Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Wenn ein Kampftroll und ein Elfenmagier aus Berlin auf einen menschlichen Auftragskiller und einen Strippenzieher aus Island treffen, lesen wir kein Intro zu den wahnwitzigen Vorstellungen eines Fantasy-Drehbuchschreibers, sondern gucken auf vier PC-Bildschirme und vier Köpfe unter Headsets: willkommen im Pen&Paper des 21. Jahrhunderts!

„Roll initiative. You’re about to die!“

Das Geräusch von einem über den Boden schrapenden Stuhl tönt aus meinen Kopfhörern. Dagur fragt: „What did I miss?“ – „Was hab’ ich verpasst?“ Hallgrímur antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Roll initiative. You’re about to die!“. Wir, die zwei übrigen Spieler, können uns das Lachen nicht verkneifen. „Würfel‘ Initiative, du stirbst gleich.“ In den Kopfhörern klingen leise klackerndes Getippe und Mausklicks. Gespanntes Warten, dann: „That’s five hits.“ – „Fünf Treffer. Du bist schneller als der Erdgeist.“ Freitagabend halb neun in Berlin, drei Bezirke voneinander entfernt, sitzen zwei vor ihren Computern, neben sich Bier, Kaffee, Zigaretten. In den Zimmern herrscht Stille bis auf das gelegentliche Tippen und das Klicken der Maustasten. Knapp 3000 Kilometer (Luftlinie) und ein Meer entfernt sitzen ebenfalls zwei vor ihren Rechnern. In Reykjavik, Island, gucken sie auf dasselbe Motiv auf ihren Bildschirmen, neben den PCs stehen ein Teller Nudeln, Bier, Kaffee.

Berlin 2015 bei Nacht – LA 2076 am Abend

Vor den Fenstern blinkt, hupt und pulsiert die Stadt. Pulsieren zwei Städte. Freitagabend eben; Restaurants, U-Bahn und Bus Richtung Kneipenviertel sind voll. Doch in Berlin wie auf Island bleiben die bunten Großstadtlichter draußen vor den Fenstern dieser vier Wohnungen. In meinem Wohnzimmer, in Pankow, ist es still. Mein Mitbewohner ist ausgeflogen, die Räume sind dunkel. Vom Straßenlärm bekomme ich nichts mit. Ich weiß, dass es bei Aaron an diesem Abend ähnlich ist. Aus einem der Zimmer in Reykjavik hört man im Hintergrund Hundegebell und ab und zu Stimmen. Wie in dem Moment, als Hal sein Abendessen an den Tisch geliefert bekommt. Kurz bevor er uns mit dem Erdgeist konfrontierte, haben wir ihm noch per Chat einen guten Appetit gewünscht. Wir, das sind in Berlin Aaron und ich, in Reykjavik Dagur und Hal (Hallgrímur), sind gemeinsam in einer Welt verschwunden, die an diesem Abend nur in unseren Köpfen existiert. Verbunden via Skype und Roll20, einer Website, die Würfel und Spielbrett zur Verfügung stellt, haben wir das Shadowrun-Universum betreten. Hal, unser Gamemaster, lässt die Szenerien entstehen, gibt Informanten, Auftraggebern und Gegnern ihre Stimmen und ihren Charakter. Im Grafikfeld auf Roll20 schiebt er kleine Spielfiguren hin und her, malt Geländepläne und schickt manchmal Links zu Bildern oder Grafiken, um Gegenstände oder Szenen besser skizzieren zu können. Nach drei Stunden sind nicht bloß der Erdgeist besiegt, ein Artefakt geborgen und Karma verdient, auch die Bekanntschaft mit den Isländern ist wieder ein Stückchen gewachsen. Gesehen habe ich die beiden bis dato noch nie.

Mach’ mal Charisma auf sieben

Weniger Kilometer, nur etwa 600, liegen zwischen mir, Frank und Tom. Wir sind bisher nur zu dritt, aber einen passenden Termin für den DSA-Spieleabend in zwei Städten zu finden erweist sich trotzdem als schwerer, als die Terminfindung mit den Isländern. Das mag daran liegen, dass wir drei zum einen im selben Land leben und uns zudem auf Cons treffen. Vielleicht ist der Druck, gemeinsame Termine zu finden, deswegen nicht so hoch. Man sieht sich ja. An langen Winterabenden, wenn die letzte Taverne schon wieder einen Monat her ist, und noch viele Wochen vergehen müssen, bis die Open Air-Cons beginnen, ist es trotzdem gut, gegen den Con-Blues, gemeinsam durch dunkle Gassen zu irren oder sich mit größenwahnsinnigen Blutmagiern zu prügeln. Deswegen haben wir ein paar Abende gefunden, an denen wir spielen.

Deswegen sitze ich an einem Februarabend an meinem Schreibtisch, Kopfhörer auf, und klicke mich durch ein Programm mit dem schönen Namen Heldensoftware, um meinen Charakter für eine DSA-Kampagne zu bauen. Erst am Abend vorher habe ich mich mit Aaron in einer Kneipe in Kreuzberg getroffen, um zwischen Bier und etwa 20 PDFs meinen neuen Shadowrunner zusammenzustellen. Das Umschalten ist nicht ganz einfach.

„Mach mal Charisma auf sieben“ sagt Tom in meinen Kopfhörern und holt mich zurück aus meinen Grübeleien, wieso ich meiner Shadowrun-Louise eigentlich den Nachteil „Stimmungsabhängige Haarfarbe“ gegeben habe. Allein die Session zum Charakterbau dauerte Stunden, weil wir in den Gesprächen immer wieder abdrifteten zu Spielszenen aus vergangenen LARP Die Welt des schwarzen Auges ist mir nicht allzu vertraut, deswegen schmückt Tom seine Antworten auf Regel- und Charakterbogenfragen mit Anekdoten aus. Anekdoten und Gleichnissen, die ich kenne, weil sie sich auf einen Kosmos beziehen, der mir vertraut ist. Denn es ist die Welt Mythodeas, in der wir uns begegnet sind.

Tausche Skype gegen Stoffmarkt

Aaron, Dagur und ich haben die heimischen vier Wände gegen eine Kneipe in Kreuzberg getauscht. Dagur ist mit seiner Freundin zu Besuch in Berlin. Vorfreude und Spannung sind groß. Hat man überhaupt etwas zu reden, wenn man nicht gemeinsam unterwegs ist, um Pseudozombies und Orks zu töten? Tatsächlich verrinnt die Zeit an dem Abend ebenso schnell und unbemerkt wie bei einer spannenden Kampagne. Es ist Frühjahr in Berlin, kalte Aprilsonne strahlt durch den Dunst. Mit Frank und noch einem Freund aus Leipzig bin ich auf dem Weg, den Kopfgeldjäger aus Island zu treffen. Letzte Woche noch hat sich Dagur am Ende der Session nicht mit dem üblichen „Good night“ verabschiedet, sondern mit einem fröhlichen, weil eben so unüblichen „See you guys next week.“ – „Bis nächste Woche.“ Also treffen sich ein Kampftroll (ich), ein Kopfgeldjäger (Dagur) und ein Untoter (Frank) auf dem Stoffmarkt. Ich würde mich nicht wundern, wenn es irgendwo einen Insiderwitz gibt, der mit so einer oder einer ähnlichen Formulierung beginnt. So laufen wir über den Markt, gucken Stoffe und Dagur fragt uns über das ConQuest im August aus. Er lauscht den Storys von leibhaftigen Orks, ausgeschmückten Zeltstädten und nächtlichen Lagerfeuern.

Frank erzählt von den Dänen, die in einer großen Reisegruppe seit Jahren zum ConQuest „So wie du das erzählst, klingt das beeindruckend“, sagt er zögernd, aber ihm sind Pen&Paper – vorerst – lieber. Damit klingt er selbst wie Christian, ein alter Bekannter aus der Schweiz, den ich zu Studienzeiten kennengelernt habe, in einem Forum für LARP-Interessierte. Auf der Suche nach Spielern, die ebenfalls geographische Grenzen überwinden, habe ich ihn angeschrieben. Und ja, tatsächlich: Im letzten Jahr haben es Freunde geschafft, ihn weg von Computer und virtuellem Würfelbecher hin zu Endzeit-Kulisse und echten Gegnern zu locken. Unter den Teilnehmern, einem Freundes- und Bekanntenkreis von um die 30 Personen, seien Deutschland, die Schweiz, England und Russland vertreten gewesen, erzählt er begeistert. „Ich hab mich gefühlt wie auf dem ESC (Eurovision Song Contest).“ Ich nicke, auch wenn er das nicht sehen kann: wir skypen, seine Webcam ist kaputt. Zu einem meiner ersten LARPs kamen die Spieler aus ganz Deutschland angereist. Bundesweit verstreute Teilnehmer scheinen das geographische Mindestmaß zu sein, wenn es um solche Events geht.

Sprungbrett, Kuschelecke und Wartezimmer

Der Winter ist lange vorbei, seit ein paar Wochen läuft die zweite Shadowrun-Kampagne, selbe Besetzung mit den Isländern, diesmal Tel Aviv statt San Francisco. Außerdem lässt Tom Frank und mich seit dem Frühjahr durch die Gassen von Andergast rennen, stellt uns übellaunige Zwerge und durchtriebene Diebe in den Weg.

Indes, es ist Sommer. Sommerzeit und volle Wochenenden machen es schwieriger, Termine zu finden. Sommer meint außerdem Conzeit. Im Mai habe ich Berlin verlassen, um zum Jenseits der Siegel zu fahren, einer Con, die in der Welt Mythodeas stattfindet. Es ist eine von dreien, die von der Firma Live Adventure jährlich veranstaltet werden.

Vier Tage Parallelwelt, die nicht zwischen Headset und PC-Bildschirm sowie in meiner Fantasie entstehen muss, sondern mit echter Kulisse und lebenden Gestalten aufwartet. Vier Tage, in denen die Stimmen, die einem nächtelang von Erdgeistern und hakennasigen Hafenarbeitern erzählen, Gesichter bekommen. Am Abend vor Spielbeginn sitze ich mit Tom und Frank am Lagerfeuer. Wo sonst. Wir reden über DSA und grübeln, wieso es uns nicht gelingt, einen regelmäßigen Spieletermin zu finden.

Ich kenne Tom seit nicht mal einem Jahr. Unsere Bekanntschaft ist den, wie ich mittlerweile weiß, umgekehrten Weg gegangen: von der analogen Welt in die virtuelle. Vom LARP zum Pen&Paper, so man ohne Massenumfrage überhaupt von einer Ausnahme sprechen kann. Vorgestellt hat uns Frank, der Tom ebenfalls übers LARP kennengelernt hat und mit ihm seit bald fünf Jahren DSA spielt.

Shadowrun und DSA waren mein Sprungbrett ins LARP“, erzählt Frank. „Im Jahr 2003 hab’ ich angefangen. Einen Elf habe ich da gespielt, wenn ich mich richtig erinnere. Da war ich 19.“ Bis heute hat er in mehr als 60 Kampagnen mitgespielt. Tom stochert in den glühenden Holzscheiten, schickt Funkenschwärme zum Himmel. Der erste Kontakt zur LARP-Szene sei über einen hässlichen dicken Zwerg entstanden, sagt Frank grinsend. Ein grantiger Zwerg, der von einem überhaupt nicht grantigen Holländer gespielt wurde und der Frank spontan zu einem kleinen LARP in Niedersachsen eingeladen hatte. Das ist bald zehn Jahre her.

Aaron aus Berlin hat Hal und Dagur schon in der virtuellen Welt kennengelernt, im Star Wars-Imperium, wie Aaron erzählt, vor sechs Jahren. Wenn Pen&Paper für Frank das Sprungbrett ins LARP war, dann sind sie für mich das Wartezimmer, in das ich mich mit Gleichgesinnten setze, um die Zeit zwischen Cons zu überbrücken. Ein guter Ort außerdem, um auch mit mir noch fremden Menschen ins Gespräch zu kommen.

Darüber hinaus sind sie Kuschelecken. Weniger im niedlich- oder vertraulich-plüschigen Sinne als im metaphorischen. Es ist ein bisschen dunkel und gemütlich, weil jeder zu Hause bei sich in den eigenen vier Wänden sitzt und sich in geschütztem Raum neuen Bekanntschaften annähern oder bereits bestehende Bekanntschaften ausbauen kann.

Fünftes Zelt links hinter der Baumreihe

Statt einer IP-Adresse klang meine Adresse – vorübergehend – in etwa so. Anfang August trafen Frank und ich unseren Gamemaster wieder, „in der echten Welt“, wie wir sagen, „nicht bloß im Skype“. Echte Welt, das hieß hier Kelriothar und dorthin kamen nicht nur wir, sondern tausende andere Spieler, die am ConQuest of Mythodea Die Isländer waren nicht dabei, dafür aber Christian. Den habe ich bis dahin seit bald zehn Jahren nicht gesehen. Die Zeit wurde uns nicht lang. Er hat einen Freund aus England mitgebracht, der seit ein paar Jahren in der Schweiz lebt. Wir haben uns auf Anhieb verstanden. Besagter Freund spielt seit einem halben Jahr einen Cyborg-Kampftroll. Und die Gruppe sucht noch einen Mitspieler …

Artikelbild: Catalyst Game Labs

 

 

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein