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Es passiert selten, dass mich ein PC-Rollenspiel beeindruckt zurücklässt. Shadowrun: Returns konnte eine gute Geschichte erzählen und versöhnte mich mit dem Cyberpunk, Dragon Age: Inquisition hatte immerhin schöne (leere) Landschaften. The Witcher 3: Wild Hunt hingegen hat mich gepackt und vor allem durch die hervorragende Story kaum noch losgelassen. Das Spiel um Monster, Krieg und den Kampf gegen die Wilde Jagd macht in meinen Augen alles richtig und ist das digitale Fantasy-RPG der letzten Jahre. 130 Stunden habe ich gebraucht, die Geschichte um den Monstertöter Geralt von Riva zu beenden und ich möchte keine davon missen. Doch dies soll keine verspätete Rezension werden, sondern ein Artikel über mein Lieblingsthema, das Tischrollenspiel. Als eingefleischter Spielleiter habe ich nämlich an vielen Stellen über mein Hobby nachgedacht und finde: Wir alle können noch etwas von CD-Projekt Red lernen.

Spoilerwarnung

Der Artikel enthält leichte Spoiler und Details aus der Story von Witcher 3.

In The Witcher 3 kann der Spieler Geralt bei Ungerechtigkeiten einschreiten lassen oder nicht. Er ist eben kein weißer Ritter, sondern Hexer.
In The Witcher 3 kann der Spieler Geralt bei Ungerechtigkeiten einschreiten lassen oder nicht. Er ist eben kein weißer Ritter, sondern Hexer.

 

Realistische menschliche Abgründe

Die Welt von The Witcher ist schnell erklärt: Durch ein magisches Ereignis sind Monster in die Mittelalterwelt gelangt und hausen seitdem in den Wäldern und Flüssen. Die Bevölkerung lebt in Angst und heuert immer mal wieder Hexer an, mutierte Monsterjäger mit übermenschlichen Kräften. Die Spielwelt stammt dabei aus den Büchern von Andrzej Sapkowski und ist eng mit der slawischen Folklore verbunden. Statt Goblins und Orks bekämpft man Nekker und jagt menschenfressende Striegen. Die sind dabei mehr als nur Hindernisse für Erfahrung und Beute: Beim Erkunden der Spielwelt stolpert man immer wieder über aufgegebene Dörfer und tragische Geschichten, in denen arme Bauern zu Opfern wurden. Fast jeder Hexer-Auftrag endet an einer Leiche. Gerettet wird in Witcher 3 kaum jemand, höchstens gerächt. So wird die Bedrohung durch das Übernatürliche deutlich, das die Spielwelt im Griff hat. Hier kann nichts endgültig besiegt oder überwunden und die Welt gerettet werden – Monster sind einfach da. Die Bevölkerung kompensiert die ständige Gefahr durch Aberglauben („Hexer verbreiten Krankheiten und Unglück“) oder Rassismus („Anderlinge wie Elfen und Zwerge sollen brennen“). Und gerade dieses Gemisch aus Angst und Feindseligkeit ist deutlich näher an unserer eigenen Wirklichkeit, als das Heile-Welt-Bauernleben anderer Welten.

Überhaupt sind die Bewohner der Reiche Redanien und Temerien alles andere als unschuldig. Nicht umsonst trägt der Hexer zwei Schwerter: eines für Monster und eines für Menschen. So begegnet man neben Fanatikern, Deserteuren und Räubern auch immer wieder Dörflern, die monströse Taten vollbringen – ausgesetzte Kinder, Brudermord und Kannibalismus eingeschlossen. Da Witcher 3 vor einem Kriegshintergrund spielt, erklären sich diese menschlichen Abgründe aus Armut, Hunger und Not. Auch das ist stimmiger als die naive Freundlichkeit mancher Rollenspiele, in denen Fremde mit offenen Armen willkommen geheißen werden und man immer noch ein Plätzchen am Feuer frei ist.

The Witcher 3 und Dark Fantasy im Allgemeinen unterlaufen durch ihre aufgeklärte Haltung viele Fantasy-Klischees. Verborgene Schätze und verwunschene Prinzen entpuppen sich oftmals als tödliche Fallen für naive Abenteurer. Unvernünftiges Heldentum führt häufig in den Tod. Das gefällt mir und deckt sich mit einer erwachsenen Perspektive auf unser Hobby. In meinen Fantasy-Spielrunden werde ich jedenfalls mehr darauf achten, wie Monster und Kriege psychologisch auf die Bevölkerung wirken – und manche Einladung zu einem Lagerfeuer mag dann eben zu einem blutigen Hinterhalt geraten.

Nicht leicht zu durchschauen: Sigismund Dijkstra ist ein machthungriger Spion und Verbrecher, aber auch ein Patriot mit Freude an guten Liebesgeschichten.
Nicht leicht zu durchschauen: Sigismund Dijkstra ist ein machthungriger Spion und Verbrecher, aber auch ein Patriot mit Freude an guten Liebesgeschichten.

 

Oh, diese Grautöne

Im Verlauf der Geschichte trifft Geralt auf allerhand zwielichtige Gestalten, deren Hilfe er in Anspruch nimmt. Die meisten von ihnen haben ausgeprägte Charakterschwächen, sind aber trotzdem – oder gerade dadurch – interessant. Geralts langjährige Freundin Yennefer von Vengerberg ist eine herrische Zicke, sie ist aber auch loyal und sehnt sich nach einem ruhigen Leben. Der Baron von Velen ist ein Säufer, der seine Frau schlägt, aber auch ein tapferer Kämpfer mit ehrlicher Reue. König Radowid von Redanien verbrennt Zauberinnen auf Scheiterhaufen, er ist aber auch ein brillianter Taktiker und die letzte Hoffnung auf einen Sieg gegen das Kaiserreich von Nilfgaard. Die Liste ließe sich beliebig lange fortsetzen, „Freund oder Feind?“ lässt sich dabei selten endgültig beantworten.

Statt Schwarz und Weiß präsentiert CD-Projekt Red in The Witcher 3 zahllose Schattierungen von Grau. Dabei passt manches auf den ersten Blick nicht zusammen, fordert aber gerade dadurch heraus, die Charaktere besser kennenzulernen. Jeder von ihnen kämpft, wie Geralt, um einen Platz in der düsteren Welt, zweifelt und trifft falsche Entscheidungen, hat Stärken und Schwächen. Durch diese Komplexität wachsen einem die Figuren ans Herz, werden mehr als nur digitale Questgeber und ermöglichen es, dass der Spieler sogar so etwas wie Freundschaft oder Bedauern für sie empfindet.

Das lässt sich hervorragend aufs Tischrollenspiel übertragen, wo gerade NSC oft zweidimensional bleiben. Charaktere, die die politischen Seiten wechseln oder eigene Ziele ohne Rücksicht auf Verluste verfolgen, können ein Rollenspiel bereichern und eine Spielwelt lebendiger und interessanter gestalten; The Witcher 3 macht es vor.

Für den Hexer zählt vor allem eins: sein Job. Wer ihm dabei hilft und ob er Frauenkleider trägt, ist ihm egal.
Für den Hexer zählt vor allem eins: sein Job. Wer ihm dabei hilft und ob er Frauenkleider trägt, ist ihm egal.

 

Mehr Diversität ohne Albernheiten

CD-Projekt bemüht sich mit der Welt von The Witcher 3 um Wirklichkeitstreue und Ehrlichkeit. Ein Beispiel: Die meisten Charaktere sind äußerlich nicht gerade schön, haben schiefe Nasen, grobe Gesichtszüge und dicke Bäuche. Das passt zum narbenübersäten Protagonisten Geralt und einer Art von Fantasy, die ästhetische Klischees ablehnt. Nur die Zauberinnen der Loge, wie Yennefer oder Triss, entsprechen modernen Schönheitsidealen. Aber auch makelloses Äußeres wird per Stadtgerücht thematisiert. So sollen sie während der Ausbildung ihre Gestalt magisch „korrigiert“ haben, um erhabener zu wirken. Ein Schelm, wer da an Schönheitsoperationen für Führungspersonen denkt. Und im Tischrollenspiel? Zu häufig habe ich am Spieltisch erlebt, dass Spielerinnen reflexartig den Vorteil „wunderschön“ für ihre Charaktere kauften. Auch beschreiben Spieler generell selten optische Makel ihrer Helden. Warum eigentlich? Unsere Welt ist doch auch unvollkommen und bunt.

The Witcher 3 geht aber noch weiter. In einer Szene befindet sich Ciri, des Hexers verschollene Ziehtochter, in einem Dampfbad mit zwei Frauen. Eine davon verrät, dass ihr Bruder sich in Ciri verliebt hat. Als Antwort-Dialogoption steht dabei auch „Ich mag lieber Frauen“ zur Verfügung. Eine Offenbarung, die von den Anwesenden ohne großen Aufstand respektiert wird. So düster und feindselig die Welt von The Witcher auch ist, Homophobie hat hier offenbar keinen Platz. Später im Spiel begegnet Hexer Geralt einem Freund des Barden Rittersporn, einem elfischen Schneider, der gerne in Frauenkleidern herumläuft. Der Hexer fragt zwar neugierig nach, enthält sich aber einer Wertung. Immerhin muss Geralt selbst die Vorurteile und Verachtung der Bevölkerung durch sein Anderssein als Mutant ertragen. Billige Witze über Sexualitäten jenseits des konservativen Mann-Frau-Bildes? Fehlanzeige.

Dabei ist nicht nur bemerkenswert, wie souverän The Witcher 3 mit Homosexualität und Transgender umgeht, sondern auch, dass es überhaupt thematisiert wird. Warum trauen wir uns das nicht im Tischrollenspiel? Dort beschränkt sich Sexualität häufig auf einen schüchternen Kuss eines Abenteurers an eine Tavernenwirtin nach gelungener Charismaprobe – wie langweilig. Haben wir Angst, peinliche Seiten an unseren Mitspielern zu entdecken? Warum ignorieren wir Sexualität gerade in einem Medium, zu dessen Kernthemen das Ausprobieren von und Hineindenken in andere Rollen gehört? Zum Teil ist dies sicher ein Erbe der ersten Dungeons & Dragons-Abenteuer, deren Sexualmoral den 80er-Jahren entsprach und die mit kitschigen Kriegerinnen in Kettenbikinis pubertäre Fantasien befeuerten.

The Witcher ist für mich eine Aufforderung, endlich diese Genre-Prüderie abzustreifen. Ich werde meinen Spielern mehr zutrauen und den nächsten „tapferen Hauptmann“ insgeheim feurige Briefe an einen kernigen Schmied schreiben lassen – ohne dass es jemanden stört.

Temerien und Nilfgaard sind im Krieg und dieser bringt Terror und Armut, Freischärler und Flüchtlinge, Propaganda und Sündenböcke mit sich – wie im echten Leben.
Temerien und Nilfgaard sind im Krieg und dieser bringt Terror und Armut, Freischärler und Flüchtlinge, Propaganda und Sündenböcke mit sich – wie im echten Leben.

 

Ein inspirierendes Meisterwerk

Es gäbe noch sehr viel mehr über The Witcher 3 zu sagen. In meinen Augen ist das Spiel nicht weniger als ein Meisterwerk – von beeindruckender Optik, wuchtigem Soundtrack, starken Monsterkämpfen, sinnvollem Handwerk oder dem unterhaltsamen Minispiel Gwint fange ich gar nicht erst an.

The Witcher 3 gibt es auch bei Amazon
The Witcher 3 gibt es auch bei Amazon

Besonders gefallen hat mir die epische Geschichte, die auch ohne Weltrettung, Superbösewicht oder kosmische Bedrohung auskommt. Es geht viel eher um einen Ziehvater, der seine Tochter sucht, um einen Mann zwischen zwei Frauen, um Verbrecher, Flüchtlinge, Theatervolk und Spione. An wenigen Stellen berührt das Spiel dabei die große Politik – das Schicksal von Nationen liegt in den Händen anderer. Getroffene Entscheidungen haben aber Konsequenzen und können sich teilweise viel später auszahlen oder den Spieler heimsuchen. Und auch kurz vor Schluss nimmt sich das Spiel noch genug Zeit Charaktere zu vertiefen und persönliche Geschichten zu Ende zu erzählen, anstatt alles auf einen Bosskampf zu setzen.

In meinen Augen ist die größte Leistung von The Witcher 3 die Spielwelt. Diese ist gerade durch ihre Wurzeln in slawischer Folklore stimmig und lädt mit einer offenen Welt zum Abtauchen ein. Dabei hilft auch die ungewöhnliche Modernität des Settings. Begriffe wie „Mutationen“, „Rassismus“ und „Gene“ werden ganz selbstverständlich benutzt, Gelehrte obduzieren Leichen und lösen Kriminalfälle, Frauen sind in der Gesellschaft gleichberechtigt und Liebe steht über Standesunterschieden. Das Ganze könnte man „Moderne Fantasy“ nennen. Statt Anachronismen und Fantasy-Klischees zu bedienen, werden hier, ohne Rücksicht auf Authentizität, aktuelle Themen verhandelt. The Witcher 3 hält unserer Welt dabei auch einen Spiegel vor: Der Krieg zwischen den nördlichen Königreichen und dem Kaiserreich Nilfgaard bringt Flüchtlinge, Armut und Gewalt mit. Teile der Bevölkerung suchen sich Sündenböcke in Anderlingen (Elfen und Zwergen) und Magiern und findet Trost in einer fragwürdigen Idelologie und religiösem Fanatismus. Das Spiel zeigt dabei, dass auch aktuelle und heikle Themen ein Rollenspiel bereichern können – Fingerspitzengefühl vorausgesetzt.

Habt ihr The Witcher 3: Wild Hunt gespielt? Was habt ihr aus dem Spiel für eure Tischrollenspielrunde mitgenommen? Schreibt es in die Kommentare!

Artikelbilder: Witcher 3 (c) CD Projekt

 

10 Kommentare

  1. Es war nur eine Nebenquest, aber „Die schwarze Perle“ hat mich doch gepackt. Ein Mann kommt zu einem und bittet ihn bei seiner Suche nach einer schwarzen Perle zu unterstützen. Man hilft ihm, taucht nach ihr, öffnet 10 Muscheln um sie endlich zu finden und überreicht sie ihm. Er hat kein Geld bei sich. Was tun? Ich habe ihn ziehen lassen, mit dem Versprechen, dass er mir das Geld in einer bestimmten Taverne aushändigt.
    Ich reise zur Tarverne. Er wartet. Ich spreche ihn an, habe als Option die Frage, was er mit der Perle wollte, bzw. ob sie ihren Zweck erfüllt hat. Er wird traurig: es war das Geschenk zum Hochzeitstag. Seine Frau erinnert sich immer weniger an ihn und ihre gemeinsamen Zeiten. Die schwarze Perle, aufgrund ihrer Seltenheit, ist sein letzter Versuch sie sich wieder an ihn und ihr bisheriges, gemeinsames Leben erinnern zu lassen. Vergeblich. Ich lasse ihm sein Geld und gehe.

  2. Guter Artikel. Habe es noch nicht spielen können, mir hat aber auch „Witcher 2“ schon sehr gefallen. Noch empfehlenswerter finde ich übrigens die „Geralt“ Romane selbst.

  3. Kurz vorab ein super Spiel. Jetzt zum Kern des ganzen…. Ein sehr schöner Artikel der einem in Bezug auf das Tischrollenapiel stellenweise die Augen öffnet.

    Ich versuche meist viele Einflüsse in meiner Spielrunde unterzubringen und durch deinen Leitfaden werde ich definitiv nun einige aus The Witcher übernehmen. Zumindest an dramaturgischen Einflüssen.

    Vielen Dank für dein Aufmerksam machen.

  4. Sehr schöner Artikel! Du sprichst mir aus der Seele. Ich finde das Spiel ist trotz aller Preise irgendwie in der Kritik nicht euphorisch genug gefeiert worden. So eine kleine polnische Firma (inzwischen vielleicht nicht mehr ganz so klein;) stellt aus meiner Sicht alle anderen etablierten Firmen in den Schatten. Das war für mich das Beste aus allen Medien miteinander verwoben. Man könnte ein Buch darüber schreiben wie großartig dieses Spiel ist in allen seinen Facetten.

  5. Durch eine erwachsene Art, mit Fantasy abseits des Kitsches umzugehen, sind Rollenspiele zum Glück mitgewachsen. Ich liebe diese Grautöne, sie machen den Reiz aus. Man darf durchaus mal einen Paladin spielen (ich halte die nie lange durch), aber Würze kriegt so ein Charakter erst, wenn die Welt nicht schwarz und weiss dargestellt wird.

    Weit vor Witcher 3 hatte ich mein erstes Aha Erlebnis am PC damals mit KOTOR …. herrlich, mit dunkelvioletten Adern im Gesicht vor Joda zu stehen, um die Jedi Weihe zu empfangen. Ab und zu was gutes getan, machen die bösen Dinge gleich doppelt soviel Spass. Oder umgekehrt. Alles hat seinen Preis

  6. Ich bin gerade auf der Suche nach mehr Infos zum Witcher P&P auf euren Artikel gestoßen und hab mich gewundert, dass noch nirgendwo auf der Seite erwähnt wurde das CD Project RED zusammen mit den Machern vom Cyberpunk P&P an einem Tischrollenspiel für The Witcher arbeiten. Dem Fieber ich jetzt entgegen :-)

    Mehr Infos zum Witcher Pen & Paper findet ihr hier:

    https://rtalsoriangames.wordpress.com/

    :-)

  7. Bei Computerspielen immer auf die MODS achten. Wenn ein teures, und angeblich superbes, Produkt keine Modder anlockt, dann stimmt was nicht.

    Hatte man bei „Demonicon“ sehr deutlich, beim Remake von Schicksalsklinge auch etwas.

    Sex mit Leuten besprechen, die ich gar nicht als Sexualpartner will? Wozu dann das Thema forcieren. Kompensiert da wer verzweifelt was, oder muss ich nur darum bitten, dass alle der Psychiatrie entflohenen Triebtäter, nebst Sympathisanten, dann mal aufhören, sich einzumischen? ;->

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