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Meine gute Freundin Ulrike hat schon eine ganze Weile lang nichts mehr von sich hören lassen. Das ist eigentlich sehr unüblich, weil sie ein sehr kommunikativer Mensch ist. Fast täglich schreiben wir uns auf sozialen Medien. Doch in letzter Zeit war sie plötzlich verschlossener, wirkte abwesend und hatte weder Zeit für Kino noch Spieleabende. Jetzt ist seit einer Woche Funkstille, keine Nachricht, kein Anruf, keine Reaktion auf Kontaktversuche. Ich beginne mir Sorgen zu machen und erinnere mich an eine seltsame Situation vor ein paar Wochen: Wir waren Kaffee trinken und sie wirkte mal wieder mit den Gedanken woanders. Ärger im Job? Plötzlich schob sie mir einen kleinen Zettel mit einer Adresse über den Tisch. Wenn mal etwas sei, solle ich dahin. Weiter sagte sie nichts und ich steckte den Zettel mit einem Stirnrunzeln ein.

Jetzt hielt ich diesen kleinen Zettel wieder in der Hand. War das der Zeitpunkt, den sie meinte? Ich nahm mir ein Herz und rief unsere gemeinsamen Freunde an, auch sie hatten so einen Zettel bekommen. Gemeinsam beschlossen wir, zu der Adresse zu fahren. Ein Bürohaus in der Stuttgarter Innenstadt. Der Hausmeister wusste wohl Bescheid und ließ uns ohne weiteres in den Raum. Was machte Ulrike nochmal genau beruflich? Irgendeine Bundesbehörde, eine unspannende Verwaltungsstelle. Bis auf ein paar Aufreger über neueste Verwaltungsvorschriften hatte sie nie viel erzählt.

Als wir die Tür hinter uns schließen, stehen wir in einem kleinen, aber vollen Büro, etwas ratlos blicken wir uns an. Als wir gerade wahllos den Raum durchstöbern wollen, geht plötzlich ein Bildschirm an. Ulrike! Nach knapp zwei Minuten wirken wir nicht nur ratlos, sondern fast panisch. Ulrike ist beim Bundesnachrichtendienst und braucht unsere Hilfe:

Wir haben genau eine Stunde, einen Anschlag auf die BND-Zentrale in Berlin zu verhindern. Die Uhr beginnt zu ticken und wir legen los.

Vom Computerspiel ins reale Leben

Eigentlich habe ich gar keine Freundin namens Ulrike beim Bundesnachrichtendienst, zumindest nicht das ich wüsste. Dennoch habe ich mich mit vier Mitstreitern in einem kleinen Raum auf Spurensuche begeben und mit Ulrikes Schicksal mitgefiebert. Tatsächlich haben wir an einem Escape Game teilgenommen. Bereits in unserem Interview mit dem Twilight Team hat Mercedes Buyala, eine der beiden Head-Orgas, mit uns einen Blick in die Zukunft des LARPs riskiert. Dabei sprachen wir auch über Escape Games und ihre Möglichkeiten. Nach kurzer Recherche im Internet fanden wir dann auch eine ganze Menge Veranstalter, es gibt inzwischen sogar eine Seite die fast alle Escape Games in Deutschland listet. Zu meiner Überraschung sind das einige. Mitte 2016  werden schon über 100 Räume in ganz Deutschland gelistet, Tendenz stark steigend. Anfang 2014 waren es gerade mal vier Räume in Deutschland. Man darf also durchaus von einem ordentlichen Wirbel sprechen, der gerade durch Deutschland geht.

Der erste Escape Room entstand aber nicht in Deutschland, sondern in einem Land aus dem viele innovative Spielkonzepte kommen: Japan.

2004 eroberte das Online-Adventure-Spiel Crimson Room von Toshimitsu Takagi die Indie-Szene. Das Prinzip war denkbar simpel: Der Spieler ist in einem Raum eingeschlossen und muss einen Weg hinausfinden. Es bedient sich dabei Mechanismen klassischer Point&Click-Adventures. Mit Logik und Geschicklichkeit gilt es verschiedene Gegenstände und Hinweise zu kombinieren, um letztendlich dem Raum zu entfliehen.

Drei Jahre später setzten findige Spieler dieses Konzept in die reale Welt um. Einer oder mehrere Spieler wurden dabei in einen oder mehrere Räume eingesperrt (in Deutschland freilich nicht, da ist die Tür nie verschlossen. Der Brandschutz lässt grüßen.). Ist die Tür erst verschlossen, haben die Spieler, in der Regel, eine Stunde Zeit zu entkommen. Die Mechanismen des Spiels wurden dabei eins zu eins aus der Computerspielvorlage übernommen und damit ein reales Point&Click-Adventure erschaffen.

Der lange Weg nach Deutschland

Bis ein Trend nach Deutschland schwappt, vergehen auch schon mal ein paar Jahre. Der Weg hier war allerdings etwas ungewöhnlicher. Der erste bekannte europäische Escape Room entstand 2011 in Budapest/Ungarn und wird vom Unternehmen Parapark betrieben. Von dort expandierte das Unternehmen in weitere europäische Länder, unter anderem Deutschland.

Die ersten deutschen Escape Rooms gründeten sich oftmals als kleinere Vereine, so zum Beispiel auch 2014 die ExitGames Stuttgart. 2013 eröffnete dann auch der erste deutsche kommerziell betriebene Raum in München.

Wie rasant das Wachstum ist, sieht man deutlich an der Entwicklung der ExitGames in Stuttgart. 2014 gründete Michael Bierhahn gemeinsam mit ein paar Freunden einen Verein für Escape Rooms. Gemeinsam bauten sie den ersten Escape Room in Stuttgart. Das Konzept wurde ohne Werbung zum Selbstläufer und der Verein konnte sich vor Anfragen nicht retten. Also wurden neue Räume konzipiert und gebaut. Aus dem Verein wurde eine Firma. Heute leitet Bierhahn ein mittelständisches Unternehmen mit rund 50 Mitarbeitern und betreibt allein in Stuttgart neun Räume an sechs Standorten. Dazu kommen noch das Live City Adventure, eine Art aufgepeppte Schnitzeljagd, und zwei mobile Escape Rooms. Damit sind die ExitGames Stuttgart mittlerweile einer der größten deutschen Anbieter.

Wie erschaffe ich einen Rätselraum?

Die meisten Betreiber von Escape Rooms stecken noch ganz tief in der Konzeption ihrer Räume. So auch Michael Bierhahn in Stuttgart, ein festes Konzept zur Erschaffung neuer Räume hat er dabei nicht. Manchmal hat er erst das Rätsel und erschafft drum herum den Raum, manchmal eine Geschichte zu der dann die Rätsel erschaffen werden oder auch mal eine fixe Idee, was ein Raum hergeben könnte. Heute greift er dabei aber sowohl auf ein Projektmanagement als auch ein großes Team an Rätselfreunden in seinem Unternehmen zurück. ExitGames und viele andere größere Betreiber beschäftigen daher Game Designer und Theaterwissenschaftler, um beständige neue Konzepte zu entwickeln. Von der ersten Idee bis zum fertigen Raum gehen dann zwischen fünf und zwölf Wochen ins Land, je nach Aufwand. Bevor ein Raum freigegeben wird, wird er intensiv durch das Team getestet. Bierhahn schaut dabei aber auch über den Tellerrand, regelmäßig besucht er noch selbst Escape Rooms in Europa oder Japan, um sich neue Inspirationen zu holen. 

Immerhin stehen Escape Room Anbieter unter einem starken Druck. Sie müssen sich nicht nur von wachsender Konkurrenz abheben, sondern auch mit der sinkenden Halbwertszeit ihrer Räume kämpfen. Zwar bitten alle Betreiber diskret mit den Rätseln umzugehen, aber die Gefahr, dass Informationen öffentlich werden, ist stets vorhanden. Ganz zu schweigen davon, dass man Räume, deren Rätsel man kennt, nicht mehrfach spielen wird.

Da dürfen einem nicht die Ideen ausgehen. Ein Grund, warum Betreiber wie die ExitGames in Stuttgart inzwischen weg von klassischen Zahlen- und Kombinationsrätsel wollen.

Wohin die Reise geht

An Ideen mangelt es freilich nicht. Aber neue Rätselkonzepte sind schwierig, wenn man sich nicht immer wiederholen will. Einige Räume arbeiten daher schon mit technischen Gimmicks. Da gilt es Laserschranken zu überwinden, PCs zu hacken oder auch mal Gegenstände mit Werkzeug zu bearbeiten. Manch ein Raum lässt sogar die Zerstörung des Inventars zu, um auf die Lösung zu kommen. Bei seinem Live City Adventure setzt ExitGames Stuttgart auch auf Augmented Reality. Mit Hilfe von Tablets werden nicht nur Infos angezeigt, sondern auch Portale oder Figuren eingefügt, die der restlichen Welt verborgen bleiben.

Spannend ist auch der Ansatz, mehr Sinne in die Lösung der Rätsel einzubinden. In Stuttgart hat erst im Juni 2016 ein Raum eröffnet, aus dem jede Farbe entwichen ist. Mit Hilfe seiner Sinne, starker Kooperation und Kombinationsgabe soll der Spieler die Farbe in die Welt zurückbringen. So rasant wie die Entwicklung derzeit ist, werden wir einige spannende Konzepte erleben.

Einstieg ins LARP?

Bisher sind LARPer kaum im Fokus der Betreiber, hat uns zumindest Michael Schindler von den ExitGames Stuttgart verraten. Die Teilnehmer sind meist Freundeskreise, Junggesellenabschiede oder Firmenevents. Ab und zu werden Escape Rooms auch für den Einstellungsprozess in Unternehmen genutzt. Immerhin sieht man ganz gut, wer ein Teamspieler ist, wer auch mal quer denkt oder Anführerqualitäten hat. Die starke Notwendigkeit zur Kooperation und eine erforderliche gute Kombinationsgabe offenbaren schnell allerlei Stärken und Schwächen.

Einige Räume sind außerdem kompetitiv ausgelegt, sprich in zwei identischen Räumen spielen die Teilnehmer nicht nur gegen die Zeit, sondern auch gegen das andere Team, ohne den jeweiligen Fortschritt zu wissen.

Dabei sind Escape Games wie für LARPer gemacht. Die im Einstieg geschilderte Geschichte entstammt tatsächlich einem Escape Game. Sie wird im Vorfeld bei der Einweisung durch den Spielleiter kurz erzählt. Damit wird bereits eine passende Grundstimmung erzeugt, wenn man sich denn darauf einlässt. Es ähnelt dabei durchaus einer kurzen Einführung in ein Pen-and-Paper-Abenteuer. Bereits bei der Einführung merkte man in unserem Fall den Enthusiasmus der Mitarbeiter. Mit einer liebevollen Geschichte, die genug Freiraum lässt, sich selbst reinzudenken, wird man dann mit einer Situation konfrontiert. In unserem Fall, um einen Anschlag zu vermeiden. Andere Räume fordern dazu auf, einen Serienkiller zu fassen oder das Heilmittel gegen einen aggressiven Erreger zu finden.

Es gibt also einen Plot, der durch das Raumambiente und die Einleitung des Spielleiters der Gestaltung eines LARPs sehr ähnlich ist. Gleichzeitig wird dabei eine recht hohe Immersion erzeugt, die es erlaubt, schnell in die Spielwelt einzutauschen. Immerhin hat man nur eine Stunde Zeit. Mit Hilfe vielerlei Aufgaben, engem Zusammenspiel und auch mal einem Hinweis des Spielleiters, kommt man der Geschichte auf die Spur und löst seinen Plot. Das Ganze in einer fiktiven Situation und wenn man denn will, auch fiktiven Rollen. So wird man für eine Stunde zum Agenten des BND, Personenschützer von Angela Merkel, Kommissar in der Mordkommission oder Wissenschaftler.

Apropos Spielleiter, diese haben über Kameras und Mikrofone das ganze Geschehen jederzeit im Blick und unterstützen auch mal mit einem vorsichtigem Schubs in die richtige Richtung, wenn nötig. Das ganze nie aufdringlich und ziemlich gelungen mittels Hinweisen auf einem Monitor. So hat man gleich das Gefühl, noch einen Agentenführer außerhalb zu haben. Manche mag das stören, andere empfinden es als bereichernd für das Setting.

Was nach einer Stunde bleibt

Escape Rooms sind keine klassischen LARPs, das ist aber auch nicht der Anspruch. Sie sind aber ziemlich nah dran, vielleicht vergleichbar mit Real World LARPs. Man hat fast das Gefühl, dass eine Con auf eine Stunde zusammengepresst wird, und es funktioniert.

Der Spielspaß ist sehr hoch und eine Gruppe LARPer muss fast schon ausgebremst werden, um nicht alles auseinander zu nehmen. Plot-Spieler werden an Escape Rooms ihre wahre Freude haben, sowie Freunde von Rätselspielen.

Escape Rooms sind aber auch spannend, um Neulinge vorsichtig an das Thema heranzuführen. Wer hier Blut leckt, wird es nicht mehr weit zum LARP haben.

Im Vergleich zu einem LARP ist es auch deutlich günstiger und weniger zeitintensiv: Im Schnitt kostet ein Raum um die 100 Euro und das Spiel dauert selten länger als eine Stunde. Gerade für Interessenten eine überschaubare Investition. Doch auch für Orgas ist es nicht uninteressant, kann man sich hier allerlei Inspirationen für neue Rätsel und Plots holen.

Unser Team wird auf jeden Fall wieder ein Escape Game besuchen. Es mag kein LARP ersetzen, aber verkürzt sehr schön die Zeit zur nächsten Con.

Bilder: © ExitGames Operations UG

 

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