Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

„Ab Irato“ ist Latein und bezeichnet einen Zustand des Zornes als Begründung für möglicherweise unüberlegte Handlungen. Ab Irato ist auch der Titel einer dreibändigen Reihe von Graphic Novels des französichen Zeichners und Autors Thierry Labrosse, die jetzt von Splitter jetzt als deutscher Sammelband veröffentlicht wurde. Der Titel ist gut gewählt, denn fast jede Handlung in der Geschichte ist auf die eine oder andere Weise von Zorn motiviert, und es ist nicht immer klar abzugrenzen, ob ein Charakter jetzt eigentlich gut oder böse ist.

Labrosse greift dabei in der Geschichte mehrfach auf derzeit aktuelle Themen zurück und stellt diese oder ihre Auswirkungen überspitzt dar. Dadurch zieht er den Leser schnell in seine Welt, ohne viele Erklärungen anbringen zu müssen.

Handlung

Montreal im Jahre 2111. Die Firma Jouvex hat es geschafft, einen Impfstoff gegen das Altern zu entwickeln, der bis zu 200 Jahre Lebenszeit verspricht, und vermarktet diesen an alle, die ihn sich leisten können. Mit dem so verdienten Geld nimmt Jouvex Einfluss auf die Politik.

In den Straßen der Stadt schwelt derweil ein Bürgerkrieg: Montreal ist ein Sammelbecken für Menschen, die sich von Versprechungen der Werbung in die Stadt locken lassen und dann dort auf den Straßen stranden. Aus den Reihen der ärmeren Bevölkerung hat sich eine Rebellengruppe hervorgetan, die gegen die derzeitige Ordnung angeht. Noch ist der Konflikt nicht eskaliert, aber die Medien berichten bereits eifrig über die Rebellen.

Die Handlung entspringt mehreren scheinbar eigenständigen Strängen, die sich im Laufe der Geschichte zu einem Gesamt-Plot vereinen. Alles beginnt, als sich der Landarbeiter Riel ebenfalls aufmacht, sein Glück in der Stadt zu suchen.  Bereits bei seiner Ankunft in Montreal wird er Zeuge der Beinahe-Verhaftung von Gana, einer offensichtlich kampftrainierten Frau. Diese wird eines Attentates auf den Kopf hinter Jouvex, den Industriellen Norton,  verdächtigt – dieser hat sich während des Aufstiegs seiner Firma wohl nicht nur Freunde gemacht.  Im weiteren Verlauf lernt er den Polizisten Chogan kennen, dem er in seiner Naivität zur Hilfe kommt und sich damit unbewusst zwischen die Fronten begibt. Später trifft er in  seiner Herberge auf Neve und die beiden verlieben sich auf den ersten Blick. Ab hier nimmt das Schicksal seinen Lauf.

Obwohl die Geschichte in vielen verschiedenen Strängen erzählt wird, ist es nicht schwer, ihrem Verlauf zu folgen. Die Charaktere wirken glaubwürdig, die Handlungen nachvollziehbar und die Konsequenzen, vor dem jeweiligen Hintergrund gesehen, logisch. Es wird schnell klar, dass alles irgendwie zusammenhängt, trotzdem bleibt es bis zur Auflösung im dritten Band spannend zu lesen. Lediglich die Auflösung und der Epilog sind für meinen Geschmack etwas kurz geraten, hier wirkt der Erzählstil etwas gehetzt, als hätte  Labrosse Angst, dass ihm mittendrin die verfügbaren Panels ausgehen könnten. Auch passt das Ende, meiner Meinung nach, nicht so gut in das dystopische Setting dieser Graphic Novel. Interessant gemacht ist, dass die Geschichte zwar in der Erzählung hauptsächlich Riel folgt, sich jedoch eigentlich um Gana dreht.

Labrosse verzichtet auf unnötige Action. Natürlich gibt es auch in Ab Irato Action-Sequenzen, gerade im Umfeld von Gana, Chogan oder den Rebellen sind diese nicht immer zu vermeiden. Wenn die Action im Comic eskaliert, fokussiert Labrosse die Erzählung meist auf einen oder zwei Charaktere, damit dem Leser nicht die Übersicht verloren geht. Alle Action-Sequenzen haben ihren Platz in der Geschichte und fühlen sich an, als ob sie dort ganz natürlich hingehören – und mehr als einmal lösen die Charaktere eine Situation auch ganz ohne übertriebene Action auf.

Da der Sammelband alle drei Bände enthält, ist die Geschichte abgeschlossen und lässt sich am Stück lesen.

Charaktere

Die Geschichte folgt mehreren Protagonisten: Zum einen sind da Riel und Neve, sowie der Polizist Chogan. Bei der designierten Attentäterin Gana weiß man anfangs nicht so recht, auf welcher Seite sie steht. Ihnen allen steht als Antagonist der Großindustrielle Norton, exzentrischer Chef von Jouvex, gegenüber.

Riel hat gerade erst beschlossen, das Landleben zu verlassen und in die Stadt zu ziehen, als er direkt bei der Ankunft in die Geschehnisse hineingezogen wird. Der anfangs naive junge Mann entwickelt sich im Laufe der drei Bände zu einer starken Persönlichkeit, und Labrosse lässt den Leser an dieser Entwicklung teilhaben.

Neve wohnt in der Herberge, in der sich Riel einmietet. Die beiden begegnen sich auf dem Gang und verlieben sich auf den ersten Blick. Ein Rebellenangriff reißt die beiden wieder auseinander, und von da an nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Neve wird zur treibenden Kraft für weitere Aktionen von Riel, allerdings ist ihr Charakter nicht auf diese Funktion reduziert. Trotz vieler eigener Szenen ist Neve aber leider der schwächste Charakter im Comic.

Detective Chogan liefert sich direkt bei seiner Einführung ein Gefecht mit den Rebellen, in dessen Verlauf er ausgerechnet von Riel gerettet wird. Dadurch entwickelt sich eine Mischung zwischen Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen den beiden, die Chogan mehr als einmal zur Entscheidung zwischen Moral und Prinzipien stellt. Chogans Charakter verändert sich dadurch im Verlauf der Geschichte merklich, wobei jeder Schritt nachvollziehbar bleibt.

Die Motive von Gana liegen lange Zeit im Dunklen. Es sieht so aus, als ob eine Verrückte es auf den einflussreichen Norton abgesehen hat und alles tut, um ihn aus der Welt zu schaffen. Die Motive werden im Verlauf des Comics klarer, allerdings möchte ich sie hier nicht verraten und auch offen lassen, ob sie nun zu den Guten oder zu den Bösen gehört. Nicht so gut gefallen hat mir, dass Gana als eine Art Superheldin überzeichnet wird, die mit so ziemlich allem fertig wird, was sich ihr entgegenstellt. Hier verschenkt Labrosse meiner Meinung nach viel Potential, weitere Spannung aufzubauen.

Charles Norton vermarktet mit dem Unternehmen Jouvex einen Impfstoff gegen das Altern und lässt sich von den Medien entsprechend feiern. Doch man merkt schnell, dass hinter der gütigen Fassade noch mehr steckt, und dass Jouvex die eine oder andere Leiche im Keller hat.

Die Rebellen sind eine Gruppe von Menschen, die sich gegen die in Montreal herrschenden Zustände auflehnen, sich dabei allerdings untereinander nicht ganz einig sind, wie sie dabei vorgehen sollen. Durch ihre Entscheidungen kippt die Lage im Laufe der Geschichte mehrfach, wodurch die Charaktere jeweils umdenken müssen.

Zeichenstil

Das Cover erinnert vom Zeichenstil gleichermaßen an Tomb Raider und Witchblade (Gezeichnet von Michael Turner) aus dem gleichen Hause. Die vermeintliche Heldin wird realistisch, dreckig und emotional dargestellt, was gut zum Titel passt.

Der realistische und dreckige Stil zieht sich auch durch den Rest des vollfarbigen Comics.  Dabei passt der Zeichenstil hervorragend zur dargestellten Handlung und variiert mit den dargestellten Charakteren. Ob es nun der noch unbescholtene, etwas naive Riel ist, oder aber ein abgestumpfter und jeglicher Hoffnung beraubter Bewohner der Straße, die Figuren und ihre Gesichter tragen die jeweilige Grundstimmung deutlich zur Schau.

Abseits von den Hauptcharakteren sorgen viele Hintergrund- und Szenendetails in den Panels für einen stimmigen Eindruck der beschriebenen dystopischen Welt.

Preis-/Leistungsverhältnis

Für 29,80 EUR bekommt man eine interessante und vor allem komplette Geschichte in einem Sammelband mit fast 170 vollfarbigen Seiten.

Erscheinungsbild

ab-irato-splitter-verlag-cover-reviewDas Buch im A4 Format ist auf schwerem Papier gedruckt und kommt in einem stabilen Hardcover-Einband. Dadurch macht es einen sehr wertigen Eindruck und auch im Regal eine gute Figur. Im Inneren erfreuen 168 nicht glänzende, vollfarbige Seiten in realistischem Zeichenstil das Auge, während die einfach lesbaren und gut angeordneten Texte den Leser zielsicher durch die Geschichte führen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Splitter Verlag GmbH und Co. KG, Bielefeld
  • Autor(en): Thierry Labrosse, Übersetzung: Marcel Le Comte
  • Zeichner(in): Thierry Labrosse
  • Erscheinungsjahr: 2016
  • Sprache: Deutsch
  • Format: A4 Hardcover
  • Seitenanzahl: 168
  • Preis: 29,80 EUR
  • ISBN: 978-3-95839-299-1
  • BezugsquelleAmazon

 

Fazit

Thierry Labrosse zeichnet in seiner Dystopie Ab Irato ein düsteres Bild der Zukunft. Die Geschichte folgt dem jungen Riel, der in einen Strudel von Ereignissen rund um den Jouvex-Konzern und die mysteriöse Attentäterin Gana hineingezogen wird. Die Geschichte ist interessant erzählt und bewegt sich in mehreren Handlungssträngen auf das Finale zu. Leider ist das Finale, im Vergleich zum restlichen Verlauf der Geschichte, etwas schwach erzählt, jedoch trotzdem noch passend.

Dem Comic kommt es zugute, dass Text und Zeichnungen aus einer Hand kommen, denn beide ergänzen sich perfekt. Die Charaktere sind gut getroffen und passend umgesetzt, und die Detailtiefe der einzelnen Panels erweckt die Welt abseits der Geschichte zum Leben. Auch die Übersetzung fügt sich hier nahtlos ein und wirkt wie aus einem Guss.

Mit Ab Irato liefert Thierry Labrosse eine überzeugende und lesenswerte Graphic Novel in drei Bänden ab, die Splitter zu einem geschlossenen Sammelband zusammengefasst hat.

Daumen4maennlichNeu

Mit Tendenz nach Unten

Artikelbilder: Splitter Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein