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Bergungskreuzer MÖWE ist ein maritimes Deutschlandsetting, mit dem Günther Lietz den ersten Platz in der Fate Core-Weltenbandchallenge gewonnen hat. Erfahrt hier mehr über das ungewöhnliche Setting, das aus einer Prise preußischer Spießigkeit, einer augenzwinkernden Alternativhistorie in den 80ern und einer Adaption des Firefly-Gefühls für den postapokalyptischen europäischen Hochseeraum besteht.

Settinghintergrund: Deutschland unter Wasser

Im Jahre 1909 tauchte eine außerirdische Flugscheibe über dem Atlantik auf und begann den Planeten zu aquaformen. Der Meeresspiegel stieg schier unaufhaltsam an und die tiefer gelegenen Länder Europas waren die ersten Opfer der unirdischen Katastrophe, die von den sich ausbreitenden Wassermassen verschluckt wurden. Nur dem entschlossenen und mutigen Eingreifen der deutschen Marine unter Kaiser Wilhelm II. ist es zu verdanken, dass die Flugscheibe getroffen und im Atlantik versenkt werden konnte.

Flugscheibe über dem Atlantik
Flugscheibe über dem Atlantik

Doch das Aquaforming der Außerirdischen hat seine Spuren hinterlassen: Der Meeresspiegel ist mittlerweile um 125 m angestiegen. See-, nicht Luft- oder gar Raumfahrt dominieren die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der mittlerweile die ersten Unterseehabitate von mutigen Pionieren bewohnt werden. Grenzen haben sich vorschoben und militärische Konflikte werden vor allem von der Marine ausgetragen. Die Niederländer sind zu Nomaden geworden, die auf ihren schleppnetzziehenden Hausbooten über die Meere ziehen. Dänemark sowie Skandinavien wurden durch den ansteigenden Meeresspiegel quasi ausradiert.

Das politische und kulturelle Zentrum der veränderten Welt ist Deutschland, das durch das rettende Eingreifen Kaiser Wilhelms II. auch noch im Jahre 1982 (dem Jahr, in dem die Geschichten um den Bergungskreuzer MÖWE angesiedelt sind) von den anderen Nationen als Vorbild gesehen wird. Kaiserin Mechthilde mit ihrer gemäßigten Außenpolitik sowie zahlreichen Investitionen in Kultur und Fortschritt ist relativ beliebt, auch wenn die jüngere Generation immer mehr Kritik an Deutschlands Rolle als selbsternannter Weltmacht übt. Was für ein wunderbar unverbrauchtes, skurriles, liebevolles Setting!

Das Schiff als zentraler Charakter

Bergungskreuzer MÖWE
Bergungskreuzer MÖWE

Die Charaktere sind Mannschaftsmitglieder des Bergungskreuzers MÖWE, eines zivilen, aber bewaffneten Bergungsschiffes des deutschen Kaiserreiches, das den Atlantik in Rettungs- und Erkundungsmission durchquert. Das wendige Schiff verfügt über Kräne, Tauchglocken, Winden und Miniaturunterseebote, um Schätze aus den Tiefen des Meeres bergen zu können. Da die

MÖWE eine derart zentrale Stellung in der Geschichte einnimmt, wird sie von den Spielern gemeinsam als eigenständiger Charakter erschaffen, dem jeder Spieler einen Aspekt verleiht. Außerdem verfügt das Schiff ebenso wie jeder andere Charakter über Fertigkeiten. Damit erlangt es eine einzigartige Persönlichkeit vergleichbar der Firefly in der gleichnamigen Fernsehserie und grenzt sich von anderen, generischen Schiffen ab.

 

Die Erschaffung der Spielercharaktere funktioniert im Wesentlichen wie in der Fate Core-Vorlage, wobei das Phasentrio sich in Ausbildung, Erste Fahrt und Zweite Fahrt gliedert. Wer Inspiration sucht oder gleich ins Abenteuer starten will, kann auch einfach die fünf vorgefertigten Charaktere am Ende des Buches verwenden. Schließlich wird noch der Heimathafen der MÖWE genauer spezifiziert, indem seine Besonderheiten und seine Beziehung zu den Charakteren in drei Aspekten beschrieben werden.

Seefahrtsregeln

Der Settingband erweitert die Fate Core-Regeln an einigen Stellen, um einen höheren Detailgrad in maritimen Aktionen zu erreichen. Dieses Ziel ist nachvollziehbar, wird aber meiner Meinung nach nur teilweise erreicht. Ein paar Beispiele dafür: Die Fate-Beaufortskala (schöne Idee!) spiegelt die Stärke des Wellengangs wider und erschwert beispielsweise den Kampf an Deck. Schaffen es die Charaktere nicht, einen vergleichenden Wurf gegen Wind und Wellen zu gewinnen, erhalten sie für den Rest der Szene den Aspekt „Aus dem Gleichgewicht“. Auf welche Fertigkeit dieser vergleichende Wurf gerollt wird, muss man sich hier selbst zusammenreimen. Wenn ein Schiff geentert wird, befinden sich die Mannschaften in einem Konflikt, in den die Charaktere mit ihren Fertigkeiten eingreifen können. Aber wie? Unterstützen sie das Schiff mit einem +1-Bonus, erschaffen sie Vorteile für die MÖWE oder agieren sie an wichtigen Stellen der Erzählung selbstständig wie in der Drops in a Pond-Methode zur Abhandlung von Massenkonflikten vorgeschlagen? Es mag ja auch sein, dass der Gruppe diese Wahl bewusst offen gelassen wird, aber dann hätte ich diese Information sowie einen zusätzlichen Hinweis, wann welche Herangehensweise sinnvoller ist, hilfreich gefunden. Auch Torpedo-Angriffe scheinen mir nach diesen Regeln nur in der Verteidigung sinnvoll zu sein, da das angegriffene Schiff einfach vor dem Torpedo davonfahren kann. Generell sind die Sonderregeln an einigen Stellen etwas zu vage formuliert, sodass vor allem Neulinge Probleme mit der Umsetzung haben könnten.

Mit einer zusätzlichen Stressleiste für Atemluft und speziellen Zonenregeln für Unterseekämpfe kommen darüber hinaus einige Regelelemente hinzu, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob sie vor allem zusätzliche Rechnerei darstellen oder den Spielspaß tatsächlich erhöhen. Dazu muss ich aber auch sagen, dass mir persönlich ein elegantes Fate besser gefällt als eines mit vielen Zusatzregeln für spezifische Situationen, und dass mir bewusst ist, dass andere Gruppen dies anders sehen könnten.

Der Rest: Beispielschiffe, -gegner, -abenteuer und ein wenig Seemannsgarn

Außerirdische Riesenqualle
Außerirdische Riesenqualle

Der restliche Teil des Settingbandes besteht aus sehr hilfreichen Schablonen für Schiffe und Gegner und aus sechs skizzierten Abenteuervorschlägen, die eine Idee davon vermitteln, welche Abenteuer sich mit dem Bergungskreuzer erleben lassen. Das Tolle an den Abenteuerskizzen ist, dass sie den Spagat zwischen dem Pulp-Charakter des Settings und den skurrilen Eigenheiten eines alternativen Europas in den 80ern sehr schön illustrieren. Eine Hitliste der 1982er sowie ein siebenseitiges Glossar der Seemannssprache, das ich als sehr hilfreich empfinde, runden den Settingband ab.

Preis-/Leistungsverhältnis

Bergungskreuzer MÖWE kostet als PDF 6,99€ und als Softcover 14,95€. Die Investition in das PDF lohnt sich meiner Meinung nach sofort für die tollen Setting- und Abenteuerideen. Ob sich die Mehrinvestition in das Softcover lohnt, ist wohl vor allem von den eigenen Lesevorlieben abhängig. Der Softcover-Band wirkt sehr wertig und die zahlreichen Illustrationen (s.u.) lassen sich direkt am Spieltisch vorzeigen.

Erscheinungsbild

Bergungskreuzer Möwe Rezension FATE Uhrwerk Verlag CoverDer 82-seitige Settingband ist im gewohnten Fate-Layout gesetzt und ist daher sehr gut lesbar. Fast auf jeder Seite befindet sich eine der detaillierten Illustrationen von Volker Konrad und Günther Lietz, die den Charakter des Settings sehr anschaulich vermitteln. Das in matten Umschlag gebundene Softcover macht einen guten Eindruck und wirkt sehr stabil. Über einen Index verfügt der kurze Settingband nicht, was aber meiner Meinung nach auch nicht nötig ist, da man sich im übersichtlichen Inhaltsverzeichnis schnell zurechtfindet.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Uhrwerk
  • Autor(en): Günther Lietz
  • Erscheinungsjahr: 2016
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Softcover/PDF
  • Seitenanzahl:
  • ISBN: 978-3-95867-050-1
  • Preis: 14,95€ (Softcover), 6,99€ (PDF)
  • Bezugsquelle: Links zu Amazon, Sphärenmeister

 

Fazit

Das Setting des postapokalyptischen Deutschlands ist den 80er Jahren ist unverbraucht und wunderbar skurril. Gleich beim Lesen des Settingbandes sind mir zahlreiche Abenteuerideen eingefallen, die sich für einen Oneshot eignen oder auch in eine längerfristige Kampagne einbinden ließen. Ich hätte gern noch ein bisschen mehr über den spannenden Hintergrund erfahren (Wie sehen die Unterseehabitate aus? Welche politischen Konflikte gibt es in dieser Alternativhistorie?), aber das zeugt mehr von meiner generellen Begeisterung für das Setting als von einem Mangel des Bandes.

Die settingspezifischen Sonderregeln werden an einigen Stellen leider nicht ganz klar. Als erfahrener Fate-Spielleiter sollte man diese jedoch trotzdem schnell für die eigene Spielrunde anpassen können, aber Einsteiger könnten an einigen Stellen unnötig verwirrt sein.

Insgesamt handelt es sich bei Bergungskreuzer MÖWE – Deutschland unter Wasser um einen Settingband mit einer spannenden, unverbrauchten Grundidee und schönen Abenteuervorschlägen, mit dem Spielgruppen, die Spaß an Pulp-Szenarien und/oder skurriler Alternativhistorie haben, viele unterhaltsame Spielabende verbringen können.

Daumen4weiblichNeu

Mit Tendenz nach Oben

Artikelbild: Uhrwerk Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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