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„Aber eines trifft auf uns alle zu: Im Laufe der Zeit werden wir immer stärker.“

Was Lestat Louis in Interview mit einem Vampir erklärt, trifft auch aufs Vampire Live zu: Je älter ein Kainit ist, desto mehr übernatürliche Fähigkeiten beherrscht er. Junge Charaktere sind deshalb oft unbeliebt, da ihre Möglichkeiten scheinbar stark eingeschränkt sind. Zu Unrecht, wenn man sich ihre Situation genauer anschaut, denn gerade sehr junge Charaktere schaffen es oft, deutlich ältere zu überflügeln.

Eins ist klar: Jedes Alter hat seine Vor- und Nachteile im Spiel – und Macht ist nichts, was nur den alten Vampiren vorbehalten ist.

Was ist Macht?

Abseits von Star Wars gibt es nicht „die“ Macht. Der Duden definiert Macht als „Gesamtheit der Mittel und Kräfte, die jemandem oder einer Sache andern gegenüber zur Verfügung stehen“. Macht bedeutet die Fähigkeit, etwas zu bewirken und andere zu beeinflussen oder sogar gegen ihren Willen zu etwas bringen zu können.

Per se sieht diese Definition nicht vor, dass der Machthaber besonders alt sein oder die nötigen Fähigkeiten selbst beherrschen muss. Auch Handlanger kontrollieren zu können ist schließlich Macht. Und das ist eine gute Nachricht für alle, die einen sehr jungen Vampir spielen, denn es heißt, dass auch sie sich ein Stück vom Kuchen ergattern können.

Sicherlich wird ein sehr junger Vampir sich kaum zum Herrscher einer Stadt aufschwingen können. Wer Einfluss allerdings darauf beschränkt, ein hohes Amt haben zu müssen und im Rampenlicht zu stehen, beraubt sich selbst vieler Möglichkeiten.

Die Vorteile des Alters

Je älter der Vampir, desto mehr Fähigkeiten. Und mehr Fähigkeiten bedeuten natürlich ein deutlich größeres Repertoire an Möglichkeiten, die eigenen Ziele zu erreichen. Vorausgesetzt ist natürlich auch der kreative Einsatz dieser Mittel. Während ein junger Vampir vielleicht nur sein Gegenüber zwingen kann, einen einfachen Befehl zu befolgen, kann ein älterer Vampir wohlmöglich schon Erinnerungen manipulieren, im Opfer Trigger für spätere Handlungen einpflanzen, bindende Versprechen erzwingen und die Gefühle des Opfers ganz nach Belieben manipulieren.

Gleichzeitig bedeutet ein höheres Alter auch, dass der Charakter mehr Zeit hatte Beziehungen aufzubauen, die ihm in seiner späteren Existenz nützlich sind. Wer länger lebt hatte schließlich mehr Gelegenheiten Geheimnisse aufzuschnappen oder Bündnisse zu schmieden, auf die man für Intrigen zurückgreifen kann.

Und nicht zuletzt ist ein hohes Alter auch respekteinflößend, denn auch wenn man einen alten Vampir nicht mag, kann man ihn (meistens) zumindest dafür respektieren, dass er lange überlebt hat und deshalb wohl auch mehr geleistet hat, als ein gerade erst geschaffener Vampir.

Die Vorteile der Jugend

Wer einen jungen Charakter spielt hat den Vorteil, sich keine lange Hintergrundgeschichte merken zu müssen. Statt das geschichtliche Wissen von Jahrzehnten oder Jahrhunderten zu kennen reicht das aus, was der Spieler selbst weiß. Dazu kommt, dass gerade Neuspieler, die noch keine Berührung mit der World of Darkness hatten, mit einem jungen Charakter die Möglichkeit haben, im Spiel zu lernen. Und das ist ungleich spannender und einprägsamer, als sich das Hintergrundwissen bloß aus Büchern anzueignen. Und nicht zuletzt sind junge Charaktere besser überzeugend darzustellen. Den spätestens ab ein paar Jahrhunderten wird es auch für sehr gute Schauspieler beinahe unmöglich, dem Bild eines alten Monsters gerecht zu werden.

Die Erwartungen, die an einen jungen Vampir gestellt werden, sind in der Regel geringer als das, was ein alter Charakter leisten muss, um seinem Stand gerecht zu werden. Und das hat einen großen Vorteil: Es ist für den jungen Vampir ungleich leichter diese Ansprüche zu überflügeln und damit besonders fähig zu wirken. Oder anders gesagt: Ein dreimonatiger Vampir, der sich traut eine öffentliche Diskussion mit einem sehr alten Vampir zu führen, wird dafür mehr Anerkennung erhalten als ein Vampir, der schon ein oder zwei Jahrhunderte auf dem Buckel hat – obwohl beide Darsteller das gleiche Lampenfieber vor dieser Situation empfinden können.

Auch der persönliche Horror, um den es im Vampire Live geht, lässt sich für viele mit einem sehr jungen Charakter besser erleben. Denn gerade weil ein sehr junger Vampir eindeutig das schwächste Raubtier im Raum und damit klar unterlegen ist, kann der Darsteller sich fallen lassen und genau diese Unterlegenheit und das Ausgeliefertsein bespielen. Diese Emotionen sind deutlich schwerer zu empfinden, wenn man weiß dass man jedem Anwesenden überlegen ist.

Wie kommt ein junger Vampir an die Macht?

Was einem jungen Vampir zugutekommt, wenn er Einfluss gewinnen will, ist das, was viele für eine bloße Schwäche halten: sein geringes Alter und seine Unerfahrenheit. Denn richtig eingesetzt steckt darin einiges an Potential. Die Voraussetzung dafür, dass ein junger Vampir nicht nur überlebt, sondern auch aufsteigt, ist aber, dass der Darsteller bereit ist sich anzustrengen. Während ein alter Kainit sich leichter auf seinen vergangenen Taten ausruhen kann und nichts tut, muss ein junger Vampir sich erst einmal beweisen.

Das Schlachtfeld kennenlernen

Der wohl wichtigste Erfolgsfaktor bei einem jungen Vampir ist, dass er noch sehr viel lernen muss. Und damit meine ich nicht die Traditionen der Vampirgesellschaft. Denn diese sind, wenn wir einmal ehrlich sind, an einem Wochenende gelernt.

Aber viel eher muss der junge Vampir die Gesellschaft kennenlernen, in der er sich bewegt. Er muss begreifen, wie die Mächtigen funktionieren und welche Beziehungen sich auf welche Ereignisse auswirken. Niemand hält ihnen vor, dass sie dies noch nicht wissen, schließlich wurden sie ja gerade erst in diese Welt gestoßen. Der Darsteller eines älteren Charakters hat es deutlich schwerer, denn er muss jahrzehnte- oder jahrhundertelange Erfahrung vorspielen, die dem Darsteller allerdings fehlt. Ein frischgeschaffener Vampir darf auch scheinbar dumme Fragen stellen, während ein alter Vampir sich damit der Lächerlichkeit preisgibt. Durch diesen im Spiel bestehenden Zwang zu lernen wird der junge Charakter direkt und aktiv eingebunden und erfährt hautnah, wie das aktuelle Spiel funktioniert.

Die eigene Schwäche nutzen

Ebenso wertvoll für einen jungen Charakter ist, dass er seine Jugend schamlos als Schutzschild missbrauchen kann. Er bricht sich keinen Zacken aus der Krone, wenn er einen Konflikt verliert, schließlich ist er ja noch so jung, dass jeder erwartet, dass er Fehler macht. Er kann es sich also leisten zu scheitern, ohne dass sein Ruf darunter leidet, solange er wahrnehmbar aus seinen Fehlern lernt. Selbst ihn im Kampf zu besiegen bringt keine Anerkennung.

Ein alter Charakter hat diese Freiheit nicht mehr. Der junge Charakter und dessen Darsteller erhalten so die Möglichkeit, sich wesentlich freier auszuprobieren und ungewohnte Wege zu gehen.

Das Torwart-Phänomen

Tatsächlich sind insbesondere gesellschaftliche Konflikte mit jungen Charakteren sehr gefährlich für die erfahreneren Blutsauger. Nennen wir es EM-tauglich das Torwart-Phänomen: Der alte Vampir ist der Torwart, während der junge Vampir der Spieler ist, der den Ball versenken soll. Jeder erwartet, dass ein Torwart die Bälle hält, denn das ist sein Job. Bei dem Spieler hofft man auf einen Treffer, weiß aber wie gering die Chancen für ein Tor sind.

Hält der Torwart den Ball bzw. kontert der alte Vampir den Angriff, ist das nett, aber nichts Besonderes. Es wird erwartet. Versenkt hingegen der Spieler den Ball bzw. kann der junge Vampir den Konflikt für sich entscheiden, wendet er das gesamte Spiel und fährt einen großartigen Sieg ein.

Dazu kommt der Vorteil, dass ein junger Charakter in dem Moment stark an Bedeutung gewinnt, in dem ihn ein mächtigerer Kainit angeht. Schließlich würde dieser sich nicht mit ihm auseinandersetzen, wenn er bedeutungslos wäre.

Gerade ein junger Vampir kann sehr viel aus Konflikten gewinnen, während er zugleich nur wenig zu verlieren hat. Die ändert sich erst, wenn er in der Rangfolge weiter aufsteigt, denn je mehr er erreicht hat, desto mehr kann er verlieren.

Eine ungefährliche Maske

Aus verschiedenen Gründen suchen Vampire immer wieder Nähe zu anderen Vampiren. Sie wissen, dass ihre Artgenossen gefährlich sind und sie hintergehen werden, wenn es sich für sie lohnt, und trotzdem wollen sie nicht ohne sie existieren.

Ein junger Vampir hat gegenüber einem alten Vampir den attraktiven Vorteil, dass er verhältnismäßig schwach ist. Und gerade diese vermeintliche Schwäche macht ihn zu einem passenden Unlebensabschnittsgefährten, denn die Gefahr, dass er einem ernsthaft Schaden kann, ist geringer als bei alten Vampiren. Das Gefühl überlegen zu sein verführt allerdings zur Überheblichkeit, und erschreckend viele Charaktere plaudern nur zu gerne aus dem Nähkästchen, wenn sie die Gelegenheit dazu haben.

Schafft ein junger Vampir es also einem Mächtigen aufzufallen und ihm näherzukommen, kann er einiges über diesen Vampir erfahren, das ihm später nützlich sein wird. Und das müssen nicht einmal große Intrigen sein: Hat er einen guten Stand bei seinem Gönner, kann er ein gutes Wort für den ein oder anderen einlegen oder als Vermittler auftreten.

Nicht zuletzt fühlen sich die meisten Vampire gepauchpinselt wenn sie nach ihrer Meinung gefragt werden. Dem jungen Vampir kommt das gelegen, denn er kann so nicht nur viel lernen, sondern gewinnt zugleich Sympathiepunkte

Disziplinen funktionieren nicht (gut)

Alte Vampire beherrschen mehr übernatürliche Fähigkeiten als junge Vampire. Gerade im Bereich der geistigen Manipulation existiert eine Vielzahl sehr mächtiger Fähigkeiten, die einem jungen Vampir verschlossen bleiben.

Dies ist allerdings nicht so tragisch, wie es sich zuerst anhört. Diese Fähigkeiten sind ungelogen sehr nützlich, haben aber auch einen Nachteil: Sie erschaffen schnell unbewusste Widerstände beim Spieler des Opfers dieser Fähigkeit. Denn auch, wenn der betroffene Charakter vielleicht nicht merkt, dass er manipuliert wird, ist sich dessen Spieler dieser Tatsache bewusst. Auch, wenn das Opfer richtig auf die Disziplin reagiert, wird es dies nicht aus voller Überzeugung tun, denn es wurde ja nur dazu gezwungen.

In vielen Fällen funktioniert die Beeinflussung eines anderen Charakters besser, wenn man ihm subtil Ideen einpflanzt, ohne etwas durch Disziplinen zu erzwingen. Bekommt das Opfer den Eindruck, selbst auf eine Idee gekommen zu sein, wird es sie deutlich enthusiastischer verfolgen, als wenn es mithilfe einer Disziplin dazu gezwungen worden wäre.

Dadurch, dass ein junger Vampir viele übernatürliche Fähigkeiten noch gar nicht hat, ist er gezwungen sich in der Rhetorik zu schulen und die dreckigen kleinen Tricks zu lernen, um andere zu manipulieren, wenn er sie zu etwas überreden will.

Es ist nicht alles eitel Sonnenschein

Einen jungen Charakter zu spielen hat aber nicht nur Vorteile. Denn trotz aller Befähigung des Darstellers gibt es eine gläserne Decke, an die sein Charakter unweigerlich stoßen wird. Wurde er im Spiel zum Vampir gemacht, werden noch Jahre später alle wissen, wie jung er ist. Und auch, was die übernatürlichen Fähigkeiten anbelangt, haben sehr junge Charaktere einen großen Nachteil: Sie werden während der Spielzeit des Darsteller nicht so alt, dass sie viele neue Fähigkeiten erlernen können.

Gerade weil junge Charaktere oft einen erstaunlichen Aufstieg erleben, stellt sich bald die Frustration ein. Sie haben alles erreicht, was sie erreichen können und brennen aus. Wichtig um lange Spaß an dieser Rolle zu haben ist deshalb, dass es genug andere Charaktere gibt, mit denen man sich messen und an denen man wachsen kann.

Der größte Nachteil ist allerdings, dass ein frischgeschaffener Vampir abhängig von seinem Erzeuger ist. Das heißt nicht nur, dass dieser entscheidet, ob das Kind seinen Vorstellungen gerecht wird, sondern auch, dass das Kind keine Treffen besuchen kann, auf denen der Erzeuger nicht anwesend ist.

Fazit

Alter ist nicht alles. Mit etwas Geschick kann gerade ein sehr geringes Alter Möglichkeiten eröffnen, an die man zuvor nicht gedacht hatte. Ein junger Charakter darf und soll Fehler machen, um zu lernen, wie die vampirische Gesellschaft funktioniert. Seine Jugend lässt ihn unerfahren und schwach wirken, was er sich gut zunutze machen kann.

Und gerade Neueinsteiger haben mit einem sehr jungen Charakter die einmalige Gelegenheit, die World of Darkness live im Spiel kennenzulernen

Artikelbild: inarik | fotolia

 

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