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Als Deponia am 27. Januar 2012 für Windows, Mac OS X und Linux erschien, erwarteten wohl selbst die größten Optimisten beim Entwickler Deadalic Entertainment nicht den immensen Erfolg des satirischen Adventures. Doch sowohl die Kritiker als auch zahlreiche Spieler waren von den Abenteuern des selbstverliebten und chaotischen Tüftlers Rufus angetan. Man schaffte es gar, zwischenzeitlich das meistgekaufte PC-Spiel beim Online-Versandhändler Amazon zu werden.

Zwei ebenso gelungene Fortsetzungen folgten, welche die Handlung weitererzählten. Aber die Spieler wollten noch mehr über den Müllplaneten Deponia und sie sagenumwobene fliegende Stadt Elysium erfahren. Und so machten sich die erfahrenen Rollenspiel-Autoren Nicolas Mendrek, Jan Müller-Michaelis und Mháire Stritter daran, unter Zuhilfenahme eines modifizierten Fate-Regelsystems einen gleichsam umfangreichen wie amüsanten Reiseführer über die Welt von Deponia zu schreiben.

Die Spielwelt

„Der Planet Deponia ist eine einzige, endlose Müllhalde. Schrott und Abfall so weit das Auge reicht.“ Mit diesen Worten beschreibt die Einleitung die Spielwelt. Doch diese Welt ist noch so viel mehr, wie dem Leser im umfangreichen ersten Teil des Regelwerkes erklärt wird.

Der Planet was jedoch nicht immer eine gigantische Müllhalde. Vor Jahrhunderten gab es grüne Wiesen, saubere Luft und – Zitat aus dem Buch – „Wasser mit mehr als 50% H2O-Anteil“. Doch kurzsichtig wie die Menschen nun mal waren, wurde durch einen ausufernden hedonistischen, alles andere als nachhaltigen Lebensstil, die Umwelt zerstört. Während die Polkappen schmolzen, wuchsen die Müllberge.

Die Lösung der Reichen und Mächtigen: Der Bau der Raumstation Elysium, auf dem eben jene Privilegierten ein sorgenfreies Leben führen können, während der Rest der schon arg dezimierten Menschheit auf dem Planeten dahinvegetiert. Doch Not macht bekanntermaßen erfinderisch, und so haben sie sich beispielsweise als Schrottbürger, Barbaren und Hippies mit den Umständen arrangiert.

Doch nicht nur der allgegenwärtige Schrott und zwischenmenschliche Feindschaften machen den Bewohnern zu schaffen, sondern auch Zombies, Mutanten, Yetis, Ratten- und Kakerlakenmenschen sowie fiese Roboter. Unabhängig von diesen Gefahren unterscheidet sich das Leben in Ländern wie der Müllgolei, Rußland, Styropol und Rostralien aber nicht von unserem Leben: Die Menschen haben Jobs, schauen Fernsehen, gehen einkaufen, genießen Freizeitaktivitäten, schimpfen auf Politiker und gehören teilweise auch einer Religion an.

Und so ist die Spielwelt von Deponia trotz Endzeit-Zombies und Raumstationen doch weniger dem Fantasy-Genre oder der Science-Fiction zuzurechnen. Sondern sie ist eher eine gleichsam sarkastische wie humor- und liebevolle Überspitzung unserer Realität. Daher sollte es eigentlich jedem Spieler relativ leichtfallen, sich in diesem Setting gut zurechtzufinden.

Die Regeln

Deponia nutzt als Regelsystem eine abgewandelte Version von Turbo Fate. Dieses erzählerische Rollenspielsystem wurde umgebaut, umformuliert und um spezielle Regeln erweitert. Trotzdessen wird im Buch aber explizit darauf hingewiesen, dass es durchaus möglich ist, Deponia mittels bereits bekannter Fate-Regeln (z.B. Fate Core) zu spielen. Oder, und diese Möglichkeit fand ich persönlich sehr ansprechend, das Würfeln ganz wegzulassen und daraus ein kartenbasiertes Improvisationsspiel zu machen. Da sich dieses Regelwerk eben auch gezielt an Rollenspiel-Einsteiger wendet, war ich von den verschiedenen vorgeschlagenen Möglichkeiten und den Vereinfachungsvorschlägen sehr angetan. Gerade wer über die Videospiele zu diesem Buch stößt, wird mit diesem Regelwerk nicht überfordert sein.

Die Regeln an sich sind recht einfach gehalten und schnell erklärt: Charaktere setzen sich aus Aspekten, Konzepten, Methoden, Stunts und Dilemmata zusammen. Was diese fünf Begriffe bedeuten, erkläre ich im nächsten Abschnitt “Charaktererschaffung”. Proben werden mit sogenannten Fate-Würfeln durchgeführt. Das sind W6-Würfel, die statt der Zahlen zweimal Plus, zweimal Minus und zweimal nichts anzeigen. Wird die entsprechende Anzahl geworfen, kürzen sich die Plus und Minus gegenseitig weg. Dann addiert man den Bonus der ausgewählten Methode hinzu und vergleicht, ob man den geforderten Schwierigkeitsgrad erreicht oder gar übertroffen hat. Klassische, mit Zahlen bedruckte Würfel gehen aber auch. Deren Umrechnung wird im Regelteil einfach erklärt.

Mehr zum Thema Turbo Fate und dessen Regeln erfahrt ihr in der Rezension von Kollege Marc. Um den Rahmen dieser Rezension nicht zu sprengen, möchte ich hier daher bevorzugt auf die Sonderregeln der Fate Trash-Variante eingehen. Diese sind laut Buch extra dafür geschrieben, das Gefühl eines Adventures in ein Rollenspiel zu übertragen:

  1. Dialoge: Die Videospiel-Trilogie ist bekannt für ihren Wortwitz. Gute Dialoge zwischen den Spielern oder NSCs können mit Fate-Punkten belohnt werden.
  2. Abspeichern: Einmal pro Spielsitzung und zum Preis eines Fate-Punktes ist es möglich, einen Speicherpunkt zu laden. Das bedeutet, man darf zu einem beliebigen Zeitpunkt speichern. Der Spielleiter muss hierfür die Spielsituation und das Inventar notieren. Im zweiten Anlauf ist es dann laut Regelwerk übrigens nicht ausdrücklich verboten, sein vorher angesammeltes Meta-Wissen vor dem Neuladen zu verwenden.
  3. Item-Karten: In Adventures sammelt man ja haufenweise mehr oder minder nützliche Gegenstände und hortet sie für eine spätere Benutzung im Inventar. Dargestellt werden diese Gegenstände durch 100 gedruckte Karten, die dem Spiel beiliegen. Diese stellen verschiedenste möglicherweise nützliche Gegenstände wie einen Papierflieger, einen Apfelkuchen, einen brennenden Reifen oder, mein Favorit, rosa Unterwäsche dar. Diese Gegenstände können dann im Spielverlauf als Aspekte genutzt werden. Alternativ können aus mehreren Items auch neue Gegenstände kombiniert werden.
  4. Puzzles und Items: In Deponia ist der Spielleiter dazu angehalten, gerne auch mal ein paar Rätsel oder Puzzles ins Abenteuer einzubauen. Diese sollen möglichst kreativ gelöst werden, hier kommen unter anderem die oben beschriebenen Item-Karten zum Zuge. Spielt man strikt nach Fate-Regelwerk, geben diese Item-Karten +2 auf den Wurf. Danach gibt man die Karte zurück an den Spielleiter oder kauft sie für einen Fate-Punkt zurück.
  5. Klonen: In den meisten Adventures, gerade den moderneren, kann der Spielcharakter nicht sterben. Bei Rollenspielen dagegen schon, deshalb bietet Deponia einen Mittelweg an: Charaktere können durchaus sterben, allerdings können sie dann in speziellen Anlagen wieder geklont werden.

 

Charaktererschaffung

Einer der ziemlich coolen Beispielcharaktere aus dem Download-Paket für Deponia
Einer der ziemlich coolen Beispielcharaktere aus dem Download-Paket für Deponia

Die Charaktererschaffung geht recht zügig, indem man für seine Spielfigur mehrere Aspekte, Stunts, ein Konzept und ein Dilemma erschafft sowie seine Methoden festlegt.

  • Aspekte: Diese beschreiben, in welchen Situationen sich ein Charakter besonders hervortut, was ihm wichtig ist oder auch wobei er versagt. Sie sind eine Mischung aus erzählerischen Ansatzpunkten, Charakternotizen und positiven/negativen Faktoren, die im Spiel eingesetzt werden können. Das kann ein einzelnes Wort oder ein Satz sein.
  • Konzept: Das Konzept beschreibt dann den wichtigsten Aspekt. Dieser sollte sowohl positive als auch negative Effekte haben können, beispielsweise Fanatischer Biker mit Gewissen.
  • Dilemma: Dieses beschreibt, was dem Charakter immer wieder Komplikationen bereitet, beispielsweise eine Schwäche oder auch ein Erzfeind.
  • Methoden: Die sechs Methoden Flink, Scharfsinnig, Tollkühn, Tückisch, Kraftvoll und Sorgfältig stellen klassische Rollenspielwerte dar. Je nach Qualität geben sie auf Proben bis zu +3, außerdem können sie im Spielverlauf aufgelevelt werden.
  • Stunts: So werden besondere Fähigkeiten genannt, die einen Bonus von +2 geben.

 

Spielbarkeit aus Spielleitersicht

Mit Deponia bekommt ein Spielleiter alles, was er für einen gelungenen Spielabend oder gar eine ganze Kampagne benötigt. Funktionierende Regeln natürlich, wobei diese den kleinsten Teil des Buches einnehmen. Einsteiger freuen sich zudem über Spielleiterhinweise, während Fortgeschrittene die optionalen Regeln sicher als Bereicherung empfinden.

Wesentlich mehr Raum im Buch bekommt aber die detailliert ausgearbeitete Spielwelt, welche es erlaubt, rasch eigene Abenteuer zu erschaffen. Dabei ist dieser umfangreiche Fluff-Teil nicht nur sehr flüssig lesbar, sondern auch noch sehr amüsant. Ein ausgearbeitetes Abenteuer und eine ausgearbeitete Kampagne runden das Bild positiv ab.

Spielbarkeit aus Spielersicht

Natürlich richtet sich das Buch vor allem an Fans der Videospiel-Trilogie. Da von denen sicher nicht alle schon mit Pen-&-Paper-Rollenspielen in Kontakt gekommen sind, ist Deponia sehr auf Einsteiger zugeschnitten. So wurden dann auch von Testspielern die einfachen Regeln gelobt, auch wenn es zu Beginn doch Schwierigkeiten dabei gab, Aspekte passend einzusetzen. Besonders die Idee mit den Item-Karten und das Abspeichern wurde jedoch äußerst positiv aufgenommen. Und natürlich wurde viel gelacht, besonders als die Spieler nach der Testrunde durch das Buch blättern durften und die amüsante Weltbeschreibung lasen. Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, dass das Spiel auch zu Anfängerveranstaltungen wie z.B. dem Gratisrollenspieltag äußert positiv aufgenommen wird.

Preis-/Leistungsverhältnis

Für 39,95 EUR bekommt man einen ausführlichen, schick bebilderten Reiseführer durch die Schrottwelt Deponia. Schon für einen normalen Merchandise-Artikel, wie es sie für so manches Videospiel gibt, wäre der Preis der Qualität angemessen. Da man hier aber auch noch ein vollwertiges Rollenspiel dazu bekommt, ist das Preis-/Leistungsverhältnis als gut zu bewerten. Zusätzlich gibt es auch noch die stabilen Item-Karten (die man allerdings selbst ausschneiden muss) und eine große Weltkarte, darum finde ich das Preis-/Leistungsverhältnis sogar sehr gut.

Erscheinungsbild

Deponia Mhaire Stritter Uhrwerk Verlag CoverDeponia ist vor allem bunt. Kaum eine Seite, auf der sich nicht mindestens ein schick gezeichnetes Bild findet. Manche davon sind jedoch etwas verpixelt, was den Eindruck zwar trübt, aber zumeist erst auf den zweiten Blick auffällt. Die Texte sind großgeschrieben und das Layout ist schön übersichtlich, allerdings haben sich doch ein paar Fehler eingeschlichen.

Das DIN-A4-Hardcover mit 240 Seiten ist in gewohnt guter Uhrwerk-Qualität gedruckt, durchgehend vollfarbig und bietet ein Lesebändchen. Auch die Item-Karten und die Weltkarte werden sicher einige Spielsitzungen aushalten.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Uhrwerk Verlag
  • Autor(en): Mháire Stritter, Nicolas Mendrek, Jan Müller-Michaelis
  • Erscheinungsjahr: 2015
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Buch
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN: 3958670245
  • Preis: 39,95 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon. Sphärenmeister

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der Webseite des Uhrwerk-Verlags kann man die Weltkarte, den Charakterbogen und Beispielcharaktere herunterladen.

Fazit

Wer hätte gedacht, dass man aus einem Adventure über einen Müllplaneten so viel herausholen kann? Ich nicht, vermutlich bin ich deswegen auch so begeistert.

Deponia funktioniert gleich auf drei Arten: erstens als umfangreicher Quellenband über die Spielwelt. Hier werden auf amüsante Art Orte, Bewohner und Dinge beschrieben, nach denen zu fragen mir nie in den Sinn gekommen wäre. Dabei liest es sich dank eines angenehmen Schreibstils so flüssig, dass man diesen umfangreichsten Teil des Buches überraschend flott durchgelesen hat. Zweitens funktioniert das Regelsystem sehr gut, sowohl wenn man es nur mit Item-Karten sehr erzählorientiert spielt als auch, wenn man eher regelgetreu Fate Trash nutzt.

Und drittens ist die Umsetzung des Adventure-Gefühls dank Speicherfunktion und anderer Videospielfunktionen überaus gelungen. Auch die Druckqualität und das sehr gute Preis-/Leistungsverhältnis sprechen für das Produkt, sodass ich jedem Leser empfehlen kann, mal eine Reise nach Deponia zu unternehmen. Lediglich „dank“ ein paar kleiner Fehler in Lektorat und Layout schlittert Deponia an der Höchstwertung vorbei.

Daumen4Maennlich

Mit Tendenz nach oben

Artikelbilder: Uhrwerk Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

8 Kommentare

  1. Naja, hätten sie lieber mal die Zeit und die Mühe investiert dass es auf allen Grafikkarten ordentlich läuft. Aber warum sollte man auch Kunden beachten die ihr Geld schon ausgegeben haben? Da kann die Umsetzung als Rollenspiel noch so gut sein, die Firma ist bei mir sowas vom Tisch…

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