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Wer den folgenden Film und Serie nicht kennt, wird Informationen zu den Inhalten bekommen. Spoiler-Warnung!

Outlander und Rob Roy sind zwei Highland-Sagas und zwei unterschiedliche Ansätze, Charaktere zu erschaffen. Damit sind sie hervorragend geeignet, um als Beispiel für die Erschaffung spannender Charaktere fürs Sandbox-LARP zu dienen. Vier Charaktere, die hier als Beispiel dienen sollen:

  • Rob Roy: Robert Roy McGregor
  • Rob Roy: Mary McGregor
  • Outlander: Claire Randall/Beauchamp/Fraser
  • Outlander: Jamie Fraser

 

Hinweis: Der folgende Text bezieht sich ausnahmslos auf die Verfilmungen, nicht auf die Bücher! Zum besseren Verständnis für diejenigen, die die Filme nicht kennen, eine kurze Inhaltsangabe:

Rob Roy

Rob Roy ist der Anführer eines schottischen Clans. Seine Leute leiden Hunger. Er möchte dies ändern und leiht sich vom Marquis gegen Zinsen 1000 £, um mit Rindern zu handeln. Das Geld wird gestohlen. Der Marquis bietet ihm an, die Schulden durch eine Falschaussage in seinem Sinne zu begleichen, aber Rob lehnt ab. Der Marquis ist gekränkt und Rob schuldet ihm immer noch Geld. Er lässt Robs Farm überfallen, auf der sich zu der Zeit nur seine Frau aufhält. Seine Frau wird von Archibald Cunningham vergewaltigt, in der Hoffnung, dass Robs Ehre damit so verletzt ist, dass er sich stellt. Mary jedoch verschweigt die Vergewaltigung zunächst und zwingt auch einen Mitwisser dazu zu schweigen. Dieser bricht jedoch sein Schweigen und Rob fordert Archibald auf ein Duell auf Leben und Tod. Für den Fall, dass Rob als Sieger aus dem Duell hervorgeht, sichert ihm derjenige, gegen den Rob die Falschaussage hätte treffen sollen, die Tilgung seiner Schuld zu.

Outlander

Kurz nach dem zweiten Weltkrieg: Claire und ihr Mann Frank machen eine Reise in die  schottischen Highlands. Claire besucht allein einen alten Steinkreis und fällt dort durch ein „Zeitloch“ in die Vergangenheit. Sie möchte wieder zurück, wird aber durch diverse Verwicklungen davon abgehalten, wieder zum Steinkreis zurückkehren zu können. Sie beginnt sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen. Als einer der Vorfahren ihres Mannes Frank sie in Schwierigkeiten bringt, ist der einzige Ausweg eine Hochzeit mit einem Highlander. Sie heiratet James Fraser. Claire versucht eigentlich immer noch zum Steinkreis zu kommen, aber es kommt immer wieder etwas dazwischen und sie beginnt, sich an die Menschen um sie herum zu binden.

Sandbox-LARP – Was ist das?

Sandbox beschreibt im LARP die Abwesenheit eines Plots, der zu einem bestimmten Ziel gebracht werden soll. Es geht weniger um die große gemeinsame Quest, sondern mehr um die Darstellung von Charakteren und deren Motivation, was natürlich auch zu großen Veränderungen der Welt führen kann und soll. Die Welt sollte möglichst in sich geschlossen sein und wenig „Störfaktoren“ haben. Störfaktoren im Sinne eines Sandbox-LARP sind Dinge, welche die Konsistenz und Glaubwürdigkeit der Welt mindern, unter anderem auch motivationslose, austauschbare Charaktere, die selbst keine persönlichen Ziele oder glaubwürdigen Motive haben. Der Vorteil dieses Settings ist, dass man nichts Falsches tun kann. Keine Aktion wird wieder rückgängig gemacht, weil sie das Fortschreiten des Plots verhindert und keine Aktion muss erst von SLs abgesegnet werden. Der Nachteil: Der Spielansatz erfordert ein hohes Maß an Abstraktion von eigener OT-Motivation und der Motivation des Charakters. Und man braucht viel Vertrauen in – eventuell unbekannte – Mitspieler. Im Idealfall braucht ein Sandbox-LARP in einer in sich geschlossenen Welt mit starken Charakteren und umsichtigen Spielern keinerlei Konfliktregulation.

Charakterdefinition – Der erste Zugang zu meiner Figur

Wähle drei Worte, die deinen Charakter beschreiben

Rob ist ehrenhaft, stolz, aufrecht

Mary ist tough, liebend, durchsetzungsfähig

Jamie ist … mh …gute Frage …

Claire ist …     öh … vielleicht … eigensinnig?

Wo liegt das Problem?

Ich glaube, die letzteren Beiden sollten genauso charakterisiert sein wie die ersten. Aber bei ihnen hat es nicht funktioniert. Warum? Jamie und Claire verhalten sich ein bisschen wie Politiker. Anstatt zu handeln, erklären sie sich dauernd. Mary und Rob erklären gar nichts. Sie handeln entsprechend ihrer Charaktere.

Vorschlag für das Sandbox-Spiel

Erklärt euren Charakter nicht. Das ist nicht nötig, damit andere ihn verstehen. Handelt nach den Maximen eures Charakters. Das kann im Spiel mitunter nicht ganz einfach sein, weil es bedeutet, gegen die eigenen Maximen zu handeln. Trennt eure eigenen Moralvorstellungen von eurem Charakter und seinen Eigenschaften.

Das Ziel des Charakters

Rob Roy möchte als Clanführer seine Leute vor Hunger und Armut bewahren.

Mary möchte ihre Familie zusammenhalten und schützen.

Jamie möchte bis zum Gathering unentdeckt bleiben. Danach ist sein Ziel im Grunde genommen unklar.

Claire möchte in ihre eigene Zeit (Zukunft) zu ihrem Ehemann zurückreisen.

Wo liegt das Problem?

Robs Motivation ist großartig. Um seine Leute zu retten, braucht er Geld, Essen, Kleidung und er kann losziehen und sich entsprechend bemühen mit anderen zu verhandeln.

Marys Motivation produziert nur dann Spiel, wenn sie einen Mann wie Rob hat, der ihr das Ziel unmöglich macht. Hierfür braucht es ein gut eingespieltes Team.

Jamies Motivation sich zu verstecken braucht im LARP ein hohes Maß an charakterzerstörendem OT-Handeln. Entweder ist man darauf angewiesen, dass man entdeckt wird und dann auch noch gezwungen wird, das zu tun, was man nicht möchte – was erfahrungsgemäß nicht einfach so passiert. Oder aber, der Charakter muss sich so verhalten, dass er entdeckt wird. Das heißt, der Spieler muss mit seiner OT-Motivation gegen die Motivation des eigenen Charakters handeln. Aus meiner Sicht ist das nur für sehr erfahrene LARPer ein brauchbares Konzept.

Claires Motivation ist zwar eine starke Motivation, aber sie liegt außerhalb des Spieles. Ihr Ziel ist es, das Spiel komplett zu verlassen. Andere Spieler sind nicht mehr Mitspieler, die man hassen und lieben kann, sondern Störfaktoren. Die Mitspieler werden wie Statisten behandelt.

Vorschlag für das Sandbox-Spiel

Das Ziel eures Charakters sollte innerhalb des Spieles liegen und eines sein, das man mit Hilfe anderer Spieler erreichen kann. Das Ziel sollte möglichst aktiv und nicht passiv sein. Verstecken bedeutet Passivität.

Welche Probleme bestehen für das Ziel?

Rob scheitert an der Habgier der anderen und an seinem eigenen Stolz.

Mary scheitert an ihrem Mann und räumt hinter ihm auf.

Jamie wird gefunden und zur Handlung gezwungen. Ansonsten ist er aufgrund eines fehlenden eigenen Zieles auf Aktionen von außerhalb angewiesen.

Claire scheitert an den anderen, die sie – warum auch immer – daran hindern, zu dem Zeitloch zurückzukommen.

Wo liegt das Problem?

Wieder ist Rob ein gelungenes Beispiel. Für einen spannenden Verlauf ist er nicht ausschließlich auf Aktionen von anderen angewiesen. Er forciert den Konflikt, indem er sich gegen Sicherheit und für seine Ehre entscheidet. Die Entscheidung ist nicht klug und nicht weise, aber charakterkonsequent. Man hört in solchen Situationen immer wieder den Hinweis „Aber mein Charakter ist so aufrecht und ehrenhaft, er musste einfach umsichtig handeln und den Konflikt verhindern.“ Rob zeigt uns, dass man aufrecht und ehrenhaft sein und gerade deshalb einen riesigen Konflikt beschwören kann.

Mary braucht einen Schubs und dann wird sie sehr aktiv, wenn es darum geht ihren Mann zu schützen. Sei es durch Verschweigen eines Geheimnisses oder dem Hilfesuchen bei einem der Adeligen.

Jamie würde sich auf jeder Sandbox-Con zu Tode langweilen, weil niemand da ist, der ihn bewundert, obwohl er nichts tut.

Claire würde auf einem LARP binnen Kurzem wieder in ihrer eigenen Welt sein, weil man sich an ihr nicht reibt und sie deshalb freundlich zu ihrem Zeitloch geleitet werden würde.

Vorschlag für das Sandbox-Spiel

Jedes Ziel braucht ein Hindernis. Sonst hat man es in kurzer Zeit erreicht und schläft dann die restliche Zeit, weil nichts mehr passiert; es sei denn, man setzt sich ein neues Ziel. Das Beste ist, sich schon im Vorfeld Gedanken darüber zu machen, woran der Charakter scheitern könnte. Tatsächlich gibt es an dieser Stelle aber wenig, was man für seinen eigenen Charakter tun kann. Dafür aber umso mehr für die anderen Charaktere. Werde zum Problem. Werde zum Gegenspieler. Stelle dich deinen Mitspielern in den Weg und spiele Ping-Pong mit der Macht über die Situation mit ihnen. Und ganz wichtig: Charakterkonsequentes Spiel bedeutet auch und gerade für einen ehrenhaften und aufrechten Charakter nicht immer die weiseste Entscheidung zu fällen, die zu den wenigsten Problemen führt. Auch wenn das aus unserer heutigen Sicht natürlich als die einzige Möglichkeit erscheint. Ist es aber nicht. Tue etwas Dummes und trage die Konsequenzen.

Dunkles Geheimnis

Nicht jeder Charakter braucht unbedingt ein dunkles Geheimnis. Aber es macht das eigene Spiel spannender, wenn man eines hat.

Rob verbirgt kein Geheimnis.

Mary wird vergewaltigt (über das Story-Element lässt sich natürlich streiten) und verschweigt es ihrem Mann, um ihn zu schützen. Sie zwingt einen Mitwisser dazu, ebenfalls zu schweigen. Dieser gerät daraufhin in so starke Loyalitätskonflikte, dass er am Ende eine Dummheit begeht, daran stirbt und kurz vorher sein Schweigen bricht. Hurra! Marys Geheimnis produziert eine komplett eigene Charaktergeschichte bei jemand anderem.

Auf Jamie ist ein Kopfgeld ausgesetzt, empörend und ungerechterweise natürlich.

Claire ist aus einer anderen Zeit in die Highlands gestolpert und möchte zurück. Sie gehört eigentlich nicht dorthin. In einer Szene stellt sie sich vor, wie es wäre, ihr Geheimnis zu verraten. Abgeschreckt vom Ergebnis ihrer Imagination tut sie … nichts.

Vorschlag für das Sandbox-Spiel

Ein dunkles Geheimnis muss nicht immer übertrieben grausam sein. Es muss zwei Dinge haben: Eine Konsequenz, wenn es herauskommt und mindestens einen Mitwisser. Wenige werden sich im LARP denken: Oh, diese Person da drüben tut aber geheimnisvoll, die hat sicherlich was zu verbergen, ich kümmere mich mal darum. Wer ein Geheimnis hat, sollte selbst irgendwie dafür sorgen, dass es entdeckt wird. Wer ein Mitwisser ist, sollte das Geheimnis an einer passenden Stelle ausplaudern.

Hintergrund

Der eine kann nur mit einem ausführlich formulierten Hintergrund spielen, ein anderer braucht nur Stichpunkte und wieder andere brauchen es vielleicht gar nicht, sondern denken sich im Spiel etwas aus. Wie man es braucht, sei jedem selbst überlassen. Wie man seinen Hintergrund im Spiel handhabt, kann aber für die Spannung sehr hilfreich sein.

Über Robs und Marys Vergangenheit erfahren wir nur sehr wenig. Wir sehen den Ist-Zustand. Die beiden sind offensichtlich verheiratet, haben zwei Kinder. Was wir sehen, ist, dass er als Anführer eines schottischen Clans akzeptiert wird und wir wissen, dass er sich verantwortlich fühlt. Wir erfahren, dass er viel Land besitzt und dass sein Vater im Gefängnis war. Über Marys Vergangenheit erfahren wir nichts. Die wenigen Informationen, die im Laufe des Filmes gegeben werden, kommen in kurzen prägnanten Sätzen genau in dem Moment, in dem die Information für das Verständnis der Szene wichtig ist.

Über Jamie und Claire erfahren wir in endlos langen Erzählungen und Rückblenden, wie sehr die beiden armen, aber so guten und aufrechten Charaktere in der Vergangenheit gelitten haben und wie schwer sie es hatten. Und wir langweilen uns dabei zu Tode

Vorschlag für das Sandbox-Spiel

Langweilt eure Mitspieler nicht motivationslos mit endlos langen Storys über eure ruhmreiche oder von Entbehrungen gezeichnete Vergangenheit. Erzählt kurze, prägnante Geschichten, die zur Szene passen. Oder Geschichten, die von euren Schwächen erzählen. Auch die können sehr bewegend sein, das macht wesentlich mehr Stimmung. Wichtig ist oft nicht der Hintergrund eurer Charaktere selbst, wichtig ist die Handlungskonsequenz, die sich daraus ergibt. Rob weigert sich, ins Gefängnis zu gehen wie sein Vater, der jahrelang dort – aus seiner Sicht ungerechtfertigt – eingesperrt war.

Anderes Beispiel: Einer Frau, die in ihrer Vergangenheit erlebt hat, wie jemand in eine Mauer eingemauert wird, sieht man diese Vergangenheit nicht an. Sucht sie aber panisch jeden Raum nach Unebenheiten in der Wand ab, kann das zu einer spannenden Szene kommen, wenn jemand es bemerkt und sie daraufhin genau diese Geschichte erzählt. Deshalb: Spickt euren Hintergrund mit Geschichten, die Handlungen hervorrufen. Geschichten, die euren Charakter vielleicht merkwürdig machen oder in ihm bestimmte Ängste oder Zwänge ausgelöst haben.

Der Charakter im Spiel

So, nun wird es interessant. Wir haben unseren Charakter. Wir haben ihn toll aufgebaut und glauben ihn zu kennen. Und dann gehen wir ins Spiel. Und stellen fest, dass alles nicht so läuft, wie wir uns das vorgestellt haben. Das ist sicherlich jedem von uns schon passiert. Woran könnte es liegen? Das kann daran liegen, dass schon der Charakter nicht sandboxtauglich konzipiert ist. Es kann aber auch schlicht daran liegen, dass man im Spiel nicht die richtigen Entscheidungen trifft. Auf Konflikt zuzuspielen ist schwerer als gedacht. Schließlich wurden wir unser Leben lang dazu erzogen, Konflikte zu vermeiden und, wenn sie auftauchen, möglichst schnell zu lösen.

Problemlösung und Entscheidungen

Hier kommen wir wieder zu unseren vier Hauptcharakteren, die verschiedene Probleme zu lösen haben.

Claire möchte gerne fliehen, um in ihre Zeit zurückzukommen. Ansonsten ist sie sehr passiv, außer dass sie ein sehr ausgeprägtes Helfersyndrom hat und praktischerweise Ärztin ist. Deswegen wollen die Clanjungs sie gar nicht mehr weglassen. Claire plant die Flucht, zieht los und stolpert – zufällig – über Jamie, der ihr erst sagt, sie solle nicht fliehen und ihr dann doch helfen möchte. Natürlich werden sie aufgehalten und Claire fügt sich wieder in ihr Schicksal und versucht mit Nettigkeit zum Ziel zu kommen, was nicht funktioniert und sie in der passiven Rolle lässt. Gähn.

Jamie versteckt sich vor dem Gathering, weil es folgendes Problem gibt: Schwört er Treue, wird er zum Erben und der zurzeit amtierende Erbe wird ihn bis zum Tod verfolgen. Leistet er keinen Schwur, wird er getötet, weil er seine Pflicht verletzt. Hurra! Denke ich. Was für eine großartige Entscheidung. Welchen Feind wird er wählen? Wen wird er für den Rest des Filmes bekämpfen müssen? Wie wird er aus der Halle entkommen? Hat er vielleicht mit Hilfe von Freunden schon vorgesorgt? Nein. Jamie tut etwas ganz Anderes. Weder schwört er, noch entzieht er sich seiner Pflicht. Er redet sich ganz einfach geschickt heraus. Sein potenzieller Gegenspieler strahlt und nimmt ihn in den Arm. Die Sandbox-LARPerin in mir möchte aufspringen und sich die Haare raufen, während die beiden Dramapotenziale sich Hand in Hand aus meinem Blickfeld entfernen und dabei freundlich winken.

Bevor ich vollends verzweifle, wende ich mich lieber den anderen beiden zu.

Mary stürzt zunächst den Mitwisser ihrer Vergewaltigung in einen tiefen Loyalitätskonflikt zwischen ihr und ihrem Mann. Später konfrontiert ein Gefangener ihres Mannes sie mit der Tatsache ihrer Schwangerschaft und der ungewissen Vaterschaft. In einer emotionalen Reaktion rammt sie ihm ihren Dolch in den Hals, ohne ihn zu töten, was wiederum ihrem Mitwisser Gelegenheit gibt mit der Situation zu spielen. Sie verschlimmert den Konflikt, in dem sie sich alle befinden, mit einer emotionalen, charakterbasierten Aktion. Hurra! Ich bin begeistert.

Rob hat Schulden beim Marquis. Er könnte diese Schulden mithilfe einer Falschaussage begleichen, weigert sich aber aufgrund seines tief empfundenen Ehrgefühls. Er trifft keine weise, keine kluge Entscheidung. Er entscheidet sich gegen ein sicheres Leben, in gewisser Weise entscheidet er sich sogar gegen seine Familie, für seine Ehre. Ich schaue befriedigt zu, wie sich das Dramapotenzial zu voller Größe entfaltet und in dem Satz des Marquis endet: „You have slept your last peaceful night McGregor. You and yours.“ Ich bin erleichtert. Geht doch.

Wo liegt das Problem?

Claire und Jamie verhalten sich vernünftig und fortschrittlich. Sie gehen den für sie sichersten Weg und lassen Vernunft über Emotion und Charaktereigenschaft stehen. Mary dagegen handelt mit einer Mischung aus Emotionaliät und Vernunft. Rob tut dasselbe. Bei beiden Charakteren steht nicht die Vernunft im Vordergrund, sondern die Prinzipien der Charaktere und ihre Verletzungen, Wünsche und Hoffnungen.

Vorschlag für das Sandbox-Spiel

Wir leben in einer Gesellschaft, die uns von klein auf lehrt Konflikte möglichst zu lösen und vernünftig zu sein und unsere Emotionen zu hinterfragen. Geht als Spieler ruhig mit Vernunft und Umsicht an die Situation heran. Fragt euch: Womit erzeuge ich jetzt den meisten Konflikt, das meiste Spiel? Gönnt eurem Charakter, dies nicht zu tun. Er darf unvernünftig handeln. Er darf und soll emotional handeln, genauso, wie ihr ihn konzipiert habt. Lasst eure OT-Persönlichkeit nicht für ihn denken.

Aktionen starten

Ein Problem des Sandbox-LARP ist, dass viele Spieler es gewohnt sind, dass eine Aktion oder eine Queste von der Orga initiiert wird. Im Sandbox-LARP passiert das so nicht und das größte Risiko, das man mit einem solchen Konzept eingeht, ist, dass einfach nichts passiert. Alles was man als Orga tun kann, ist, möglichst viel Dramapotenzial ins Spiel zu werfen. Ob es sich entfaltet oder nicht, darauf haben dann nur noch die Spieler Einfluss. Das hat einen großen Nachteil: Man braucht als Spieler eigene, durchführbare Ideen und man muss sich trauen, diese auch durchzuziehen. Es hat aber einen noch größeren Vorteil. Man darf alles machen, solange es der Welt und glaubwürdigen Charaktermotivationen entspricht. Man sprengt keinen Plot, wird nicht zurückgepfiffen und muss nicht warten, ob die SL irgendeine Aktion absegnet. Man darf und soll selber Aktionen starten.

Reagieren

Mindestens genauso wichtig und ein bisschen einfacher ist es zu reagieren. Schauen wir noch einmal zu Claire und Jamie. Auf ihrer Flucht wird Claire von Jamies Bruder Dougal in einem dunklen Gang belästigt. Sie schlägt ihn mit einem Stuhl nieder, kommt zum Stall, wo sie über Jamie stolpert, der ihr mitteilt, dass der Wald um die Burg voller Wachen ist. Sie ist verzweifelt. Sie kommt nicht raus, aber sie kann wegen Dougal auch nicht zurück. Welches Übel wird sie wählen? Was macht Jamie? Er erklärt ihr jovial, dass sein Bruder eh betrunken war und sich mit Sicherheit morgen nicht mehr erinnern kann. Er selbst scheint keinerlei Ambitionen zu haben, den Bruder zur Rede zu stellen. Tatsächlich hat die ganze Aktion keinerlei Konsequenz. Siehe da, so einfach lassen sich Probleme lösen. Ich schüttele resigniert den Kopf und wende mich Rob zu. Seine Frau wurde vergewaltigt. Was tut er? Er fordert den Vergewaltiger auf ein Duell auf Leben und Tod. (Übrigens meiner Meinung nach der beste und realistischste Schwertkampf, den ich in einem Film bisher gesehen habe.)

Vorschlag für das Sandbox-Spiel

Lasst die Aktionen von anderen nicht im Nichts verpuffen, reagiert entsprechend. Steigert euch langsam. Es muss nicht gleich ein Duell auf Leben und Tod sein.

Mord und Totschlag

Mord bleibt Mord und Totschlag bleibt Totschlag. In der heutigen Welt, wie damals, haben 99 Prozent der Menschen ein Problem damit. Es muss schon relativ viel passieren, bevor ein Charakter einen anderen tötet. Ein begangener Mord hat Konsequenzen. Seelische, psychische und bestenfalls reagieren auch die anderen Spieler darauf. Auf unserem letzten Con hatten wir zwei Charaktere, die einen anderen getötet haben. Kurz darauf haben sie sich selbst gerichtet, weil sie das Gastrecht gebrochen haben. Das war schade um die Charaktere, aber absolut konsequent – obwohl auch eine folgende Gerichtsverhandlung natürlich sehr schön gewesen wäre und sehr viel Spiel gebracht hätte.

Ich meine damit nicht, dass ihr niemanden töten sollt. Ich sage nur, verabschiedet euch von eurem OT-Impuls der sofortigen Selbstjustiz und geht nicht leichtfertig mit einer so belastenden Handlung um. Und wenn ihr einen Charakter tötet, lasst es Konsequenzen haben. Wenn schon die anderen nicht reagieren, indem sie den Charakter vor Gericht stellen oder ähnliches, lasst es für die Seele und die Handlungen eures Charakters Konsequenzen haben.

Gehen wir noch einmal zu Mary. Rob flüchtet in die Berge, sie bleibt zu Hause. Rob ist der Überzeugung, dass der Marquis ihn suchen und Mary nichts tun wird. Weit gefehlt. Archibald trifft mit einer ganzen Armee ein. Sie brennen ihr Haus nieder, die besagte Vergewaltigung findet statt, um Rob zu beleidigen, nicht des Sex wegen. Als sie aber nicht aus dem Haus kommt, will einer der Angreifer hineingehen, um sie zu retten. „Shagging ist one thing. Burning is another.“ Er fürchtet die Konsequenzen, wenn sie sterben sollte.

Fazit

Robs Charakter funktioniert wunderbar. Da wäre nichts dran auszusetzen. Marys Charakter funktioniert mit ein oder zwei guten und vertrauten Mitspielern. Beide Charaktere sind der Beweis dafür, dass auch „gute“ Charaktere konfliktfördernde Entscheidungen treffen können und nicht immer umsichtig handeln müssen.

Jamies Charakter würde ich im LARP aus dem Weg gehen. Ein Möchtegernheld, der mir ausschweifend seine Lebensgeschichte erzählt, Entscheidungen trifft, die eines Politkers würdig sind und der nie einen Fehler macht? Verschone mich!

Würde ich Claire auf einem LARP begegnen, wäre das einer der Charaktere, bei denen ich hinterher sagen würde: „Die? Ach richtig, die war ja auch da. Was hat die eigentlich die ganze Zeit gemacht?“

Das Problem an Jamies und Claires Charakter ist, dass sie neuzeitlich denken und handeln. Sie sind angepasst, flexibel, leidensfähig und haben keinerlei Ecken und Kanten. Sie passen nicht zu dem Leben, in dem sie sich angeblich bewegen. Die Konzepte dieser beiden Charaktere basieren darauf, dass die eine Hälfte der anderen ungerechtfertigtes Leid antut, und die andere Hälfte sie für ihre Andersartigkeit und ihren Mut bewundert. Die anderen sind in diesem Fall eigentlich nur Statisten. Im LARP gibt es aber keine Statisten. Jeder ist sein eigener Charakter.

Das Schöne an Rob und Mary ist, dass sie emotional und charakterbasiert funktionieren und sich innerhalb ihrer Gesellschaft bewegen. Sie sind nicht anders, sie wollen nicht bewundert werden, sie versuchen bestmöglichst ihr Leben zu leben. Sie interagieren mit den anderen und jeder einzelne der anderen funktioniert genauso als Charakter wie sie. Das Konzept dieser beiden Charaktere ist sandboxtauglich.

Artikelbild: United Artists (Rob Roy), Starz  (Outlander)

Über die Autorin

Jorina HavetJorina Havet studiert Rechtswissenschaften und ist mit Armin Saß die Orga der Game of Thrones-Conreihe Tales from the north. Sie organisiert seit drei Jahren LARP-Veranstaltungen und hat ihren Schwerpunkt auf die Erschaffung  in sich geschlossener und stimmiger Charaktere gelegt, die keine Helden sind, sondern ihre Fehler und Schwächen haben.

 

 

 

 

2 Kommentare

  1. Hallo, danke für diese interessante Betrachtung.
    Grunsätzlich stimme ich dem zu. Allerdings kommen in einem echten Sandbox Larp, in dem die Motivationen der Charaktere sich durchaus durch Situationen verändern können, noch ganz andere Mechanismen hinzu.
    Wir machen seit 5 Jahren Sandbox Larp und ich möchte dazu anmerken, das die „Startaufstellung“ der Charaktere zwar ein entscheidenter Punkt ist, aber nicht zwingend. Die echte und ehrliche Reaktion auf Handlungen führt zu ganz neuen Handlungsmotivationen. Charktere die als harmlose ganz unspektakuläre Diener starteten sind plötzlich mitten im Geschehen:
    Wichtiger als jegliche Voraufstellung ist IMO dabei das die Spieler bereit sind mti gesundem Menchenverstand zu handeln und die SItuation in der sich der Charakter befindet adaptieren können für ihre Reaktionen. Das heißt auch, wie Du sagst, heutiges Denken ,welches sich ja zu 90% an der tatsächlichen eigenen Lebensituation orientiert, hinter sich zu lassen.
    Um nun weiter gehende Gedanken aus zu tauschen, müsste man aber erst einmal definieren was die jeweilige Orga unter Sandbox Larp versteht
    Dennoch finde ich die Aufstellung im Grundsatz sehr gelungen und durchaus gültig für jegliches Charakterkonzept.
    Auch im Standart Larp. Danke dafür!

  2. (Vorneweg ich bin (bis jetzt) noch nicht auf Sandbox-Larps unterwegs.)
    Ich glaube, was hier beschrieben wird, ist u.a. das „play to loose“-Prinzip, dass man z.B. im Nordic Larp viel präsenter findet. Also bei einer tödlichen Beleidigung halt nicht das Gespräch suchen, sondern im Einklang mit dem Charakter ein Duell fordern. Selbst wenn man ein lausiger Schwertkämpfer ist. Wenn dein Charakter so stolz ist, dann muss er evtl. halt dran glauben.

    Ich versuche das auch immer wieder zu spielen, aber ich stoße dabei oft auf ein großes Problem: Ich mag meinen Charakter! Ich will ihn nicht in einer Aktion verheizen, wenn ich doch auch geduldig weiterspielen kann, in der Hoffnung später in eine bessere Position zu kommen.
    Da muss der Schalter im Kopf wirklich Klick machen, aber das ist zumindest für mich, momentan noch sehr, sehr schwer.

    Außerdem stellt sich für mich auch immer die Frage: Eskalieren ja, aber wie weit?
    Wenn ich als heißblütiger Ritter auf eine Beleidigung des Königs gleich mit einem Mordanschlag auf selbiges gekröntes Haupt reagiere, zerstört das u.U. mehr Spiel als es erzeugt. Gerade, wenn mein Charakter wider Erwarten auch noch Erfolg hat.

    Zusammengefasst: Sandboxspiel oder auch Play to loose ist ziemlich kompliziert. Im Nordic Larp gibt es vor einem Con deshalb extra noch einmal Workshops, um diese Spielweise allen auseinanderzusetzen und zu erklären. Ein Ansatz, der glaube ich den meisten Cons gut tün würde.

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