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Das LARP ist vorbei, der Alltag hat uns wieder, alles erscheint uns grau und trist, wir wollen zurück in die phantastischen Welten, die wir erkundet, in denen wir neue und alte Freunde und Feinde getroffen haben. Kurz: wir haben den LARP-Blues/Auswurfschock/die Post-Con-Depression. Vor allen Dingen viele Neulinge im Hobby sind immer wieder vom Auswurfschock überwältigt, aber auch „alte Hasen“ sind nicht vor ihm gefeit. Im folgenden Artikel möchte ich mich ein wenig damit auseinandersetzen, wie der Blues eigentlich entsteht. Ich werde zeigen, warum dieser für unsere Psyche notwendig ist, und was die natürlichen Bewältigungsstrategien sind, die wir und unser Geist anwenden, um mit diesem Schock klarzukommen. Das Meiste hiervon wird euch eventuell bekannt vorkommen, denn mindestens unterbewusst hat wohl jeder schon mal das eine oder andere angewendet. Anderes kann neu für euch sein und euch vielleicht helfen, in Zukunft besser mit dem Auswurfschock zurechtzukommen. Vielleicht bringt der Artikel auch der einen oder anderen Orga eine Idee, wie sie ihren Spielern helfen kann, besser mit den Erfahrungen umzugehen.

Doch zuallererst…

Was ist der Auswurfsschock eigentlich?

Das Leben fließt für jeden in einem bestimmten Fluss. Manchmal ist dieser schneller, mal langsamer und für jeden unterschiedlich, aber eins haben all diese Flüsse gemeinsam: sie fließen nicht so schnell wie ein LARP. Das liegt vor allem am Ziel eines LARPs, die Teilnehmer in (in der Regel) außergewöhnliche Situationen zu werfen. Fügt man hinzu, dass ein LARP einen sehr begrenzten Zeitraum zur Verfügung hat, um seine Inhalte zu transportieren, kommt man zum Schluss, dass die Frequenz, in der Eindrücke auf das Hirn einprasseln, sehr hoch sein muss. Mit Inhalten meine ich noch nicht einmal nur den Plot, sondern eigentlich alles, was unsere Charaktere, und damit wir, so erleben. Das Lösen von kniffligen Rätseln, das Entdecken von Geheimnissen, das Bezwingen von Gegnern, tiefgreifendes Charakterspiel oder auch nur das Sitzen am Lagerfeuer. All dies sind nicht alltägliche Dinge für uns (klar… dafür machen wir es ja) und während eines Spiels sind wir in der Regel viel zu sehr damit beschäftigt, die neuen Informationen, die in hoher Frequenz auf uns einprasseln, aufzunehmen und zu funktionieren, zu LARPen, als dass unser Geist diese alle angemessen verarbeiten könnte. Unser Geist wird quasi erst einmal mitgerissen von dem Tempo, welches das LARP ihm aufzwingt und wir geben ihm keine wirkliche Verschnaufpause.

Nach dem LARP wieder im trauten Heim angekommen, muss unsere Psyche zwei große Aufgaben bewältigen. Zuallererst muss sie wieder mit der normalen Geschwindigkeit des Alltags zurechtkommen, obwohl sie noch selbst in dem Tempo läuft, welches das LARP ihr aufgedrängt hat. Außerdem haben wir einen riesigen Berg an unverarbeiteten Informationen mitgebracht, die alle erst einmal verarbeitet werden müssen. Stück für Stück. Durch die interaktive Natur des LARPs und den sogenannten Bleed-out-Effekt (das Herausfließen von Erfahrungen und Emotionen aus dem Charakter in den Spieler hinein) haben nämlich nicht nur unsere Charaktere diese Erfahrungen gemacht, sondern auch wir haben gespürt, was unsere Charaktere gespürt haben. Dies ist ja auch Teil des Grundes, warum wir LARPen, anstatt ein Buch zu lesen, einen Film zu schauen, oder ein Tischrollenspiel zu spielen. Wir wollen mittendrin sein, anstatt nur dabei sein. Doch das hat eben auch die Konsequenz, dass unser Geist mit diesem Berg an Informationen erst einmal zurechtkommen muss. Und genau das versucht er während des LARP-Blues‘. Er verarbeitet die Informationen vom vergangenen Spiel.

Hierbei möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass das nichts Schlechtes ist. Das Gegenteil ist der Fall. Unser Geist versucht nur, ein unendlich erhöhtes Aufgebot an Informationen, welches er nicht gewohnt ist, zu verarbeiten. Im Grunde sind die beschriebenen Verhaltensweisen also etwas Gutes und Gesundes, da sie uns allen helfen, wieder zurück in die Realität zu kommen. Es ist quasi wie der Muskelkater und die blauen Flecke, die unsere Körper haben, wenn wir von einer Schlachten-Con zurückkommen.

Strategien des Geistes

Doch was macht der eigene Verstand denn nun genau, um die gesammelten Eindrücke eines LARPs zu verarbeiten? Diese Liste erhebt, wie immer, keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ich werde versuchen, sie zu ergänzen, wenn mir weitere Strategien auffallen oder zugetragen werden.

Flashback

Flashbacks basieren darauf, den Berg an Erfahrungen in kleine Stücke zu gliedern und diese dann einzeln zu verarbeiten. Dass die Gesamtheit einer Erfahrung nicht direkt zu verarbeiten ist, kann man am besten daran merken, wenn man direkt nach einem Spiel versucht, zu erzählen, was alles genau wann und in welcher Reihenfolge passiert ist. Es wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht funktionieren. Die Zeitebenen werden ineinanderfließen und man ist sich selbst nicht mehr sicher, was alles genau passiert ist und wann. Doch in den folgenden Tagen tauchen immer mehr Erinnerungsfetzen auf, die kommuniziert werden wollen. Dies ist ein gutes Zeichen dafür, dass der Geist mit der Verarbeitung vorankommt. Je intensiver die LARP-Erfahrung, desto länger und ausgeprägter ist der Prozess, diese Flashbacks aus dem Unterbewusstsein auftauchen zu lassen. Dies ist die einfachste und automatische Form der Aufarbeitung. Durch bestimmte Stimuli wie Gerüche, Geräusche oder Handlungen von Personen, die Ähnlichkeiten mit Szenen aus dem Spiel haben, werden diese verknüpften Erinnerungsfetzen hervorgerufen und im Geiste wiederholt. Die Flashbacks passieren vor allem häufig dann, wenn keine weiteren (bewussteren) Strategien genutzt werden, um den Informationsoverkill zu verarbeiten.

Anekdoten/Kriegsgeschichten

Anekdoten sind ein weiteres Mittel, die Erlebnisse des Spiels zu verarbeiten. Viele Spieler reden gern über einzelne Spielszenen mit anderen, ob diese Leute nun dabei waren oder nicht.

Sie erleben damit teilweise das Mindset neu, das sie in dem beschriebenen Moment hatten und reframen (eine Technik, in der bestimmten Fakten durch die Betrachtung unter bestimmten Gesichtspunkten neue Bedeutungen beigemessen werden) außerdem gleichzeitig ihre Erlebnisse, um diese neu zu verarbeiten. Da LARP allerdings leider nur ein temporäres Medium ist, und nur die dabei Gewesenen das Mindset wiedererleben können, sind viele Anekdoten, die für den Erzählenden durchaus wichtig sind, für Außenstehende nicht zu begreifen. Im Allgemeinen kennen wir diese „Da musst du dabei gewesen sein“-Geschichten selbst sehr gut. Sie dienen vor allem neben dem Wiedererleben der Szenen dazu, unsere Erlebnisse in den Augen der Zuhörer zu validieren und sie damit in unserem Geiste umzudeuten. Das wiederum ist der große Vorteil gegenüber den Flashbacks. Man ist nicht nur auf seine eigene Meinung angewiesen, sondern bekommt Feedback zu den Szenen von anderen, die einen beschäftigen, und verarbeitet sie so besser.

LARP-Fotos

Das Betrachten von LARP-Bildern als eigene Methode zu bezeichnen ist vielleicht etwas weit gegriffen, doch es ist zu beobachten, das diese in den letzten Jahren immer mehr Bedeutung gewinnen. Ich kann mir nur vorstellen, dass LARPer diese visuellen Stimuli nutzen, um, wie bei den Flashbacks und den Anekdoten, die Situationen wieder in ihrem Geist zum Leben zu erwecken und erneut, in kleinen Abschnitten, zu verarbeiten.

Abgrenzung vom Charakter

Während viele Menschen häufig versuchen, die Erlebnisse erneut im Geiste zu durchleben, ist eine andere Herangehensweise, sich von seinem Charakter abzugrenzen und sich wieder auf sich selbst zu konzentrieren. Das kann viele Formen annehmen, zum Beispiel das simple „sich etwas Gutes tun“, wie etwa ausgiebiges Baden oder Duschen, oder der allseits beliebte Realitätsschock mit dem Besuch eines Schnellrestaurants auf der Heimfahrt. Es kann aber auch etwas Komplexeres sein. Einige Leute grenzen sich bewusst von ihren Charakteren ab, indem sie beispielsweise Geschichten über ihre Charaktere schreiben. Epiloge zu den Ereignissen der Con, sozusagen. Das hat gleichzeitig den Effekt des Wiedererlebens als auch den der Abgrenzung, denn wenn der Charakter das Ganze verarbeitet und abschließt, tut dies auch der Spieler ein Stück weit. Wir verarbeiten das Spiel also, indem wir die Informationen in künstlerische Werke umwandeln. Diese können natürlich neben Geschichten auch Bilder, Videos oder Musikstücke sein. Dort gibt es keine Grenzen. Die wohl krasseren Elemente hiervon habe ich bisher nach LARPs beobachtet, die psychologisch ziemlich anstrengend für die Spieler und die Charaktere waren. Oft las ich in solchen Fällen davon, dass Spieler ihre Charaktere irgendwie aus ihrem Einflussbereich ziehen ließen in ihren Geschichten, sei es durch Dimensions-/Zeitreisen, das simple Unwissen über den weiteren Aufenthaltsort („und niemand hatte ihn je wieder gesehen“) oder, ultimativ final, den Tod. Immer wieder las ich, dass Spieler sich so irgendwie von ihren Charakteren verabschiedeten und sich final von dem Charakter abgrenzten.

Konsequenzen für uns selbst

Das ist ja alles gut und schön, diese Aufstellung gemacht zu haben. Doch was bringt uns das jetzt für die Zukunft? Zum einen sollte sich jeder bewusst werden, dass ein LARP, so sehr es auch Erholung von der Realität ist, anstrengend nicht nur für den Körper sondern auch für den Geist ist. Der Geist hat danach oftmals sehr viel zu tun, wir können uns aber entscheiden, ob wir ihm dabei helfen, oder nicht. Wir können entscheiden, ob wir rein unser Unterbewusstsein die Arbeit machen lassen und den Effekten quasi hilflos ausgeliefert sind, oder aber, ob wir bewusst steuern und vielleicht sogar etwas Produktives dabei herausfinden können. Das Wichtigste hierbei ist allerdings, dass wir die Prozesse erkennen, durch welche unser Geist funktioniert, um eventuell die richtigen Verhaltensweisen bewusst einzusetzen, mit diesen Gegebenheiten umzugehen. Bin ich eher der Typ, der gerne wieder und wieder die Erfahrungen wiederholt oder bin ich der, der sich selbst möglichst klar abgrenzen möchte? Dementsprechend kann ich schauen, dass ich meinen LARP-Blues steuere und vielleicht sogar verkürze. Kurz: Wie gehe ich individuelle und gesund mit meinem Geist um?

Konsequenzen für Orgas

Ich habe es bereits bei ein paar meiner früheren Artikel ausgeführt: Die Orga (und Spielleitung) sollte sich, besonders bei anspruchsvolleren Veranstaltungen, darüber im Klaren sein, welchem Stress sie ihre Spieler aussetzt. Das heißt auch, dass sie, wo es angebracht ist, ihren Spielern die Möglichkeiten geben kann und eventuell auch sollte, diesen Stress wieder abzubauen. Hierfür gibt es verschiedene Methoden, die teilweise wenig Aufwand benötigen, und eingesetzt werden können. Das Wichtigste ist, den Spielern einen sicheren Raum zu bieten, in dem sie ihren Stress verarbeiten können. Das heißt allerdings auch, dass man manchmal auf ein wenig Spielzeit verzichten muss. Nicht immer ist es dann möglich, bis Samstag tief in die Nacht zu spielen, sondern man sollte die Zeit vielleicht anders nutzen, um ein besseres Erlebnis für alle zu schaffen.

Das einfachste und am meisten genutzte Mittel ist eine Community. Seien es nun ein Forum, eine Facebook-Gruppe oder sonstige Varianten davon – den Spielern eines LARPs eine Plattform zu bieten, auf der sie sich austauschen, Erfahrungen wiedererleben und ihre Beiträge veröffentlichen können, hilft ungemein. Es ist die grundlegendste Form einer Selbsthilfegruppe, die man finden kann. Und das ist durchaus nicht negativ gemeint. Eine Community bietet nur und simpel die Plattform, die Leinwand, die die Teilnehmer nutzen können (und werden) um ihre Erinnerungen zu verarbeiten. Das hat den Vorteil, dass sie auch direkt mit Leuten in Kontakt stehen, die dieselben Erfahrungen gemacht haben wie sie.

Eine weitere Möglichkeit, die vor allem nach Nordic-LARPs gerne genutzt wird, sind Debriefings. Debriefings sind formelle Runden direkt im Anschluss an ein Spiel, in denen die Teilnehmer ihre Erfahrungen austauschen können. Hier wird daran gearbeitet, dass man die eigenen Emotionen und was einen beschäftigt verbalisiert und in sich selbst ein wenig strukturiert. Es ist eine etwas geordnetere Version der Anekdoten. Während diese meist ungeordnet und im Nachhinein entstehen und unbewusste Gefühle ausdrücken, versucht man in einem Debriefing in sich selbst zu horchen und miteinander zu kommunizieren, was einen beschäftigt und so die wichtigen und großen Stücke schon einmal zu adressieren und eventuell, so notwendig, zu reframen.

Eine dritte Möglichkeit, die Orgas haben, ist das sogenannte Deroling (von „role“). Hier wird das Spiel beendet und, oftmals mittels eines kleinen Textes, ähnlich wie bei einer Entspannungsübung der Übergang von der Spielebene zur OT-Ebene forciert. Die Spieler grenzen sich hier bewusst von ihren Charakteren ab und kehren vollends in ihre eigene Persönlichkeit zurück. Das ist vor allem bei sehr emotionalen Spielen hilfreich, wo eine Abgrenzung von den Emotionen und den Problemen des Charakters durchaus notwendig sein kann.

Auch wenn es hier im Text hauptsächlich um die Zeit (direkt) nach dem Spiel geht, möchte ich hier noch einmal den Safe-Room anbringen. Orgas sollten sich überlegen, ob sie nicht eine OT-Area auf ihrem Spielgelände einrichten wollen, wo Spieler sich aufhalten können, wenn ihnen der Informationsfluss im Spiel zu viel wird. Und ja, ich meine definitiv einen separaten Raum und nicht die Möglichkeit, dass sie sich in ihre Zelte zurückziehen können, die eigentlich IT-Gelände sind. Dort weitere Kleinigkeiten zum Wohlfühlen zu platzieren, wie beispielsweise Schokolade, Seifenblasen oder bequeme Sofas, rundet das Ganze ab.

Fazit

Unser Körper und unser Geist vollbringen Höchstleistungen auf einem LARP. Bei unserem Körper sehen wir den Stress, dem wir ihn ausgesetzt haben, schnell durch blaue Flecken, beim Geist erst im Nachhinein durch den LARP-Blues. Wir müssen erkennen, was wir uns dort zumuten und wie wir damit progressiv umgehen. Dieser Artikel kann und will hierfür kein Allheilmittel anbieten. Viel eher geht es darum, verschiedene Möglichkeiten und Strategien zur Stressbewältigung aufzuzeigen.  Der letztendliche Schritt, aus diesen Strategien etwas Produktives für uns selbst zu schaffen, muss von uns kommen.

Wir müssen selbst erkennen, welche der Varianten uns anspricht und welche nicht. Vielleicht hilft es, ein paar davon erst einmal bewusst auszuprobieren und sich mit anderen auszutauschen, wie sie mit dem LARP-Blues umgehen. Letztendlich ist es wie immer: Frage nicht, was dein LARP für dich tun kann…

Artikelbild: Mammut Vision | fotolia.de

 

3 Kommentare

  1. Kann ich so unterschreiben.

    Gerade bei dem sehr emotionalen Nordic-LARPs wie End of the Line war ich
    über das De-Briefing und auch den Safe-Room sehr dankbar.

    Nach einem Con nichts zu fühlen ist übrigens auch eine normale Reaktion.

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