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von Fabian Püschel

Seit Rollenspiele in Deutschland zunehmend populär wurden, sind einige Jahrzehnte vergangen. Aber wie war das eigentlich damals, als noch kaum jemand wusste, was dieses Pen&Paper eigentlich ist?

Es war einmal in den 90er Jahren …

Es war einmal in der 7. Klasse eines Kleinstadtgymnasiums, irgendwo in Westdeutschland, in den frühen 90er Jahren. Damals wurde ein Junge nicht versetzt, er kam zu uns in die Siebte und wurde vom Klassenlehrer etwa so vorgestellt: „Das ist Sven. Sven hat ein Hobby und ich möchte nicht, dass er dieses Hobby hier verbreitet.“ Sven selbst saß da irgendwo in den ersten Reihen, für den Klassendurchschnitt irgendwie zu groß. Er war ziemlich dunkel angezogen, fast alles in Schwarz. Die ganze Klasse starrte ihn an, während der Lehrer versuchte, sein mysteriöses Hobby, auf dessen Auflösung wir inzwischen alle total gespannt waren, durch weitere Umschreibungen noch gefährlicher und somit noch spannender zu machen.

Auf den zweiten Blick fiel mir auf, dass Sven Armbänder aus Leder trug, die ihm etwas Kämpferisches verliehen. Sven genoss die Aufmerksamkeit, aber ich schätze, ihm war auch schmerzlich bewusst, dass er hier auf einem fremden Planeten gelandet war. Ich trug damals noch die Sachen, die mir meine Mutter gekauft hatte und die waren meist sehr farbenfroh. Wir waren alle noch sehr unschuldig bis Sven zu uns kam.

Es stellte sich heraus, dass Sven viele fragwürdige Hobbys hatte. Er brachte das Rauchen in unsere bis dahin heile Welt, er hatte ultrabrutale Manga-Comics im schwarzen 4you-Rucksack und wusste, wo man Pornos herbekam. Er schleppte selbstgebaute Waffen aus Ketten mit sich herum und erzählte uns von indizierten Horrorfilmen, die er gesehen hatte. Aber sein spezielles Hobby hatte er unter dem Druck seiner Erziehungsberechtigten wohl endgültig aufgegeben. Natürlich handelte es sich um Rollenspiele und diese wurden so strikt durch seine Eltern zensiert, dass ich davon nur noch andeutungsweise etwas mitbekommen habe. Nachdem Sven nur Sechsen und Fünfen auf seinem Zeugnis hatte, beschloss sein Vater, alle Rollenspiel-Utensilien in Svens Kinderzimmer (was mehr wie eine Rockerkneipe anmutete) in einem Anfall autoritärer Übergriffigkeit auf den Müll zu befördern. Hauptsächlich waren das wohl Bücher und selbstverfasste Texte. „Rollenspiel hat also viel mit Lesen und Schreiben zu tun“, dachte ich und gab weitere Recherchen erst einmal auf.

Es gab damals noch kein Internet, man konnte nicht einfach „Rollenspiel“ googeln. Ich musste mir alles, was ich aufschnappen konnte, mühsam zusammenreimen. Sven war ja von seinen Eltern und den Lehrern vereidigt worden, kein Wort darüber zu verlieren. Nur hatte man ihm nicht verboten, weiter Nägel in Baseball-Schläger zu rammen, „Armee der Finsternis“ zu gucken oder „John Player Specials“ zu rauchen. Sven war mein Tor zur Hölle, wenn auch nicht zum Rollenspiel.

Es war einmal in den 00er Jahren

Die Jahre verstrichen und ich entwickelte eine leichte Affinität zu bestimmten PC-Spielen der Firma Blizzard, doch diese befriedigten mich nur unzureichend und so begann ich die alte Spur wieder aufzunehmen.

Jeder kennt diese Fantasy-, Bücher-, Miniaturen-Läden, es gibt sie in jeder Stadt und mittlerweile glaube ich fest daran, dass sie für Menschen ohne einen „Sense of Wonder“ unsichtbar sind. Während meines Studiums in Kassel besuchte ich mit meiner Freundin so einen Nerd-Schuppen. Als Kind liebte ich Brettspiele und das Schaufenster hatte da einiges Interessantes zu bieten. Ein Mitt-Vierziger mit schütterem Haar und Pferdeschwanz stand hinter der Kasse und führte Fachgespräche über „Magic“- Karten mit 14jährigen, die er fast um das Doppelte überragte. Dieser Mann sollte uns behilflich sein, etwas Passendes zu finden, jedoch funktionierte er nicht im herkömmlichen Sinne wie ein Verkäufer.

Mehr als ein Dienstleister war er eine Art Schwellenhüter. Vielleicht war er in all den unzähligen Jahren umgeben von Fantasy-Artikeln selbst schon zu einer mythologischen Figur geworden. Schwellenhüter sind oftmals abschreckend und nur dazu da, allzu Neugierige und leichtsinnige Normalos wie uns davon abzuhalten, eine Welt zu betreten, derer sie unwürdig sind und die sie allein durch ihr frevelhaftes Unwissen entweihen würden. Diesen Eindruck zu vermitteln war sicher nicht seine eigentliche Absicht. In gewöhnlichen Geschäften führt die Ahnungslosigkeit der Angestellten oft zu Frustration und man fragt sich, warum diese Menschen Produkte verkaufen, über die sie nichts wissen und die sie scheinbar auch nicht interessieren.

Das Wissen des Schwellenhüters über die Produkte in seinem Laden war im Gegensatz dazu dermaßen umfangreich, dass es ihm sichtlich schwer viel, es uns wohldosiert zu verabreichen. Es schien alles einschüchternd umfangreich und komplex zu sein und überhaupt nichts für mal eben zwischendurch was spielen. Dazu bildeten die Verpackungen und Einbände in den Regalen einen krassen Kontrast. Bilder von Helden und Fabelwesen wirkten einladend und verheißungsvoll, ganze Welten warteten hier darauf, entdeckt zu werden.

Doch anstatt der Verlockung durch schickes Cover-Artwork nachzugehen, starrte ich dem Verkäufer auf sein ungepflegtes Hautbild und fragte mich, was er da redet. Meine Freundin hatte inzwischen aufgegeben und bewegte sich schon wieder Richtung Ausgang. Doch ich war hartnäckig, konnte selbst der kryptischen Fachsimpelei etwas abgewinnen und wollte wissen, ob es auch Rollenspiele für Anfänger gebe? Er sprach weiter in fremden Zungen, dabei ging es wohl um verschiedene Systeme, einige einsteigerfreundlicher als andere, aber so richtig was für Anfänger gäbe es nicht, da alles sehr davon abhinge, was man genau spielen wolle.

Seine Empfehlung: Savage Worlds, dort könne ich ohne Probleme eigene Körperteile durch die Extremitäten von Monstern ersetzen, um so z.B. meine Nahkampffähigkeit zu verbessern. Natürlich müsste man die jeweilige Extremität dem Monster gewaltsam abnehmen, um sie dann mit der entsprechenden Skillung zu transplantieren. „Das klingt ja ganz interessant“, gab ich zu „aber leider muss ich jetzt erst mal meiner Begleitung hinterherlaufen …“, die inzwischen auf eigene Faust den Laden verlassen hatte. Ich hatte mit einer gewissen kindlichen Erwartung dieses Geschäft betreten und dieses Kind in mir wurde enttäuscht. Hinter den verheißungsvollen Illustrationen verbarg sich ´ne Menge trockene Theorie, gepaart mit verrückten Gewaltfantasien, so kam es mir jedenfalls vor.

Es war einmal in den 10er Jahren

Es vergingen Jahre, bis ich einen weiteren Annäherungsversuch wagen sollte. Diesesmal googelte ich „Rollenspiel“. Dabei landete ich irgendwie auf der Seite von „Der eine Ring“ einem Rollenspiel, das in Mittelerde spielt. Ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich außer Tolkien und Astrid Lindgren kaum echte Fantasy-Literatur kannte, ich aber von beiden Autoren nach wie vor sehr begeistert bin. Mal wieder war es das Artwork, das mich neugierig machte. Rollenspiel in der Welt von Der Hobbit und Der Herr der Ringe, großartig! Und so fing es also an.

Wieder besuchte ich einen Rollenspiel-Laden, aber dank des weltweiten Netzes hatte ich nun etwas Vorwissen und konnte mich sogar mit den Menschen dort verständigen. Und wieder nahm ich meine Freundin mit, schließlich spielt man selten allein. Wie ein Kind, das seinen Eltern ein Spielzeug präsentiert, das es unbedingt haben will, präsentierte ich meiner Freundin das Regelwerk zum Tolkien-Spiel: „Hier guck mal, an sowas hatte ich gedacht.“ Antwort: „Oh nee, ist das so mit Hobbits und Elfen? Ich hasse Hobbits.“ „Wie bitte?“ Wie kann man Hobbits hassen? „Dieses Mal gehe ich nicht, ohne etwas zu kaufen,“ sagte ich mir. Irgendein Rollenspiel würde ihr schon gefallen. Und tatsächlich gab es fast alles von klassischer Fantasy mit Elben und Zwergen, über dystopische Postapokalypse und utopische Science-Fiction, von Steampunk bis Cyberpunk und deren unzähligen Mixed-Genres bis hin zu den groteskesten Horror-Szenarien. Meine Freundin steht auf Detektiv-Geschichten à la Sherlock Holmes und auf Star Trek, da musste doch was dabei sein.

Schließlich kaufte ich für 100 EUR die Sonderedition des Call of Cthulhu-Spielleiterhandbuchs, da das normale für 40 EUR ausverkauft war und das dazugehörige Spielerhandbuch – und das war genau das, was ich in meinem naiven Eifer nicht gesucht hatte. Call of Cthulhu spielt in der fiktiven Welt des Horror-Schriftstellers H.P. Lovecraft. Das Besondere ist, dass jeder Spieler-Charakter irgendwann im Laufe des Spieles ernsthafte psychische Probleme bekommt. Für gewöhnlich treten Helden in Rollenspielen ihren oftmals sehr schreckenerregenden Antagonisten furchtlos entgegen, nicht so bei Call of Cthulhu, hier verliert man direkt sogenannte geistige Stabilität bis hin zum Nervenzusammenbruch. Geniale Idee, aber ich wollte lieber Hobbits und Elben, Orks und sprechende Bäume und Zauberer und Burgen und Einhörner. Bis heute haben wir Call of Cthulhu nie wirklich gespielt.

Es ist anscheinend ein langer Weg bis zu dem Spiel, das einen glücklich macht. Es sollte sich noch herausstellen, dass es eine Art Volkssport unter Rollenspielern ist, das perfekte Spiel zu finden und die fachliche Auseinandersetzung über die Stärken und Schwächen der Regel-Mechaniken eines Spiels (kurz System genannt) sind eine Hauptdisziplin innerhalb dieser Suche nach DEM EINEN Spiel, das alle spieltechnischen Bedürfnisse befriedigen kann. Ich hatte in diesem Laden leider vergessen, warum ich überhaupt da war, nämlich um dem Kind in mir eine Freude zu machen und nicht, um mich auf die komplizierte Suche nach einem idealen System zu begeben. Ich kam mir langsam vor wie Bastian, der kleine Junge in Michael Endes unendlicher Geschichte, nur, dass ich es nie bis nach Fantasien schaffte, weil ich immer das falsche Buch kaufte.

Nach Call of Cthulhu kam Dungeonslayers. Man sagte mir, es sei besonders einsteigerfreundlich. Das besondere an diesem System war für mich, dass ich es wirklich gespielt habe. Das erste Mal hatte ich also mit Dungeonslayers. Im Nachhinein wünschte ich mir, mein erstes Mal wäre etwas Besonderes gewesen. Dungeonslayers ist eher so der schnelle Quickie unter den Rollenspielen, ohne tief-gehende Beziehung. Das klingt zwar schön unkompliziert, doch ich wollte was Ernstes für länger. Irgendwann habe ich mich zum Glück an meine erste Liebe zurückerinnert. Heute habe ich ein paar ausgewählte Rollenspiele in meinem Bücherregal stehen und das Tolkien-Spiel „Der eine Ring“ ist nach wie vor mein absoluter Favorit. Ich hätte von Anfang an meinem Instinkt folgen sollen. Was jedoch noch schwieriger ist, als ein für sich passendes System zu finden, ist eine Spielgruppe zu finden.

Organisiere mal aus dem Stegreif drei bis fünf Personen, die bereit sind, ihre wertvolle Freizeit regelmäßig mit dir in Mittelerde zu verbringen, anstatt in der Kneipe oder vor der Glotze. Es ist schon eine Kunst für sich in dieser Szene, in der es ums Spielen geht, auch wirklich zu spielen. Das Internet bietet sich da zur Partnersuche an. Ehrlich gesagt, mir kam der Gedanke, dass ich die Zeit auch in Parship oder Tinder investieren könnte, anstatt in Rollenspiel-Foren. Warum sollte ich mit Leuten, die ich nicht kenne imaginäre Monster bekämpfen, wenn ich auf der anderen Seite rumvögeln könnte? Die Antwort ist einfach: Ich bin verheiratet. Aber vielleicht ist das der Grund, wieso ich vor einer festen Beziehung nie Pen&Paper-Rollenspiele gespielt habe.

Anstatt Nacktfotos von mir auf Tinder hochzuladen, erstellte ich mir also einen Account in einem einschlägigen Rollenspiel-Forum. Nicht, dass das einfach wäre: „Gebe ich mir jetzt so einen elbischen Namen oder nenne ich mich auch Gottestöter oder lieber doch was Selbstironisches?“ Es fällt sofort auf, Rollenspieler sind Text-affine Menschen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Rollenspiel eine echte Wissenschaft ist und dass die Community mehr mit elaborierten Theorien über das Spielen als mit dem Spielen selbst beschäftigt ist. Inzwischen habe ich mich eingelesen, mich in die Geschichte des Rollenspiels vertieft und sogar regelmäßig gespielt.

Es fing als Blind-Date an, wir kannten uns nur aus dem Forum, dann trafen wir uns in einem Pub, um es endlich zu tun. Wir haben Bier getrunken, Monster auf einem Spielplan getötet, old-school Style mit Miniaturen und allem was dazu gehört. Miniaturen sind auch so eine Wissenschaft für sich. Manche sind so detailliert gestaltet und bemalt, dass man kaum glauben kann, dass ein 120 kg schwerer Fusselbart-Nerd einen Pinsel so präzise einsetzen kann. Dieses Kunsthandwerk ist eine Tradition, die sich aus dem Kriegsspiel mit Zinnsoldaten ins Rollenspiel herüber gerettet hat. Zwingend notwendig sind die kleinen Figuren jedoch nicht.

Neuere Rollenspiele legen meist weniger Wert auf die getreue Simulation von Kampfhandlungen, bieten dafür aber mehr erzählerische Freiheit. Es wird eben mehr geredet und weniger gewürfelt. Das Salz in der Suppe ist dabei das eigentliche „Rollenspiel“, also das darstellende Spiel einer Rolle. Dazu habe ich noch in keinem Regelbuch etwas hinreichend Ausführliches gelesen, ein echtes Versäumnis, wie ich finde. Wie stelle ich zum Beispiel einen Erzmagier oder einen Drachen dar?

Meiner Erfahrung nach leiden viele Spielrunden an halbherzigem und unkreativem Schauspiel. Ein Zauberer, der sich wie ein Weihnachtsmann anhört, kann jede Stimmung im Keim ersticken. Aber letztendlich war ich schon froh, dass ich überhaupt eine Gruppe hatte und an Details wie schauspielerischem Talent herumzunörgeln erschien mir unpassend. Nach 4 – 5 Stunden Spiel ist man vor allem eines: müde und erschöpft. Während ich mir zu Beginn der Runde noch über jedes Detail meinen Spieler-Charakter betreffend Gedanken gemacht habe, wie beispielsweise über die genaue Zusammensetzung meines Reiseproviantes (Hartwurst, alter Gouda und trockenes Kürbiskernbrot), so wollte ich nach 4 Stunden Miniaturen-Kampf gegen Goblins nur noch die Luftunterstützung rufen. Auch wenn ich mich nach der Runde völlig leer und ausgepowert fühlte, so muss ich doch zugeben, dass die Zeit sehr schnell verging und das ist wohl ein Zeichen dafür, dass es irgendwie Spaß gemacht hat.

Irgendwann habe ich dann diese Powergamer-Runde hinter mir gelassen und mit ein paar echten Rollenspielveteranen, die noch die erste Edition von Das schwarze Auge gespielt hatten, eine neue Runde gegründet. Diese Jungs haben es drauf, die wissen, wie es geht. Man fängt mit einem gemeinsamen Essen an, wie echte Erwachsene, schließlich sind wir nicht mehr 10 und rennen mit Stöcken durch den Wald. Dann in den Salon, umgeben von wandhohen Bücherregalen, überdacht von einem gußeisernen Kronleuchter und begleitet von sanfter Barock-Musik. Das alles ist zwar nicht notwendig, um Freude am Spiel zu entwickeln, jedoch hat es mir sehr imponiert, wie gut Rollenspiel in ein wirklich kultiviertes Umfeld passt, ohne dabei das innere Kind verleugnen zu müssen. Ich hatte wohl endlich gefunden, wonach ich gesucht hatte. Das Großartige am Rollenspiel ist, dass ich es gleichermaßen gewinnbringend mit viel oder wenig Aufwand spielen kann. Ich könnte es irgendwo im Park auf einer Wiese genau so zelebrieren wie im Thronsaal einer gemieteten Ritterburg vor prasselndem Kaminfeuer.

Heute, mit Blick auf die 80er

Nun ist es bereits fast drei Jahre her, seit ich das erste Regelwerk gekauft habe. Es ist mittlerweile zu einer kleinen Sucht geworden. Ich kaufe unheimlich gerne Rollenspiel-Bücher. Da gibt es ja nicht nur Regelwerke, sondern auch Quellenbücher und Abenteuer-Module, Kampagnen, Kompendien, Bestiarien und Handbücher. Das Vergnügen, ein neues Regelwerk zu studieren, lässt sich schwer beschreiben und ich finde es selbst etwas schräg, mich durch 350 Seiten Theorie zu wühlen, ohne die Gewissheit, dass diese Regeln jemals Anwendung finden werden. Aber ich sinniere gerne über die elementaren Zusammenhänge einer fiktionalen Welt, die nur darauf wartet, zum Leben erweckt zu werden. Ich denke, Regisseure fühlen sich auf ähnliche Weise bereichert, wenn sie neue Drehbücher lesen.

Als Kind funktionierte das ja nicht anders, man hatte zwar keine Regelwerke und doch gab es auch schon damals solche system-theoretischen Diskussionen unter uns Kindern. Immer, wenn in unserer gemeinsamen Fantasie-Welt etwas als unpassend erschien, wurde darüber gestritten. Es herrschte jedenfalls keine Willkür, kein Chaos. Es wurde immer genau verhandelt, in welchem Setting man gerade spielte und welche Figur man darin verkörperte. Und selbst als Kinder verbrachten wir oft mehr Zeit damit, über ein Spiel zu diskutieren, als zu spielen. Und schon damals war man immer auf der Jagd nach den coolsten Items. Dass es für diese Art kindlichen Spielens ein gesellschaftsfähiges Äquivalent für Erwachsene gibt, finde ich geradezu großartig.

Das ist der Zeitpunkt für einen kleinen historischen Exkurs: Rollenspiel ist aus Kriegsspielen (oder Wargames) heraus entstanden, bei denen es hauptsächlich um taktische Kämpfe mit Miniaturen geht. In den späten 60er Jahren hat ein Mann namens Ernest Gary Gygax das Spiel-Setting von historischen Schlachten in eine Fantasy-Welt verlagert und die Armee von Zinn-Soldaten gegen die Figur eines einzigen Helden in einer kleinen Gruppe von Gleichgesinnten getauscht. Die meisten Rollenspiele geben einen Spielleiter vor, der das jeweilige Setting für die Spieler durch Erzählung lebendig werden lässt. In den 90er Jahren ist dieses Hobby, wie damals in meiner Schule, in Verruf geraten. Viele Eltern und Lehrer zeigten sich besorgt, nicht nur über die Intensität, mit der gespielt wurde, in deren extremer Steigerung das Hobby zur Realitätsflucht werden konnte, sondern auch über dessen oft jugendgefährdende Inhalte. Auch wurde Rollenspiel mit Okkultem in Verbindung gebracht. Nicht ganz grundlos, wie ich bestätigen kann, denn auch Sven hatte sich damals motiviert durch ein Motiv aus dem Spiel Das schwarze Auge mittels eines glühenden Schraubenziehers selbst ein Branding auf den Handrücken graviert.

Damals wusste ich noch nicht, was diese Brandnarbe in Form eines halben Wagenrades bedeutet. Kein Wunder, dass seine Eltern zu harten Maßnahmen gegriffen haben. Es ist auch nicht zu leugnen, dass das eine oder andere Fantasy-Setting längst nicht mehr als Lagerfeuer-Geschichte für Pfadfinder taugt. Kann ich den Hobbit noch mit gutem Gewissen meinem Sohn vorlesen, so wird es bei Warhammer schon schwieriger. Die Figuren und Geschichten überschlagen sich in Superlativen, Magier sind Feuerbälle um sich schmeissende Massenvernichtungswaffen, während Barbaren in Meeren aus Blut waten. Aber das alles ist nicht willkürlich zusammen gewürfelt, sondern folgt einem tradierten Literatur-Kanon, Appendix N genannt. Ich habe noch nicht einmal damit angefangen, den gesamten Kanon zu lesen, zu dem Bücher wie Tolkiens Der Herr der Ringe, Robert E. Howards Conan der Cimerier oder H.P. Lovecrafts Der Mythos des Cthulhu gehören. Gemeinsam erzeugen diese und viele andere Standardwerke der Fantasy- und Horror-Literatur ein bestimmtes Stimmungsbild, ein heterogenes Universum mit bestimmten Archetypen, die sich zunehmend zu Klischees verfestigten.

In den 80ern brauchte man dann nur noch „Sword and Sorcery“ zu sagen und jeder wusste, was gemeint war. Bis heute verströmen Rollenspielbücher aus den 70er und 80er Jahren diesen besonderen „Sword and Sorcery“-Charme. Einige moderne Spiele versuchen deshalb, diesen Stil wieder aufzugreifen und damit heutigen Spielern etwas von dem Zauber aus dieser Zeit zu vermitteln. Das funktioniert bisweilen ziemlich gut, zum Beispiel mit Dungeon Crawl Classics, einem besonders stilechten Retro-System, das sich seine Grundmechaniken einer frühen Version des Urvaters aller Rollenspiele, Dungeons and Dragons, entlehnt. Das Großartige an Dungeon Crawl Classics ist, dass man es mit ironischer Distanz spielen kann, was sicher gesünder ist, als sich ein „Boronsrad“ in den Handrücken zu brennen. So habe ich jetzt für jedes Bedürfnis ein passendes System, ob ich nun Urlaub in Mittelerde machen oder in einem Dungeon die 80er Jahre wieder aufleben lassen möchte.

Artikelbild: Darlya | fotolia.de

Über den Autor

Fabian PüschelFabian Püschel (Jahrgang 82) hat Film an einer Kunsthochschule studiert und macht jetzt in Berlin irgendwas mit Medien. Dabei lässt er sich gerne von allen möglichen Spielen ablenken. Mehr über Fabian: www.fabianpueschel.de.

 

 

 

7 Kommentare

  1. Der interessanteste, verstörendste und irgendwie auch unterhaltsamste Blogpost, den ich dieses Jahr gelesen habe.
    Vielen Dank dafür!

    In einigen Punkten hat man sich wieder erkannt, vor allem bei der Beschreibung der 90er Jahre.
    Die gesellschaftliche Stigmatisierung – insbesondere in der Schule – gab es tatsächlich. „Träumer“ wurden schikaniert und drangsaliert. Übrigens in den seltensten Fällen von Mitschülern, sondern von zwei Lehrertypen, die die Schulkollegien dominierten. Auf der einen Seite hatten wir die Alt-68er, die in den archaischen Umtrieben von Rollenspielen, Heavy Metal, Actionfilmen, Computerspielen und (Manga) Comics nichts weiter sahen als Faschismus, Militarismus und Glorifizierung von Gewalt. Auf der anderen Seite die Konservativen, denen einfach die „fantastischen Flausen“ in den Köpfen der Schüler nicht behagten, die mit den entsprechenden Hobbies einhergingen. Da ging es weniger um die Darstellung des Fantastischen, sondern vielmehr um die die pure Existenz solcher nicht-existenten Welten.

    Erst der alle gesellschaftlichen Schichten durchpustende Erfolg von Peter Jacksons Herr der Ringe Verfilmung hat meiner Beobachtung nach letztlich zur breiten Akzeptanz der Phantastik geführt und eine neue Pädagogengeneration begleitet, die diesen „Sense of Wonder“, wie es der Blogger beschreibt, überhaupt wahrzunehmen imstande ist.

    Besonders kurios: Heute, keine 20 Jahre später, gelten Rollenspiele als die eierlegende Wollmilchsau der Schulpädagogik. Schülerinnen und Schüler schreiben, lesen, erschaffen kreative Welten und erweitern ihren emotionalen Horizont. Und das alles in einem geschützten Rahmen. Kein Didaktikwerk kommt mehr ohne Rollenspiele, Planspiele oder Improtheater aus.

    Ich hatte in den 90ern Lehrer, die Rollenspiel, Tabletop und Computerspiele für Teufelswerk hielten. Nicht augenzwinkernd, sondern ernsthaft und erfüllt von tiefster Überzeugung. Heute bin ich selbst Lehrer und es verschafft mir eine tiefe Genugtuung, dass kommende Generationen diese Hürde nicht mehr überwinden müssen und dass Kreativität, lösungsorientiertes, strukturiertes und auf soziale Interaktion ausgelegtes Denken nicht nur unschädlich, sondern sogar im höchsten Maße für eine gesunde geistige Entwicklung nützlich sind.
    Die Folge: Heute müssen sich die „rebellierenden Teenager-Svens“ nicht mehr selbst geißeln, um ihre Ablehnung und Verzweiflung gegenüber der abweisenden Realwelt zum Ausdruck zu bringen.
    Denn erst die breite Akzeptanz der Phantastik ermöglicht uns die vom Blogger angesprochene „ironische Distanz“ zu erleben, die uns gleichsam davon abhält, uns im Endstadium der Realitätsverweigerung Boronsräder auf die Handrücken zu brennen. ;)

    • …unter dem Gesichtspunkt ist noch erwähnenswert, dass Svens Eltern selbst auch Lehrer sind. Hätten sie damals schon geahnt, wie viele große Karrieren aus jugendlichem Nerd-Tum heraus entstanden sind, sie wären vielleicht sogar stolz auf ihren Sohn gewesen, der im Gegensatz zu allen anderen nicht nur Fußball und Gameboy im Kopf hatte. (Nix gegen Fußball und Gameboy;)

  2. Ein klasse geschriebener Artikel zum Jahresende, der wohlige Erinnerungen an den eigenen RPGler Werdegang wachruft, danke! Witzigerweise bin ich zum Rollenspiel gekommen, weil ein paar Schüler der Oberstufe zur Projektwoche irgendwie einen Lehrer überredet hatten, Rollenspiel anzubieten. Gespielt habem die damals auf dem noch unbeschriebenem Kontinent Myranor nach DSA3 Regelwerk, das ich mir dann sofort gekauft habe.

  3. Sehr interessant, aber auch etwas verstörend.
    Ich habe Ende der 80er in einem Sommerurlaub mit Bekannten mit DSA (1.Ed.) angefangen und konnte mich der Unterstützung meines Vaters erfreuen, der nicht nur eine große Sammlung an Comics, SF und Fantasy-Literatur besaß (und besitzt), sondern meinen Geschwistern und mir Hero Quest kaufte und später dann sogar mein zweiter DSA-SL war.
    Wahrscheinlich ein Proto-Nerd ?

    Ich denke manchmal hat er es bereut, denn nirgendwo habe ich mehr Zeit reingesteckt als in dieses wunderbare Hobby (bei Geld halten sich vermutlich eher Magic und Warhammer die Waage).

  4. Da habe ich wohl Glück, dass ich erst auf der Berufsfachschule mich für Fantasyrollenspiele und den ganzen Nerdkram zu interessieren begann. Bei uns auf dem Dorf war das alles eh nicht bekannt. Da hatten die Jungs fast durchgängig Fußball oder Tennis (ich bin Jahrgang 75 – ich kenne noch die Zeit, als Boris Becker nicht durch peinliche Postings im Social Media bekannt war ;) ) im Kopf und wir Mädels waren irgendwie beim DRK oder DLRG engagiert. Musikalisch dominierte Rock der harmlosen Sorte (die ganz Schlimmen hörten Iron Maiden und die Coolen AC/DC). Die Berufsfachschule war wiederum in der „Stadt“ (Bremerhaven halt) und gleich in der Nähe waren ein Comicshop und ein Rollenspielladen. Als ich mal einen kleinen Katalog mit mir herumschleppte, wo unter anderem auch DSA-Artikel drinstanden, erwähnte ein Mitschüler, dass er das schon mal gespielt hat und ein anderer bekundete auch sein Interesse. Eine Freundin, die ebenso in der Klasse war, holte ich mit ins Boot und so fingen wir wenig später mit DSA (3. Edition) an. Ein anderer aus meiner Klasse hieß übrigens auch Sven, war schwarz gekleidete und brachte mich auf das Thema Mangas und Animes und zeigte mir den 2. Comicladen, den es damals in Bremerhaven gab. ^^

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