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Nach The Witcher 3 war mein Bedarf an Videospielen im Jahr 2015 eigentlich gedeckt. Doch um Fallout 4 kam ich einfach nicht herum. Keine andere fiktive Welt erzeugt bei mir ein so starkes Gefühl von Nostalgie, wie diese Postapokalypse. Ein blauer Vault-Overall und ein treuer Vierbeiner vor Ruinen und ich genieße wieder meine virtuelle Heimat – selbst wenn diese notgedrungen ein  „klein wenig“ kaputt ist und als Spiel unbequeme Ecken und Kanten besitzt. Bei meinen Rollenspiel-Abenteuern in der Ruinenlandschaft von Boston… pardon des Commonwealth, dachte ich natürlich auch an Pen’n’Paper und was wir von der Spieleschmiede Bethesda lernen können.

Keine Scheu vor Anpassungen

Die ersten zehn Minuten von Fallout 4 waren für mich als Fan klassischer Rollenspiele ein Kulturschock. Vor allem das Dialogsystem anhand von Stichworten und ohne Vorschau auf die tatsächlichen Antworten meiner Spielfigur ging mir als Rollenspieler gehörig gegen den Strich. Doch wozu gibt es Modifikationen? Auf Nexusmods wurde ich fündig: NewDialog gab mir das traditionelle Dialogmenü zurück, TrueStorms verwandelte den radioaktiven Nieselregen im Ödland in gefährliche Unwetter und SettlementSupplies erweiterte den Siedlungsbau um viele sinnvolle Objekte. Natürlich verstehe ich die Design-Entscheidungen der Spieleentwickler, doch mit diesen Mods gefällt mir das Spiel eben besser und ich kenne kaum einen Spieler, der sich Fallout 4 nicht auf diese Weise nach seinem Geschmack angepasst hätte.

Da drängt sich der Vergleich mit Hausregeln im Tischrollenspiel auf. Dort herrscht gegen Veränderungen häufig ein tiefes Misstrauen: „Die Originalregeln werden schon so ihren Sinn haben“, „Bloß nichts verschlimmbessern“. Das geht teilweise so weit, dass Spieler ihre Wahrnehmung verbiegen, um selbst offenkundig dysfunktionale Regeln zu verteidigen, statt diese mit ein paar Anpassungen zu reparieren. Fallout 4 hat mir noch einmal vor Augen geführt, wie unsinnig dieser „Kult des Originalen“ ist und wie viel Mehrwert ein Spiel durch ein paar kleine Modifikationen erhalten kann. Dabei gibt es einen Unterschied: Fallout 4 ist ein Single-Player-Spiel, Tischrollenspiel  immer Verhandlungssache mit mehreren Teilnehmern. Modifikationen sollten dort nicht von oben herab bestimmt, sondern stets in gegenseitigem Einvernehmen eingebaut werden. So entsteht am Ende ein Spiel, dass allen am Spieltisch mehr Spaß macht.

Wenn Rollenspiel, dann bitte mit echter Dialogauswahl – Spiel-Modifikation sei Dank! Die Original-Version von Bethesda ist eher für lesefaule Gelegenheitsspieler gedacht.
Wenn Rollenspiel, dann bitte mit echter Dialogauswahl – Spiel-Modifikation sei Dank! Die Original-Version von Bethesda ist eher für lesefaule Gelegenheitsspieler gedacht.

Kultig statt konsequent

Wer in einem Fallout-Rollenspiel unterwegs ist, stößt früher oder später auf Details im Hintergrund, die nicht so ganz Sinn ergeben wollen. So hat die Vorzeit-Welt zwar intelligente Roboter geschaffen (Mr. Handy!), aber die Komplexität von Computerterminals samt DOS-Eingabemaske stammt wohl noch aus den 80ern. Außerdem findet man rund zwei Jahrhunderte nach dem Untergang noch ungeplünderte Ruinen und essbare Konservendosen. Ein „Stimpak“ heilt per Injektion selbst verkrüppelte Gliedmaßen, RadAway entfernt selbst heftige Strahlenschäden und als nationale Währung dienen Kronkorken von alten Cola-Flaschen. In guter Rollenspiel-Tradition machen Gegenstände den Helden geschickter, klüger oder stärker und legendäre Waffen können als Eigenschaft endlose Munition besitzen – eine Erklärung dafür bleibt aus. Absurd wird es spätestens im Gespräch mit diversen Endzeit-Charakteren – etwa Harold, einem Ghul, dem ein Baum durch den Kopf wächst. Das alles widerspricht einer realistischen Endzeit und will diese auch gar nicht abbilden. Fallout ist eben keine Science-Fiction, sondern ein fantastisches Szenario, das eher die lockere Erzählhaltung von Superhelden-Comicheften pflegt. Wer sich hier an Logikproblemen stößt, verkennt die grundlegende Natur der Serie, die mit Realismus kokettiert und sich diesem seit je her auch verweigert.

Was aber bringt diese Erzählhaltung einer Spielwelt und den Spielern? Einerseits befreit es den Hintergrund von pedantischen Ansprüchen und ermöglicht damit mehr (spontane) Kreativität: Fliegende Untertassen, werteverbessernde Wackelköpfe, aggressive Riesenskorpione, Schockfrost-Waffen, Mini-Nuke-Granate – warum nicht? Vieles davon ist kultig und erzeugt neben Schmunzeln eine buntere Spielwelt mit symbolischem Wiedererkennungswert, die sich damit von realistischeren Szenarien abhebt. Andererseits verweist eine solche lockere Erzählhaltung auch auf die Künstlichkeit der Welt und ruft damit die Spieler auf, sich nicht in Eskapismus zu verlieren: „Es ist nur ein Spiel und das sollte hauptsächlich Spaß machen.“ Diese Haltung täte auch manchen Tischrollenspielern ganz gut, die auswendig den Aventurischen Boten zitieren.

Love Story? Fehlanzeige. Wer mit Begleitern durchs Ödland zieht und die richtigen Dialogoptionen wählt, kann mit ihnen anbändeln und dafür Bonus-Erfahrung bekommen – gähn. Da sind Spiele wie Witcher 3 Lichtjahre voraus.
Love Story? Fehlanzeige. Wer mit Begleitern durchs Ödland zieht und die richtigen Dialogoptionen wählt, kann mit ihnen anbändeln und dafür Bonus-Erfahrung bekommen – gähn. Da sind Spiele wie Witcher 3 Lichtjahre voraus.

 

Eine starke Plotwendung

Ein dicker Pluspunkt von Fallout 4 ist meiner Ansicht nach die zentrale Wendung der Handlung, die ich auf keinen Fall vorweg nehmen möchte. Wer Fallout 4 noch spielen will, dem sei an dieser Stelle geraten, die Klappbox nicht zu öffnen. Ihr wurdet gewarnt.

Spoiler

Der Held von Fallout 4 ist ein Familienvater (wahlweise auch Mutter) auf der Suche nach dem eigenen Sohn Shaun. Dieser wurde als Kleinkind in Vault 111 gestohlen, wobei der Spieler gezwungen ist, aus seiner Kryo-Kammer tatenlos zuzusehen. Bis etwa zur Hälfte des Spiels folgt man den Spuren von Shaun bis zum mysteriösen Intitut, das zu diesem Zeitpunkt das Schreckgespenst der Spielwelt ist. Die Geheimgesellschaft ist verantwortlich für die Erschaffung der Synths und damit erklärter Erzfeind von zwei Fraktionen (Railroad und Brotherhood of Steel). Im Institut angekommen gibt es dann die große Überraschung: Shaun ist am Leben und gar kein Kleinkind mehr! Er wurde im Institut aufgezogen und ist nun dessen Anführer. Dieser Plottwist verändert die ganze „Ich rette meinen Sohn von Bösewichtern“-Geschichte. Auf einmal steht der Spieler vor harten moralischen Entscheidungen: Schlägt er sich für die Familienbande auf die Seite der technokratischen Geheimgesellschaft und sieht zum Wohle des Sohnes über deren moralische Fehler hinweg? Oder führt diese Enthüllung zum endgültigen Bruch mit der Vorzeit-Vergangenheit und einer neuen Identität an der Seite einer Ödland-Fraktion, die früher oder später in den Krieg gegen das Institut zieht?

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Der Plottwist von Fallout 4 steht auf Augenhöhe mit der ikonischen Familienbeziehung zwischen Luke und Darth Vader aus Star Wars. Er spielt mit Erwartungshaltung und Emotionen und überführt die Geschichte auf eine neue Stufe. Nicht umsonst passiert der „Aha-Moment“ in Fallout 4 am Ende der Eingewöhnungsphase: Die aufgebauten Stereotypen helfen bei der Orientierung in der komplexen Spielwelt, werden dann durch den Twist in Frage gestellt und die ganze Erzählung mit einem Schlag deutlich komplexer. Der Spieler wird damit zu Beginn geschont, bis sich die eigentliche Dimension der Handlung und die Motivation der Antagonisten zugleich offenbart. So etwas im Tischrollenspiel umzusetzen, erfordert natürlich enorme Planung seitens des Spielleiters, ist aber auch sehr lohnenswert – die Spieler durchspielen damit quasi zwei Spielabschnitte mit unterschiedlichen Themen; Eingewöhnung und Endspiel. Ich habe seit Fallout 4 da schon so ein paar Ideen für meine Spielrunden…

Freiheit, Reaktion und Nichtreaktion

Eine Sache hat mich bei meinem Durchlauf von Fallout 4 dann doch gestört: die Reaktion von Nichtspielercharakteren auf ihre Umwelt. Da bringe ich den Supermutanten Strong als Begleiter mit in die Zentrale der Brotherhood of Steel und außer einem „Ich hätte nie gedacht, dass er sich mit so einem abgibt“ reagiert niemand darauf. Dabei befindet sich die Bruderschaft im Krieg mit den Mutanten und will als Fanatiker ihre Spezies auslöschen. Auch das könnte man als erzählerische Inkonsequenz verbuchen (siehe Abschnitt „kultig statt konsequent“). Doch gerade Tischrollenspiel hätte hier unzählige Möglichkeiten mehr: Ich könnte etwa versuchen, die Bruderschaft anhand eines Beispiels davon zu überzeugen, dass nicht alle Supermutanten böse sind und sie in einer flammenden Rede dazu bringen, ihre Ideologie zu hinterfragen. Das wiederum könnte zu einer Spaltung der Bruderschaft, der Inhaftierung des Begleiters samt anschließender Rettung oder sogar meinem Rauswurf aus der Fraktion führen. Als Anführer der Minutemen wäre sogar ein Krieg mit der Bruderschaft möglich, der mich dazu zwingt, beim Institut und Diamond City um Hilfe zu bitten. Vielleicht organisiert Strong Supermutanten-Unterstützung für den Sturmangriff auf das Luftschiff, bei dem dann… an dieser Stelle bremse ich mal meine Fantasie.

An diesem Beispiel erkennt man deutlich den enormen Vorteil von Tischrollenspiel: die Freiheit eines dynamischen Handlungsverlaufs. Ein Pen’n’Paper-Spieler hat eben mehr als die Optionen, die der Plot vorgibt, nämlich alle Möglichkeiten, die er sich aus der Kombination von Charakter und Situation vorstellen kann. Damit das aber funktioniert und die Stärke von Rollenspiel ganz zum Tragen kommt, muss die Handlung frei am Spieltisch verhandelt werden. Das sture Herunterspielen von Abenteuern ist dabei eher hinderlich. Beim Vorbereiten als Spielleiter heißt das für mich auch, dass es nach einer fester geführten Einführungsphase den Moment „ab hier kann alles passieren“ gibt, bei dem höchstens Anhaltspunkte und Ideen für den dynamischen Plot noch aufgeschrieben werden – das Degenesis-Abenteuer In Thy Blood hat es zuletzt vorgemacht. Abenteuerbände die bis zum Schluss feste Schienen haben, verschenken mir zu viel Potential. Da kann ich auch gleich zum Gamepad greifen.

Der Wanderer in blauem Vault-Anzug und sein Hund sind mittlerweile Ikonen der Videospiele – mangelndem Realismus zum Trotz.
Der Wanderer in blauem Vault-Anzug und sein Hund sind mittlerweile Ikonen der Videospiele – mangelndem Realismus zum Trotz.

 

Wahlheimat: Ödland

Ich könnte sicher noch mehr über Fallout 4 erzählen, etwa meine Begeisterung für Siedlungsbau und das sorgsame Pflegen aller Minutemen-Örtchen, samt persönlich benannter und bewaffneter Bewohner. Warum so etwas nicht einmal in einem Aufbau-Plot am Spieltisch verwenden? Mutant Year: Zero zeigt Regeln dazu und wie so etwas als Kampagne geht. Auch gäbe es etwas über das Sammeln und Verkaufen von Schrott schreiben, was mir so viel Spaß macht, dass ich meine Ablehnung von Ausrüstungs- und Preislisten in Frage stelle. Natürlich könnte ich auch über mangelnde Tiefe der Begleiter meckern oder über sich wiederholende 08/15 Quests… Fallout ist eben kein Tischrollenspiel und auch nicht das Spiel des Jahres. Das muss es aber auch gar nicht, um Spaß zu machen.

Doch nun, zum Schluss, komme ich zu einem Geständnis: Anders als Witcher 3 habe ich Fallout 4 bisher nicht zu Ende gespielt. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, mich endgültig für eine Fraktion zu entscheiden und mich aus der Spielwelt zu verabschieden (selbst wenn das Spiel nach der Endsequenz weiterläuft). Stattdessen parke ich meinen Helden in meiner selbstgebauten Festung und ziehe in Mittagspausen in einer meiner Power-Rüstungen los auf die Suche nach Kronkorken und natürlich Klebeband. Offenbar reizt mich die Geschichte des Vault-Dwellers und ihr würdiger Abschluss weit weniger, als die Szenerie und endlose Sandbox des Ödlandes – ein Effekt den Bethesda sicher so beabsichtigt hat. Rollenspielrunden, die auch nach 20 Jahren trotz Plot-Flaute ihre Kampagne nicht beenden können – ich kann sie langsam verstehen.

Habt ihr Fallout 4 gespielt? Was habt ihr aus dem Spiel für eure Tischrollenspielrunde mitgenommen? Schreibt es in die Kommentare!

Artikelbilder: Bethesda Game Studios

 

5 Kommentare

  1. zur wahren Herkunft des Institutsleiters gibt es ein paar andere (logischere) Theorien, die das auch ausschließen.
    Ob er der wirkliche Shawn ist, wagt man durch Logik auch stark zu bezweifeln, denk nur an die Sache mit dem Entführer, dessen Story ja ganz anders klingt, und logischer ist (oder glaubst Du im Ernst, dass in Diamond City eine Wohnung 60 Jahre leer steht?

    • Zu der vermeintlich 60 Jahre leerstehenden Wohnung in Diamond City: Es kann sehr einfach so sein, dass der Entführers einfach nur den Prototypen von [SPOILER] „getestet“ hat (bzw. dieser Prototyp ihm überlassen wurde damit der Spieler auf den Entführer aufmerksam wurde). Dann kann die Wohnung auch nur 7 Tage leer gestanden haben (Der Alte hatte ja scheinbar schon so etwas wie einen Plan).

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