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Ein Vampir ist ein tragisches Wesen: Eine gebrochene Kreatur, vom Augenblick der Erschaffung an dazu verdammt, das Blut der Lebenden zu trinken, um sich so ein halbes Leben zu stehlen. In seinem Inneren rast eine böse, pervertierte Bestie, die ihn treibt, das letzte Menschliche fahren zu lassen und seinen finsteren Trieben gänzlich nachzugeben. Oder anders ausgedrückt: Ein Vampir kann niemals der „Gewinner“ seiner Existenz sein.

Im Vampire Live ist deshalb das Verlieren und das Erleben des unausweichlichen Untergangs des Charakters ein Kernelement. Egal, wie viele Feinde er besiegen und wie viele Intrigen er durchführen wird, am Ende verliert er dennoch.

Aber auch abseits vom Vampire Live ist das bewusste Verlieren ein großartiges Mittel für Dramatik und Tragik. Trotzdem scheiden sich gerade an diesem Punkt die Geister: Während die einen von sich aus Schwächen ihres Charakters ins Spiel werfen, um mehr Spielimpulse für dramatische Szene zu schaffen, wollen andere, dass die Schwachpunkte ihrer Charaktere von deren Gegnern im Spiel erarbeitet werden. Beide Seiten haben ihre Berechtigung – und ihre Schwachstellen.

Die Diskussion, die auf meinen Artikel über die Möglichkeiten junger Vampire an Macht zu gelangen folgte, hat mir gezeigt, dass das Thema des Verlierens für viel Gesprächsstoff sorgt. Deshalb ist dieser Artikel kein endgültiges Statement, sondern stellt verschiedene Ansätze zur Diskussion. Denn so viele verschiedene Vampire Live Spieler es gibt, so viele Spielstile gibt es auch. Ring frei!

Gehört Play to lose ins Vampire Live?

Play to lose, das Spielen um zu verlieren, als wichtiger Bestandteil vom Nordic LARP scheint wie geschaffen fürs Vampire Live. Tatsächlich hat aber längst nicht jede Gruppe diesen Spielansatz. Und für beide Seiten gibt es gute Gründe.

Ja, play to lose gehört dazu!

Nicht gegeneinander zu spielen um zu gewinnen, sondern miteinander, um gemeinsam ein intensives Spiel zu erleben, ermöglicht erst das emotionale Spiel, das wir im Vampire Live suchen. Eine möglicherweise sehr alte und mächtige Kreatur zu spielen verleitet in Kombination mit dem romantisierten Bild aus Film und Literatur dazu, wie eine Teflonpfanne auf einer Session zu sitzen: So emotionslos, dass alle Spielimpulse abperlen ohne Rückstände zu hinterlassen.

Allenfalls werden offensive Emotionen wie Aggression gezeigt, mit denen man sich gegen andere durchsetzt und so wieder der Gewinner ist. Aber seien wir ehrlich: Wer bereits Vampire Live spielt und an seine Gruppe denkt, wird wahrscheinlich nur bei einem Bruchteil der Charaktere Schwächen oder den persönlichen Niedergang des Charakters erlebt haben. Stattdessen werden die positiven Eigenschaften des Vampirs herausgepickt – Unsterblichkeit, übernatürliche Fähigkeiten, die Möglichkeit sich erbarmungslos zu geben – ohne dabei die Nachteile dieser Kreaturen zu spielen.

Durch das Bewusstsein des play to lose, kann man diesen grausig langweiligen Treffen ein Ende bereiten. Indem jeder Darsteller bereit ist, auf Impulse anderer Charaktere einzugehen und insbesondere auch selbst so reagiert, dass für die Beteiligten eine möglichst intensive Szene entstehen kann, wird das Kernelement des Vampire Lives hervorgehoben: das Verlieren. Mit anderen Worten: Wir gewinnen nur dann, wenn wir verlieren.

Wenn jeder Darsteller diesen Ansatz teilt, kommt niemand zu kurz und es entsteht nicht die Situation, dass einer zur Bespaßung der anderen dient. Viel eher entsteht ein immer dichter werdendes Geflecht aus Beziehungen und Konflikten, in das jeder Teilnehmer hineingesaugt wird.

Wer Vampire Live spielt und bei jedem Spielimpuls zuerst Begründungen findet, weshalb der eigene Charakter nicht reagieren muss, verweigert sich letzten Endes dem Spiel. In vielen Gruppen sind es gerade die mächtigen älteren Charaktere, die in ihrem Elfenbeinturm sitzen und unangreifbar sind. Doch gerade so geht viel im Spiel verloren: Auch, wenn ein Vampir ein potentiell unsterbliches Wesen ist und einige Charaktere schon ein gewisses Alter erreicht haben, sind sie keine gefühllosen Wesen. In ihrem Inneren brodelt eine Bestie, die sie immer weiter pervertiert und nahe unter einer (meist) kontrollierten Oberfläche lauert. Affekthandlungen, Rache wegen kleinster Beleidigungen, grausame Spiele mit den Gefühlen anderer, um die eigene Langeweile zu bekämpfen, das Suhlen in eigenen Niederlagen, um endlich wieder etwas echtes zu Empfinden – all das und mehr treibt gerade die alten Vampire an.

Nein, play to lose gehört nicht zum Vampire Live

Zumindest nicht, wenn man nur verliert, um anderen dramatische Szenen zu geben. Um den Niedergang des eigenen Charakters wirklich nachempfinden zu können, muss der Fokus auf dem eigenen Spiel mit der eigenen Niederlage liegen dürfen. Den eigenen Charakter für den Spielspaß der anderen verlieren zu lassen führt schnell dazu, dass man selbst zum Statisten wird, der nur noch die anderen bespaßt.

Gleichzeitig werden emotionale Momente und die Erfolge der anderen Charaktere entwertet: Sie fanden schließlich nicht statt, weil die anderen gut waren oder den richtigen Auslöser für eine emotionale Reaktion gefunden haben, sondern nur weil man selbst sowieso reagiert hätte, um eine dramatische Szene herbeizuführen.

Jeder Darsteller sollte die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, wie intensiv er auf welche Spielangebote eingeht. Erst durch die Differenzierung zwischen Impulsen, die seinen Charakter sehr treffen, und solchen, die ihn kaum berühren, kann ein persönliches Spiel entstehen. Der Versuch auf alles intensiv zu reagieren würde das Spiel verwaschen.

Auch sollte die Darstellung von Schwächen halbwegs logisch sein: Der Darsteller versucht vielleicht, möglichst viele Charaktere einzubeziehen. Aber ein Vampir weiß, dass er kaum sehr alt werden wird, wenn er wahllos seine Schwächen offenbart, damit sich ein großes Drama ereignen kann. Das heißt nicht, dass andere Charaktere nicht in Ausbrüche und Schwächen eingebunden werden sollen, aber dies muss sich aus der Motivation und Situation des Charakters heraus ergeben und nicht bloß aus dem Wunsch des Darstellers.

Ein vielschichtiger Charakter mit Stärken, Schwächen und insbesondere Zielen und der Motivation diese zu erreichen, wird in einem Spiel mit anderen solchen Charakteren automatisch auch verlieren. Wenn alle Teilnehmer treu ihrem eigenen Charakter folgen, entstehen von selbst Konflikte und Niederlagen. Gleichzeitig fordert dies alle Darsteller heraus: Wenn der eigene Charakter gegen andere vorgehen will, muss er sich bemühen, ihre Schwächen in Erfahrung zu bringen. Er bekommt sie nicht auf dem Silbertablett serviert, weil seine Mitspieler möglichst viele Angriffspunkte bieten und so dramatisches Spiel fördern wollen, sondern muss sich selbst bemühen. Schafft er dies, kann er seinen Mitspielern intensive Szenen ermöglichen – schafft er dies nicht, muss er mit dem eigenen Scheitern zurechtkommen.

Soll man absichtlich dumm spielen?

Damit Vampire Live nicht zu einem Wettlauf ums Gewinnen verkommt, muss natürlich die Bereitschaft vorhanden sein, den eigenen Charakter auch in dessen schwachen Moment bis zum bitteren Ende zu spielen. Aber zugleich muss es jedem Darsteller erlaubt sein, seinen Charakter schlau zu spielen und ihn nicht bloß in dumme Situationen zu bringen, damit andere intensives Spiel haben können.

Absichtlich dumm zu spielen, obwohl der Charakter es besser weiß, führt zwar meist zu sehr intensiven Szenen, aber auch schnell zu Unzufriedenheit: Der Spieler, der seinen Charakter etwas Dummes tun ließ, erwartet, dass seine Mitspieler darauf reagieren, denn immerhin hat er seinen Charakter dafür geopfert. Seine Mitspieler fühlen sich mitunter unter Druck gesetzt reagieren zu müssen, obwohl dieser Spielimpuls sie vielleicht gar nicht tangiert.

Um dieses Problem zu vermeiden, ist es wichtig, deutliche Schwachpunkte im Charakter einzubauen. Hat zum Beispiel ein alter Vampir eine (bekannte) Schwäche für sehr junge Vampire, muss der Darsteller sich nicht dumm stellen, wenn ein junger Vampir eine offensichtliche Intrige gegen seinen Charakter beginnt. Stattdessen kann der junge Vampir sich bemühen, die Schwäche des alten Vampirs auszunutzen.

Absichtlich etwas Dummes zu tun spielt sich auf der intellektuellen Ebene ab. Einer Schwäche des eigenen Charakters treu zu bleiben, auch wenn dies objektiv betrachtet ein Fehler ist, betrifft die emotionale Ebene. Für ein intensives Spiel aller Beteiligten bringt es also mehr, bewusst Schwächen in einen Charakter einzubauen und auszuspielen, statt zu entscheiden, regelmäßig etwas Dummes zu tun.

Verlieren ist individuell und persönlich

Keine zwei Charaktere verlieren auf die gleiche Weise. Der eine sucht die öffentliche Demütigung, der nächste den Verlust einer geliebten Person, der dritte will sich in einen Wahn hineinsteigern und darin verlieren und ein anderer erleben, dass all seine Pläne wieder und wieder scheitern. Manche Darsteller müssen tief in die krassesten Situationen eintauchen, während anderen deutlich sachtere Konflikte vollkommen ausreichen. Manche haben bereits viel im Spiel erlebt und sind sehr reif was Konflikte angeht, andere stehen noch ganz am Anfang dieser Erfahrungen. Und dann gibt es noch diejenigen, die sich nicht darum scheren, wer den Niedergang ihres Charakters erlebt, und solche, die sich nur fallen lassen können, wenn sie mit vertrauten Personen spielen.

Jeder einzelne dieser Ansprüche hat seine Berechtigung. Und gerade dies ist das Spannende am Verlieren im Vampire Live: Es gibt nicht die eine einzig wahre Art zu verlieren, die von außen messbar ist. Ob ein Verlieren gut war oder nicht, kann stets nur der betroffene Darsteller selbst sagen. Denn letzten Endes kann nur er in seinen Charakter hineinfühlen.

Fluch und Segen

Dieses Ausmaß an Individualität ist Fluch und Segen zugleich. Ein Segen, weil es alle Beteiligten immer wieder mit etwas Neuem konfrontiert. Jeder neue Darsteller bringt eigene Ansprüche und Vorstellungen mit, und jeder neue Charakter tickt anders als alle anderen. Man ist also niemals fertig damit, mit anderen zu verlieren, sondern kann immer wieder neue Facetten des Spiels erleben.

Gleichzeitig bringt diese Individualität auch oft Frustration mit sich. Die Unterschiede in den Erwartungen werden immer wieder als Unfähigkeit des Gegenübers interpretiert, das Spiel zu begreifen. Frustration darüber, dass der andere „falsch“ reagiert, ist leider auch keine Seltenheit. Und manchmal passen die verschiedenen Spielstile einfach nicht zusammen: Wenn der eine auf der großen Bühne im Blick von allen scheitern will und der andere den persönlichen, privaten Untergang sucht, gibt es nicht viele Berührungspunkte.

Verlieren muss gefördert werden

Gerade weil es ein sehr persönlicher Prozess ist zu verlieren, müssen auch außerhalb des Spiels die richtigen Bedingungen geschaffen werden. Gespräche und Workshops sind eine gute Möglichkeit, alle Beteiligten auf den gleichen Wissensstand zu bringen und auch Neueinsteigern in der Gruppe nahezubringen, weshalb das Verlieren im Vampire Live so wichtig ist.

Aber damit alleine ist es nicht getan. Auch die Stimmung in der Gruppe muss stimmen. Fühlen sich einzelne Spieler ausgegrenzt oder von oben herab behandelt, nimmt dies die Motivation, im Spiel eine Schwäche zu spielen.

Hier ist gerade von den erfahreneren Darstellern Geduld und Rücksicht gefragt. Nicht jeder kann auf eine mehrjährige Erfahrung zurückblicken was das Verlieren im Spiel angeht, sondern wagt sich gerade erst an dieses Thema heran.

Verlieren ist nicht das neue Gewinnen

Im Spiel zu verlieren darf nicht das sonst oft im LARP zu findende im Spiel gewinnen ablösen. Gerade bei dem immer sehr persönlichen Niedergang des eigenen Charakters geht es um das gemeinsame Erleben eines intensiven Moments und nicht um den Wettbewerb, wer häufiger, intensiver und mit Einbindung der meisten Charaktere verliert.

Darsteller, die außerhalb des Spiels damit angeben, wie oft ihr Charakter bereits verloren hat und wie oft sie ihn für das Spielerlebnis von allen geopfert haben, unterscheiden sich nicht von den Spielern, die gerne damit angeben, wie viele Gegner ihr Charakter bereits besiegt hat. Der Fokus liegt in beiden Fällen nicht mehr auf dem Spielerlebnis, sondern auf dem gegeneinander Aufrechnen der eigenen Spielleistung und der der anderen. Die Grundhaltung ist in beiden Fällen „Ich bin besser als ihr, weil…“.

Dauerhafte Eskalation laugt aus

In Vampire Live Gruppen, die ein kontinuierliches Spiel aus mehr oder weniger regelmäßigen Treffen pflegen, führt permanente Eskalation nach kurzer Zeit zur Erschöpfung. Wenn es auf jedem Treffen zu einem dramatischen Niedergang kommt, wird dies nicht nur vorhersehbar, sondern auch anstrengend bis zu dem Punkt, an dem der Spielspaß verloren geht.

Um eine Abnutzung zu verhindern, ist es wichtig, mit Spannungsbögen zu arbeiten und auf Abwechslung zu achten: Auf intensive und laute Phasen, in denen viel zerschlagen wurde, folgen ruhigere Episoden, in denen die Charaktere ihre Scherbenhaufen aufkehren und ihre Wunden lecken. Auch sollte ein Niedergang nicht (nur) schnell vonstattengehen, sondern sich über einen längeren Zeitraum entwickeln, bis er schließlich in seinem Höhepunkt gipfelt.

Akzeptiere die (Nicht)Reaktion der anderen

Wenn du dir Mühe gibst, eine intensive Szene für andere Charaktere vorzubereiten, und diese nicht so reagieren, wie du es dir vorgestellt hast, ist das nicht nur im Vampire Live frustrierend. Tu dir aber selbst den Gefallen und ärgere dich nicht zu sehr darüber. Es kann unzählige Gründe dafür geben, weshalb der andere nicht reagiert hat: Vielleicht hat er deine Handlung nicht mitbekommen. Vielleicht reagiert er, aber nicht vor dir, sondern vor anderen. Vielleicht hast du ihn nicht richtig eingeschätzt. Vielleicht kann er mit deinem Spielimpuls nichts anfangen.

Nimm es als Motivation herauszufinden, wie du ihn das nächste Mal zu einer Reaktion bringen kannst. Und trage deine Frustration ins Spiel, wo du sie als persönliche Niederlage ausleben kannst. Denn so hast wenigstens du selbst Spiel, auch wenn ein anderer nicht auf dich reagiert.

Gib deinem Gegenüber Hinweise

Du spielst mit einem anderen Charakter, der offensichtlich versucht, dich zu einer Reaktion zu drängen, aber es einfach nicht schafft dich zu bewegen? Dann sei so nett und gib ihm im Spiel den Hinweis, dass er sich vollkommen verrennt. So nimmst du ihm die Frustration, dass du nicht auf sein Spiel eingehst, und motivierst ihn gleichzeitig, etwas Anderes zu versuchen – woraus ein spannendes Spiel für euch beide entstehen kann.

Als Hinweis können schon Sätze wie „Wie lange wollen Sie noch versuchen, mich damit zu provozieren?“ oder „Sie erkennen schon, dass Sie mit diesen Fragen nichts erfahren werden, oder?“ reichen. Sie zeigen deinem Mitspieler, dass du ihn wahrnimmst und reagierst, aber sein Ansatz dich nicht auf einer persönlichen, emotionalen Ebene berührt. In allen Fällen bringt ein solcher Hinweis mehr Spiel, als mit den Schultern zu zucken und sich abzuwenden.

Fazit

Verlieren ist ein essentieller Bestandteil im Vampire Live. Egal, was ein Charakter auch erreichen mag, es geht immer mit einem wie auch immer gearteten Verlust einher: seine Menschlichkeit, seine Ideale, eine Liebe. Auch alte und sehr alte Charaktere sind nicht davor gefeit kläglich zu verlieren. Damit ein intensives Spiel entstehen kann, muss jeder Darsteller die Bereitschaft mit sich bringen, seinen Charakter verlieren zu lassen. Wer sich unangreifbar gibt, frustriert nicht nur seine Mitspieler, sondern nimmt gleichzeitig auch sich selbst viele Möglichkeiten im Spiel.

Ob jeder Darsteller angehalten ist, bewusst möglichst viele Charaktere einzubinden und die Schwächen seines Charakters öffentlich zu präsentieren, oder ob sich jeder Charakter die Schwachpunkte der anderen selbst erarbeiten muss, hängt dabei vom Stil der jeweiligen Gruppe ab. Beide Ansätze haben ihre Berechtigung. Es gibt kein definitives richtig oder falsch, sondern viel Raum um sich auszuprobieren und zu diskutieren.

Artikelbild: Dennis Skley, Flickr (CC-Lizenz, resized)

 

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