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Dies ist der dritte und damit vorerst abschließende Teil zur Serie um psychische Erkrankungen im Rollenspiel. Nachdem ich mich im vorangegangenen Teil II mit dem Umgang mit psychisch erkrankten Spielern in der Rollenspielgruppe befasste, werde ich hier persönliche Einblicke aus der Sicht eines betroffenen Spielers liefern: Mir selbst.

Am Spieltisch mit Depressionen und generalisierter Angststörung

Wie ist das denn nun so am Spieltisch mit psychischen Erkrankungen? Womit hadert man dort so? Wie in der Einleitung schon erwähnt, kann man das nicht wirklich verallgemeinernd beantworten. Es kommt nicht nur auf die Erkrankung an, sondern auch auf die Person die sie betrifft. Die allgemeinen Krankheitsbilder gleichen sich in vielen Punkten, so findet man viele Parallelen zu anderen Erkrankten, wenn man sich mit ihnen in Gruppensitzungen einfindet. Man hört Dinge, die so bekannt klingen als würde man sich selbst sprechen hören. Dennoch ist gerade der Umgang mit den Symptomen einer Erkrankung immer ein anderer.

Und wie war das nun? Schwierig und zermürbend war das. Einer diesen schlauen Bildersprüche aus dem Internet sagt zu dieser Krankheitskombination:
„Angst ist, sich zu sehr um alles zu sorgen. Depression ist, sich um nichts mehr wirklich zu kümmern. Beides zu haben ist genauso wie die Hölle.“
Das ist etwas melodramatisch, trifft es vom Gefühl während der Erkrankung jedoch sehr gut.

Rollenspiel sollte wenig mit Leistungsdenken zu tun haben. Am Spieltisch spielt man einen Charakter aus. Dabei möchte man Spaß. Leistungsansprüche, Kontrolle, die Sorge um unbekannte Faktoren, das alles gehört eigentlich nicht an den Rollenspieltisch sondern, wenn überhaupt, in die Arbeitswelt.

Für mich persönlich verwischten hier die Grenzen. Sie waren nicht mehr existent. Rollenspiel war kein Freizeitvergnügen mehr, es wurde zur Arbeit. Die Sorgen, die mich quälten, begannen bereits bei der allgemeinen Terminplanung. Wird das zeitlich alles passen? Werde ich pünktlich da sein? Wie ist das mit dem Essen während der Runde? Habe ich da genug oder zu viel? Reichen meine Getränke oder sollte ich lieber eine Flasche Wasser mehr mitnehmen? Wann werden wir aufhören und komme ich noch rechtzeitig nach Hause um genügend zu schlafen? Ist mir der Rollenspieltermin am Wochenende nach einer anstrengenden Arbeitswoche überhaupt recht?

Das „Grübelkarussell“ drehte sich und der Ansager fragte, wie auf einer Kirmes mit lautem Echo untermalt, ob ich noch eine Runde mitfahren wolle. So wurde die Vorbereitung zur Rollenspielrunde, an der ich nur als Spieler teilnahm, bereits zu einem Stressfaktor, der Angst verursacht, da doch vermeintlich so viel zu bedenken sei. Und dabei war ich noch gar nicht bei der Kernfrage betreffend das Rollenspiel selbst angekommen: Werde ich „gut“ spielen? Werde ich den Ansprüchen an die Immersion gerecht? Werde ich die Mitspieler mit meinem Rollenspiel herunterziehen, da es zu „schlecht“ ist? Bin ich unkreativ, kann ich mich nicht in die Welt einfinden?

Der Leistungsanspruch wand sich einer Schlinge gleich um meinen Hals. Wie werde ich dem Leistungsanspruch gerecht? Ich glaubte, zunächst die vollständige Kontrolle über die Situation zu benötigen. Aber wie kontrolliert man Gesamtsituationen? Man bedenkt alle Eventualitäten und macht Pläne. Die Pläne umfassten alles, was hätte vermeintlich schief gehen können. Im Grunde genommen versuchte ich, über jeden Handlungsschritt ein Drehbuch für mich selbst zu schreiben. Dieses Drehbuch hatte dabei mehr Alternativpfade als die bespielte Geschichte selbst. Es begann bei meiner Vorbereitung, der Fahrt zur Rollenspielrunde, enthielt konkrete Gedanken zu der Art wie ich meinen Charakter ausspielen würde und endete erst am Morgen nach dem Termin. Dabei lag der Fokus der Überlegungen natürlich auf allem, was hätte schief gehen können. Vorsorge ist schließlich besser als Nachsorge und zeugt von Achtsamkeit.

Heute weiß ich, dass sie das nicht tut. Alle möglichen negativen Aspekte zu bedenken ist keine Vorsorge, es ist eine persönliche Fokussierung auf potentielle Katastrophen, die in vielen Fällen nicht einmal wirklich katastrophal sind. Zusätzlich hatte ich ohnehin die Verhältnismäßigkeit zwischen wirklichen Katastrophen und kleinen Unwägbarkeiten völlig verloren. Es gab nur noch katastrophale Missstände und Situationen, die sich ohnehin auf diverse Weise in eine Katastrophe würden wandeln können.

Zu diesen Voraussetzungen gestellte sich ein vollkommen übertriebener Leistungsanspruch der sagte, dass entweder alles absolut perfekt läuft oder absolut ungenügend endet. Zwischentöne existierten nicht. Damit hatte ich den Nährboden für gefühltes Versagen gelegt. Solche Ansprüche können nicht erfüllt werden. Es gab keine Rollenspielrunden, nach denen ich mein eigenes Rollenspiel als auch nur passabel beschrieben hätte. Es ging gefühlt immer mehr. Und wenn immer mehr ginge, so fragte eine Stimme warum das nicht abgerufen wurde, warum ich nicht wirklich „besser“ spielte. Konnte ich nicht? Wenn ich nicht konnte, dann war das alles ungenügend. Da war die Depression die klopfte und mich an meinen eigenen Leistungsansprüchen zerschellen ließ.

Natürlich sind das alles irrationale Gedankengänge. Aber sie waren da. Sie haben mich vor dem Spieltermin beschäftigt, als würde ich vor einem wichtigen Geschäftstermin stehen und sie waren nach dem Rollenspiel da, als hätte ich gerade das entscheidendste Bewerbungsgespräch meines Lebens hinter mich gebracht und würde nun überlegen, ob ich eingestellt werde. Noch stärker waren sie bei einem ganz anderen Aspekt des Rollenspiels da: beim Leiten selbst.

Spielleitung mit psychischen Erkrankungen

Beim Leiten einer Rollenspielrunde potenzierten sich alle Sorgen, alle Ängste und alles nachträgliche Bedauern über zu geringe Leistung, die ich als Spieler hatte um ein Vielfaches. Hier war es nicht nur ich, der meinen Ansprüchen an mein Charakterspiel genügen musste. Hier war ich der Spielleiter, der Immersion für eine ganze Gruppe von Spielern generieren und halten musste. Ich musste mir eine Geschichte überlegen, ihr Leben einhauchen und sie atmen lassen, damit meine Mitspieler Spaß an ihr hatten. Die Spieler wollten gefordert und gefördert werden, ich musste sie einbinden und fesseln.

Das alles bedurfte sorgfältiger Planung. Wann habe ich mit dieser Planung begonnen? Meistens frühestens einen Tag vor dem Spieltermin. Selbst wenn ich Wochen vorher zur Vorbereitung Zeit hatte, so erhob sich die nötige Vorbereitung wie ein Behemoth vor mir, wenn ich auch nur daran dachte. Das war zu viel. Da hatte ich keinen Kopf für. Da fielen mir allerhand Ausreden ein, mich nicht vorab mit der Vorbereitung auseinanderzusetzen, die alle eine Ursache hatten: Ich hatte schier Angst. Ich hatte Angst, dass ich als Spielleiter stümperhaft scheitere. Solange ich mich mit dem Thema nicht beschäftigte, solange ging ich diesen Ängsten aus dem Weg. Ich prokrastinierte jedes Mal. Und jedes Mal waren Stress und Hektik unmittelbar vor dem Spieltermin dadurch wesentlich höher als sie hätten sein müssen und ließen mich zu einem wahren Nervenbündel werden.

Natürlich wurde ich meinen eigenen Erwartungen nie gerecht. Nach jedem Spieltermin fragte ich mich, wann Spieler wohl abspringen würden, da ich als Spielleiter glaubte versagt zu haben. Rückmeldungen der Spieler selbst halfen hier nie, da ich ja selbst schon glaubte zu wissen wie die Bewertung ausfallen musste. Dadurch war jede gut gemeinte Kritik, jeder Verbesserungsvorschlag eine Bestätigung meines gefühlten Unvermögens.  Positives Feedback ordnete ich in zwei Kategorien. Die erste Kategorie besagte, dass der Spieler, der mir eine positive Rückmeldung gab, dies aus bloßem Wohlgefallen tat; das Feedback damit nicht nur nicht ehrlich, sondern vielmehr gelogen gewesen sei. Feedback der zweiten Kategorie war Feedback von Spielern die, meiner situativen Meinung nach, selbst keine Ansprüche stellten und deswegen keine Richtschnur für mich sein konnten. So oder so landete ich immer wieder bei mir als unfähigem Spielleiter.

Wege aus dem Loch – Selbstverantwortung

Kein Mitspieler am Tisch kann helfen, aus so einem Loch falscher, kranker Wahrnehmungen zu kriechen. Wie ich oben schrieb, ist in einer solchen Situation ohnehin jedes Wort entweder eine Bestätigung der eigenen Gedankengänge oder illegitim. Aus diesem Loch muss ein jeder selbst kriechen. Die eigene Wahrnehmung muss sich ändern, wie sich auch der Umgang mit der Umwelt ändern muss. Es heißt nicht umsonst Verhaltenstherapie: Das eigene Verhalten muss geändert werden und nicht das Verhalten der Umwelt einem selbst gegenüber. Dabei kann es Hilfestellungen geben. Die größte Hilfe ist es jedoch, wenn man als Betroffener wie ein normaler Mensch behandelt wird, wenn man wie jeder andere gefordert und gefördert wird.

Rollenspiel kann ein sehr gutes Hilfsmittel sein, um mit Fehlwahrnehmungen umzugehen. Gerade wenn man selbst im Zuge der eigenen Erkrankung zu stark das Verhalten anderer Menschen sich selbst gegenüber negativ überinterpretiert, können Rollenspielumgebungen helfen, das eigene Denken und Handeln zu reflektieren. Von sich selbst Abstand zu nehmen, eine neutrale Position einzunehmen und eine Situation nüchtern sachlich zu bewerten bedarf Anstrengung und bewussten Trainings. Das ist in vielen Verhaltenstherapien elementarer Bestandteil. Mir persönlich fiel dies, und tut es noch heute, in bestimmten Situationen sehr schwer. Wenn ich schon aufgebracht, genervt oder gestresst bin, dann überinterpretiere ich gerne. Dann bekam und bekomme ich Dinge gerne in den falschen Hals. Was dann hilft, ist ein gewisser Abstand zur Situation um nüchtern analysieren zu können, was mein Gesprächspartner möglicherweise auf rein sachlicher Ebene in einem Gespräch meinte. Vielleicht war das gar kein Appell, gar keine Kritik, dahinter verbarg sich kein großer kritischer Subtext.

Gerade diese Art des emotionalen Distanzierens kann nirgendwo so gut trainiert werden wie im Rollenspiel, sofern zwischen Charakter- und Spielerhandlung klar getrennt werden kann. Hier kann geübt werden, Handlungen aus einer neutralen und distanzierten Position heraus zu betrachten ohne emotional involviert zu werden. Diese Nutzung des Rollenspiels als Übungsfeld im Rahmen einer Verhaltenstherapie sollte jedoch mit einem behandelnden Arzt abgestimmt sein. Gerade wo zwischen Charakter und dem Spieler hinter dem Charakter nicht unterschieden werden kann, können Rollenspielrunden eine Erkrankung eher antreiben als bei der Gesundung zu helfen. Immer im Hinterkopf sollte fest verankert bleiben, dass Rollenspielrunden keine Gruppentherapiesitzungen sind!

Häufig kommt bei dem Thema der psychischen Erkrankungen die Frage auf, wie Betroffene eigentlich auf die Darstellung ihrer Erkrankung durch andere Spieler am Tisch reagieren. Stört das pauschal? Ich persönlich kann sagen, dass mich das nie gestört hat. Es hat bei mir aber auch nie sogenannte Trigger ausgelöst. Unter Trigger versteht man eine Situation, Bilder oder Verhaltensweisen anderer Personen, die einen Schub des eigenen Krankheitsbildes auslösen. Wurde ein Charakter gespielt, der Depressionen hatte während ich selbst als Person darunter litt, dann störte mich das nicht. Ich rollte nur mit den Augen, wenn diese völlig überzogen und schlicht zu stereotyp dargestellt wurden. Das hätte ich aber auch getan, wäre ich nicht selbst Depressionspatient gewesen. Bei anderen Patienten mag dies jedoch anders sein und sie könnten wesentlich empfindlicher auf die Darstellung exakt ihrer Erkrankung reagieren. Das sollte jedoch deren Umwelt nicht von ihrem Rollenspiel abhalten. Wie ich oben bereits schrieb, muss zunächst der Patient selbst mit dieser Situation umgehen. Kann er das nicht, dann sollte dies eine professionelle Stelle entscheiden. Ärgerlich für mich wird und wurde es nur dann, wenn Spieler, deren Charaktere psychische Erkrankungen besaßen, sich durch das Rollenspiel über Erkrankte persönlich herabwürdigend lustig machten. Dabei  wird allerdings eine Grenze übertreten, die auch jedem anderen Spieler bei diesem und diversen anderen kritischen Themen negativ aufstoßen sollte.

Artikelbild:  Innovated Captures | fotolia.de

 

5 Kommentare

  1. Interessante Artikelserie, die auch die andere Seite beleuchtet.

    Ich muss aber gestehen, dass ich versuche, nicht in Gruppen mit Spielern aktiv zu sein, wo ein oder mehrere psychische Erkrankungen aufweisen.

    Der Grund ist die Sorge vor Triggern, denn auch wenn es am Betroffenen liegen mag, so liegt doch erstmal eine Stoerung im Spielablauf vor. Noch viel schwerwiegender ist allerdings die berechtigte Sorge der anderen Spieler und die resultierende Unsicherheit.

    Klar koennen manche Betroffene sicher super abgrenzen und erklaeren, was los ist und was man nicht machen sollte, aber ich hab die Erfahrung gemacht, dass das nicht selbstverstaendlich ist.

    Deshalb vermeide ich solche Spieler lieber, wenn ich leite (ist natuerlich auch fallabhaengig).

    • Damit schließt du aber eine ganze Menge potentieller Spieler aus. Denn psychische Probleme sind weiter verbreitet als viele denken und durch dieses generelle Ausschließen vergrößerst du das Problem nur.

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