weiter in Gefahr bringt.

Denn seitdem Malach einen Teil von sich für sich für ihn hergab, kann Jeásh sehen, was sich hinter Schatten und Licht verbarg. Kann die sehen, die er schon vorher immer erahnt hatte. Die, die ihn schützen oder vernichten wollen. Es entwickelt sich eine interessante Geschichte in der Glaube, Verlust, Hoffnung und Schicksal eine ebenso große Rolle spielen wie freie Entscheidungen und Fehler und Gefühle.

Mein Eindruck

Der Engelseher liest sich eher wie eine mystische Erzählung als wie eine Fantasy-Geschichte und bewegt sich damit in einem erfreulichen Randbezirk des Fantasy-Genres.

Die Handlung ist zwar stellenweise vorhersehbar, wartet aber dennoch mit einigen überraschenden Wendungen auf, die einen interessanten neuen Aspekt in die Problematik bringen, mit der Jeásh und Ezariel sich auseinandersetzen müssen. Angenehm ist auch, dass nicht die sich entwickelnde Liebe der beiden Protagonisten im Vordergrund steht, sondern die Suche nach zweckdienlichen Lösungen, um sich und den jeweils anderen vor Malach zu schützen.

Ein klares Minus des Romans ist sein Umfang. Die Handlung innerhalb der Suche nach einer Lösung ist variantenreich und interessant zu lesen, aber viel mehr als diese Suche und eine letzte Auseinandersetzung mit Malach umfasst die Geschichte dann auch nicht mehr. Und am Ende hat man das Gefühl, aus der Grundkonstellation könnte so viel mehr entstehen als das, was entstanden ist. Als habe man ein Kapitel eines Buches gelesen – um dann festzustellen, dass das Buch nur aus diesem Kapitel besteht.

Die Charaktere

Sehr erfreulich war die Gestaltung der unterschiedlichen im Buch auftauchenden Charaktere. Flöter versteht es, uns nicht nur einen gelungenen Eindruck von den Hauptcharakteren zu verschaffen, sondern auch die Nebencharaktere im Buch individuell interessant und anschaulich zu beschreiben und darzustellen. Keine einzige Person wirkt unglaubwürdig oder zu schwach, jeder räumt die Autorin das nötige Ansehen ein und jede ist auf ihre Weise beachtenswert.

Uriel, der Herrscher über die Totenpforte wird über den Respekt der anderen Charaktere und seine wenigen, aber klaren Worte als Engel mit gewaltiger Macht begriffen. Anhand der Gespräche im Text und Ezariels Gedanken bekommt der Leser den Eindruck, dass Uriel aufzusuchen gut überlegt sein will, ihn zu hintergehen im höchsten Maße gefährlich und dabei zu entkommen reine Glückssache ist.

Ähnlich souverän werden die Hexe und die Priesterin dargestellt, welchen Jeásh auf seiner Reise begegnet. Jede der Personen ist für sich mit Zaubermacht oder innerer Stärke und Glauben ausgestattet und kann gegen die anderen Charaktere bestehen, ohne diese dadurch zu schmälern oder unglaubwürdig werden zu lassen. Wäre Der Engelseher ein Rollenspielsystem, dann hätten wir es mit einem wahnsinnig ausgewogenen Talentsystem zu tun.

Die Hauptcharaktere machen interessante Entwicklungen durch, sammeln neues Wissen und positionieren sich neu im Mächteverhältnis untereinander. Es ist spannend zu verfolgen, wie sich die Beziehungen zwischen schwarzem und weißem Engel untereinander und gegenüber ihrem Sterblichen verkehren und sie neue Rollen für sich finden. Ebenso gelungen ist die Beobachtung dessen, wie Jeásh einiges über sich lernt und sein Schicksal selbst in die Hand nimmt.

Aufbau und Auflösung

Der Engelseher verfolgt einen recht szenischen Aufbau. Das ist zu Beginn noch etwas irritierend, solange sich kein rechter Handlungsstrang eingestellt hat – gibt dem Text aber letztlich einiges an Geschwindigkeit und überspringt unnötige Reisebeschreibungen und Kapitelübergänge. Dadurch kann der Leser immer gleich dort weiter lesen, wo es wieder relevant wird zwischen den Charakteren, wo sich – sei es äußerlich oder innerlich – etwas tut.

Im Prolog erfahren wir etwas darüber, wie es zu der göttlichen Ordnung gekommen ist, welche jedem Sterblichen einen schwarzen und einen weißen Engel zur Seite stellt. Erfahren etwas über die Anklage des Morgensterns gegenüber der göttlichen Herrin und den Zwiespalt, der dadurch gesät wurde. Über die Entstehung der Hölle und den freien Willen der Menschen, der ihnen nicht nur zum Vorteil gereicht. Dieser Einstieg ist recht eindrucksvoll. Auf wenigen Seiten schafft es die Autorin, beide Parteien darzustellen und einen überzeugenden Hintergrund für ihre Geschichte zu schaffen.

Im Folgenden werden szenenweise im unregelmäßigen Wechsel Geschehnisse um Jeásh, Ezariel und Malach dargestellt und so die Geschichte zusammengesponnen. Flöter verschafft uns Einblicke in die Gedanken und Gefühle der drei Hauptcharaktere und versteht es, deren aktuelle Situation klar und gut verständlich zu vermitteln. Somit bereiten einem auch die Sprünge zwischen den Szenen keine große Mühe.

Durch die unterschiedlichen Begegnungen, die Jeásh auf der Suche nach einer Lösung macht, erhält Flöter die Spannung aufrecht und durch die wechselnde Perspektive und den Blick auf immer eine der drei Hauptpersonen bleibt das Buch von Anfang bis Ende interessant.

Der Autor

Laura Flöter gehört zu den Newcomern in der Branche. Sie hat in der Fabylon-Serie „Sun-Quest“ mitgewirkt und wurde dort für die Buchreihe ARS LITTERAE, herausgegeben von Alisha Bionda, entdeckt. Beim Engelseher handelt es sich um eine Auftragsarbeit für diese Reihe.

Schreibstil

Laura Flöter schreibt ausgesprochen präzise. Sie nutzt stimmige Vergleiche und Bilder, um Eindrücke zu veranschaulichen. Dadurch gelingt es ihr, die Charaktere in wenigen Sätzen ganz individuell zu gestalten, den Szenen die passende Atmosphäre zu verschaffen und Streitgespräche und Kämpfe episch und bedeutend erscheinen zu lassen. Die Anteile der drei Protagonisten am Gesamtgeschehen sind recht ausgeglichen, mit einem leichten Fokus auf Jeásh.

Insgesamt verschafft der Perspektivwechsel dem Text eine angenehme Vielschichtigkeit. Dadurch, dass man von allen drei Charakteren immer erfährt, was sich an unterschiedlichen Orten gerade bei ihnen abspielt, wird der Text zu einer runden Sache. Der Leser bekommt den Eindruck, an der gesamten Geschichte beteiligt zu sein und nichts zu verpassen.

Preis-/Leistungsverhältnis

Mit einem Preis von 14,90 EUR liegt Der Engelseher im normalen Preisspektrum für ein Paperback, weist allerdings nur dessen etwas größeres Format, nicht aber dessen dickeren Umschlag und damit gesteigerte Stabilität auf. Bedenkt man den dazu noch eher geringen Umfang des Textes, ist das Preis-/Leistungsverhältnis eher negativ zu bewerten.

Erscheinungsbild

Das Cover weist den typischen Stil der Literatur-Reihe ARS LITTERAE auf. Rechts und unten findet sich ein grau-brauer, breiter Rahmen und oben links das gewählte Titelbild. Kreisförmig unter dem Titel erscheint ein weiteres Bild. Im Titelbild finden wir zwei Engel, einen weißen und einen schwarzen Schatten, die sich unbekleidet gegenüber stehen. Die Notwendigkeit dessen, dass sie unbekleidet sind, erschließt sich mir nicht komplett, sagt zum Glück aber wenig über den Romantext selbst aus. In dem kleinen Bild sieht man eine nackte Männerbrust und eine weiße und eine schwarze Feder. Auch hier bekommt man mehr den Eindruck eines erotischen Liebesromans als einer mystischen Erzählung mit nur leichtem Bezug zur Liebesgeschichte. Insgesamt wirkt dadurch das Cover für den eigentlichen Text eher unpasse
nd.

Der Engelseher Laura Flöter CoverGleiches gilt für den Klappentext, der einen mit völlig anderen Erwartungen an die Geschichte herangehen lässt. Der Einband ist eher instabil, sehr dünn und weich und knickt nach erstem Lesen. Der Text im Buch ist zu nah an den Innensteg gesetzt, sodass man es sehr weit knicken muss, um lesen zu können. Die Bindung ist ordentlich und hält diese Behandlung locker aus. Im Text sind einzelne Szenen mit schwarzen Federn voneinander abgegrenzt, was im Grunde eine schöne Idee ist, aber auf Seiten mit sehr kurzen Szenen etwas störend wirkt. Der Text ist in drei Hauptteile gegliedert, bei denen sich jeweils ein passendes schwarz-weiß Motiv findet, deren Druckqualität nicht sonderlich hoch ist. Der Roman hat einen Umfang von 200 Seiten. Insgesamt macht das Buch einen eher schlechten Eindruck, den der Text zum Glück widerlegt.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fabylon
  • Autor(en): Laura Flöter
  • Erscheinungsjahr: 2012
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch/Paperback
  • Seitenanzahl: 200 Seiten
  • ISBN: 9783927071513
  • Preis: 14,90 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Es ist kein Bonus/Downloadcontent vorhanden.

Fazit

Für mich handelt es sich beim Engelseher um eine erfreulich ausgewogene Geschichte, bei der einzelne Textanteile, Charaktere und Themen gut aufeinander abgestimmt sind. Durch den mystischen Hintergrund gewinnt die Geschichte außerdem an Tiefe und Bedeutsamkeit. Wer sich mit der Grundthematik anfreunden kann und gerne bildgewaltige Charakterentwicklung liest, ist mit diesem Buch gut beraten. Lockere oder stark romantische leichte Lektüre, wie das Titelbild und der Klappentext es andeuten wollen, sucht man hier allerdings vergebens. Der Text ist eindringlich und anspruchsvoll gestaltet. Durch den Bezug zum menschlichen Schicksal und den umstrittenen freien Willen erlangt die Geschichte auch eine philosophische Ebene. Einziges wirkliches Manko dieses Buches ist, dass es so schnell vorbei ist.

Es entfaltet auf den wenigen Seiten eine starke Wirkungskraft, aber es lässt einen mit dem Gefühl zurück, erst ein Drittel dessen gelesen zu haben, was man lesen wollte. Während das, was erzählt wurde, sein Potenzial voll ausschöpft, bekommt man doch das Gefühl, dass noch weit mehr erzählt werden könnte, über die Zukunft der Charaktere. Der letzte Satz lautet: „Und am Grund der Nacht lag nicht das Ende, sondern erst der Anfang einer langen Reise.“ Und genau dieses Gefühl hat man als Leser auch. Nur, dass man vom Rest der Reise dann leider nichts mehr mitbekommt.

Daumen4weiblich

Artikelbilder: Fabylon
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Über die Autorin

Stefanie SpieseckeSte­fa­nie Spiesecke ist Buch­händ­le­rin und Redak­teu­rin im Res­sort für phan­tas­ti­sche Lite­ra­tur. Sie unter­stützt teilzeithelden.de mit Berich­ten rund um das geschrie­bene fan­tas­ti­sche Wort.

 

 

 

 

 

4 Kommentare

  1. Tolle Rezension!
    Ich habe das Buch genau so empfunden, wie die Rezensentin und freue mich sehr darüber, dass noch mehr Menschen anspruchsvolle Fantasy aus der deutschen Autorengemeinschaft zu schätzen wissen!
    Auch die Kritik am äußeren Eindruck zum Buch und dem Klappentext konnte ich absolut nachvollziehen. Aber leider ist es ja so, dass Autoren bei der Cover- und Klappentextgestaltung kein Mitspracherecht haben…was man hier auch merkt.
    Zum Glück schmälert der Einband nicht den Genuss des Buches selbst. Hier bestätigt sich malwieder: „Never judge a book by its cover.“
    Ich würde auch sehr gern mehr aus dieser Welt lesen!^^

  2. Man sollte aber auch hier berücksichtigen, das Fabylon auch ein Kleinverlag mit kleiner Auflage ist und dadurch auch die Preise anders gestalten muss, als ein großer Branchenriese.
    Positiv ist aber das Preisverhältnis zwischen Print und Ebook (für 4,49 €), da machen die großen Verleger höchstens 1€ Unterschied zum Hardcover.

  3. Eine fantastische Story, ein Schwulenroman in einer Engelsgeschichte verpackt. Der bisexuelle Jeásh verliebt sich in den schwulen schwarzen Engel Ezariel. Doch hat Jeásh keine Ahnung, was eigentlich mit ihm los ist. Im Kloster „Zuflucht“ begegnet er einem anderen bisexuellen Halbengel, der ihn lehrt, wie er seine Veranlagung ausleben kann. Doch dann taucht der eifersüchtige weiße Engel Malach auf und will zurück, was er dem Objekt seiner Begierde geschenkt hat. Ezariel holt sich bei seinem Meister Uriel Rat, wie er den unliebsamen Konkurrenten loswerden kann und gemeinsam mit Jeásh lockt er Malach in eine Falle.

    Der tiefere Sinn der Geschichte liegt natürlich darin, dass die meisten Leser glauben, sie würden nur einen Fantasyroman lesen. Tun sie ja auch, in gewisser Weise!

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