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Earthdawn ist inzwischen ein Klassiker des Fantasyrollenspiels mit einer treuen Fangemeinde, zu der ich mich auch zähle. Einerseits sind hier die Regeln wie bei wohl keinem anderen System eng verknüpft mit den Besonderheiten der Hintergrundwelt. Anderseits empfinden manche Spieler genau diese Mechanismen aber auch als klobig und umständlich.

Das im vergangenen Sommer erschienene Earthdawn: The Age of Legend verspricht einen einfachen Zugang dank des narrativen Freeform/Universal-Regelgerüsts. War der Ersteindruck nach der Lektüre zunächst positiv, sollte sich das Spiel nun auch den kritischen Augen sowohl der langjährigen Fans als auch Neueinsteigern in der Welt von Earthdawn stellen. Würde Earthdawn: The Age of Legend also die Atmosphäre dieses Settings ohne große Regelhürden transportieren können?

Der erste Abend: Die Adepten

Ohne Charaktere kein Rollenspiel, und so war die erste der bisherigen Hangout-Runden zum Ausprobieren von Earthdawn: Age of Legend auch der Erschaffung der einzelnen Figuren gewidmet. Hier zeichnete sich bereits der Spagat ab, den das System zwischen dem komplexen Hintergrund einerseits und den narrativen Mechanismen andererseits vollbringt. Die speziellen Eigenschaften der verschiedenen Disziplinen sind in einer Fülle von Talenten abgebildet, die die Spieler erst einmal genauer studieren mussten, um ihre Auswahl zu treffen. Diese Selektion konnte ich allerdings vereinfachen, indem ich im Vorfeld ein halbautomatisiertes Charakterblatt in Excel erstellt hatte (Download auf meinem privaten Blog).

Mit den erzählerischen Elementen von Earthdawn: The Age of Legend konnten wir dann mit wenigen Stichworten die Hintergrundgeschichte und die Motivation der einzelnen Figuren festlegen. Aus meinen Vorstellungen für die anstehenden Abenteuer und den Einfällen der Spieler ergab sich schnell ein anregendes Hin- und Her an Ideen, von denen ich auch so manche in meine Pläne für das kommende Szenario übernehmen konnte. Am Ende der Hangout-Runde waren drei Adepten ausgearbeitet:

Tentakir Srinivan der Wunderbare, T’skrang Illusionist

Der Rumtreiber und unnütze Sohn eines einflussreichen Hauses bereist die Welt, um mit seinen Trugbildern wieder ein Lächeln auf die Gesichter der Namensgeber zu bringen. Lachen und Staunen sollen die Angst vertreiben, die die Dämonen gesät haben.

Iliya, menschliche Schwertmeisterin

Als Kind konnte sie einem Überfall von theranischen Sklavenhaltern auf ihr kleines Dorf entkommen, daraufhin fand sie Unterschlupf im Tempel der Passion Garlen inmitten der Hafenstadt Urupa. Der Groll auf die Theraner treibt sie bis heute an, in ihrer Disziplin möchte sie unbedingt die Beste sein.

Atchak, Troll Bogenschütze

Zusammen mit Iliya ist er als Kind aus seinem Heinmatdorf geflüchtet und die gemeinsame Vorgeschichte hat sie wie Geschwister zusammengeschweißt. Sein tiefer Hass auf die Theraner vernebelt oft sein Urteilsvermögen.

Beim folgenden Hangout-Abend, an dem auch das erste Mal richtig gespielt wurde, kamen noch zwei Charaktere hinzu, die im stillen Kämmerlein entwickelt worden waren:

Liejko, Windling Troubadour

Der quirlige Barde will die Welt bereisen und ihre Geschichten kennenlernen, um einmal die größte Legende Barsaives zu schreiben. Er ist ein Quell vieler Ideen, verfügt aber auch über loses Mundwerk.

Viamor, Ork Schamane

Der zurückhaltende Naturbursche sucht die Städte Barsaives auf, um die von den steinernen Bauten verdrängte Natur zum Vorschein zu bringen.

Der zweite Abend: Theater

Das Szenario für die kommenden Spielsitzungen war schnell erstellt. Für mich als Spielleiter war insbesondere die Verschlagwortung von Ereignissen und NSC angenehm, so dass ich mit nur wenigen Notizen mehrere Einstiegsmöglichkeiten in die Handlung und die entsprechenden Figuren festhalten konnte.

Die Hafenstadt Urupa im Südosten Barsaives am Arasmeer lockt jedes Jahr Künstler und Schaulustige an. Wegen seiner Bedeutung unterhalten sogar die konkurrierenden Regierungen des Zwergenkönigreichs Throal und des Theranischen Imperiums imposante Botschaften an diesem Ort.

Angezogen von den Vorbereitungen zum jährlichen Lernean-Wettbewerb unter Troubadouren sind die Abenteurer nach Urupa gekommen, wo sie – natürlich – in einer kleinen Kneipe zum ersten Mal aufeinandertrafen. Nach einer eindrucksvollen Demonstration seiner Künste, mit der Illusionist Tentakir seinen Gefährten einen Abend Freigetränke verschaffte, wurden die Gruppe von dem Zwerg Korto Kann angesprochen. Der eher mittelmäßige Autor mit großen Ambitionen heuerte die Abenteurer auch prompt an, für die optische Untermalung seines neuen Bühnenstücks zu sorgen. Insbesondere Schwertmeisterin Iliya war mehr als irritiert, als man ihr verkündete, sie werde die Rolle von Thystonius, Passion des Heldenmuts, verkörpern.

Von meinen eigentlichen Plänen für das Abenteuer waren die Ereignisse des Abends zwar weit entfernt, aber die stimmungsvollen Aktionen der Spieler ergaben eine willkommene Gelegenheit, den ungewohnten Probenmechanismus von Earthdawn: The Age of Legend zu testen. Hier musste ich als Spielleiter an mehreren Stellen behutsam moderieren. Letztlich verlangt das System ja von den Spielern nur eine schlichte Frage, die die geplante Aktion beinhaltet und mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. Dennoch neigte man automatisch dazu, das letztlich gewünschte Ergebnis, dessen Interpretation ja dem Spielleiter obliegt, in diese Formulierung mit einzubauen. Diese Einfachheit galt es erst einmal zu üben.

Eine weitere Einstiegshürde war die Vielzahl an verklausulierten Optionen in Form von Antrieben, Talente und Karma, mit denen man sein Würfelergebnis verbessern kann. Hier braucht man wohl schlicht Routine, um die passenden Einträge des eigenen Charakterbogens ohne großes Nachschlagen aus dem Ärmel schütteln zu können – und diese fehlte am ersten Spielabend natürlich noch.

Ungewohnt für die Earthdawn-Veteranen war auch die Umsetzung von Magie, die ja im Originalsystem eng mit der Verseuchung des Astralraums durch die Dämonen und die Reinigung der Zauberenergie durch Spruchmatritzen verknüpft ist. Stattdessen werden Sprüche ähnlich wie andere Proben über Fragen abgehandelt, das vor allem atmosphärische Element der Matritzen fehlt gänzlich und wurde auch deutlich vermisst.

Der dritte Abend: Ein Soloabenteuer

So spaßig die erste Spielsitzung auch gewesen war, so wenig hatte sie die Gruppe in die Richtung meines angedachten Abenteuers geführt. Da aber der Troll Atchak gefehlt hatte, nutzte ich die Gelegenheit zu einer 1:1-Sitzung, in der ich auch ganz berechnend die Geschichte auf den von mir ausgearbeiteten Weg bringen wollte.

So wurde Atchak bei einem Streifzug durch Urupa von einem hageren älteren Mann angerempelt, der offensichtlich auf der Flucht vor einer theranischen Patrouille war. Getrieben von seinem alten Groll gegen die früheren Herren von Barsaive, verfolgte der Bogenschütze die Gruppe bis in eine schmale Gasse, wo der kauzige Mann gestellt worden war. Es stellte sich schnell heraus, dass die Theraner den Verfolgten, der sich als ein Magier namens Denor Jelmikan herausstellte, des Diebstahls bezichtigten. Dennoch entschied sich Atchak dafür, dem Zauberer beizustehen, und dank seiner Künste mit dem Bogen vermochten es auch, den orkischen Anführer der Patrouille einzuschüchtern. Die Theraner ließen aber nicht locker, und schließlich wurde der Troll zusammen mit Jelmikan wegen Beihilfe verhaftet.

Der vierte Abend: Vor Gericht

Entsprechend groß war die Überraschung der anderen Abenteurer, als sie zu Beginn der nächsten Spielsitzung von Atchaks Inhaftierung erfuhren. Das Misstrauen gegen die Theraner wuchs schnell, sagten doch die kursierenden Gerüchte nur wenig über das Vergehen aus, das dem Troll vorgeworfen wurde. Nachforschungen führten schließlich in die prunkvolle Botschaft Theras im Zentrum der Stadt Urupa, wo die Abenteurer dank ihrer Talente – und sehr erfolgreicher Proben – sofort in die bereits laufende Verhandlung gegen Jelmikan und Atchak eingelassen wurden.

Unter dem Vorsitz des imposanten Obisidianers Bhutar Talimenda, Botschafter Theras, klärten sich die Ereignisse endlich auf. Jelmikan hatte seine Dienste den Theranern angeboten und als Bezahlung dafür mehrere Kerne elementaren Feuers gefordert. Seine Auftraggeber, die diesem Preis nie richtig zugestimmt hatten, weigerten sich das wertvolle Element herauszurücken, so dass der Zauberer, fest davon überzeugt, betrogen worden zu sein, sich selbst bediente. Atchak wurde nach seiner Einmischung Komplizenschaft vorgeworfen.

Es bedurfte einigen Fingerspitzengefühls, nicht zuletzt durch den gewitzten Troubadour Liejko, um zwischen den beiden sturköpfigen Parteien zu vermitteln. Als sich schließlich zeigte, dass Jelmikan das Feuer nur brauchte, um durch dessen Weiterverkauf eine Expedition auf das Arasmeer auszustatten, einigte man sich darauf, dass Thera diese Kosten tragen würde. Im Gegenzug würden sie die ersten Nutznießer von Jelmikans Erkenntnissen werden.

Bei dieser Spielsitzung stand vor allem das Vorantreiben der Handlung im Vordergrund. Der Probenmechanismus wurde erneut vertieft, auch wenn es weiterhin der Moderation ob der einsetzbaren Talente und ihrer Möglichkeiten bedurfte.

Der fünfte Abend: Auf hoher See

Leider musste zu diesem Zeitpunkt der Spieler von Atchak die Hangout-Runde aus terminlichen Gründen verlassen. Im Hafengebiet vermochten es die Abenteurer, auf dem Drakkar „Seehecht“ unter dem T’skrang-Kapitän A’hancha unterzukommen. Inzwischen hatte Magier Jenor Delmikan auch berichtet, was sein eigentliches Ziel war: Schiffe meiden seit dem Ende der Plage eine Region, die wegen Riffen und eines nie abebbenden Sturms unpassierbar ist. Delmikan ist überzeugt, dass ein derartig hartnäckiger Sturm nur magischer Natur sein kann und möchte dem endlich auf den Grund gehen.

Während der Reise begegnete die Seehecht auch einigen Gefahren des offenen Meeres. So galt es zunächst dem betörenden Summen eines Felds von Sirenentang zu widerstehen, mit dem die fleischfressende Pflanze Opfer ins Meer locken will. Tatsächlich wäre Schwertmeisterin Iliya auch fast gesprungen, hätten ihre Gefährten sie nicht aufgehalten. Später stand ein Kampf gegen eine riesige Seeschlange an, die immer wieder aus dem Wasser stieß, um sich einen der Seeleute zu schnappen. Hier schlug die große Stunde des Schamanen Viamor, der mit seiner Magie die Gestalt des Monstrums nachahmen und so den Angriff schnell beenden konnte.

Höhepunkt des Abends war die Begegnung mit dem tosenden Sturm inmitten des gefährlichen Riffs. Tatsächlich war die Vermutung des Magiers Jenor Delmikan korrekt: Der Sturm hatte einen magischen Ursprung, und erst der naturverbundene Schamane Viamor vermochte die Quelle richtig zu orten. Diese befand sich nicht etwa in den Sturmwolken, sondern tatsächlich unter dem Meer. Bevor die Gruppe allerdings mehr über dieses Mysterium erfahren konnte, erwies sich das Ungewitter als zu mächtig für die Mannschaft der Seehecht, und das Schiff lief auf eines der Riffe auf.

Die Auflösung des Abenteuers steht derzeit noch aus. Was mag wohl die genaue Quelle des Sturms sein, und was passiert mit den schiffbrüchigen Helden? Die folgenden Spielabende werden hoffentlich Antworten darauf haben und Gelegenheit bieten, die Stolpersteine im System noch weiter auszutesten.

Denn an diesem Abend zeigten sich zwei weitere Schwachstellen von Freeform/Universal, auf dem Earthdawn: The Age of Legend basiert. Das System geht explizit von aktiv handelnden Spielercharakteren aus, die die Handlung vorantreiben. Situationen allerdings wie der betörende Sirenentang, der den Figuren klar eine passive, reagierende Rolle zuweist, lassen sich nur sehr unbeholfen abbilden. Mit meiner Lösung, einfach allen Spieler die Frage „Widerstehe ich dem Gesang des Sirenentangs?“ aufzunötigen, bin ich selbst nicht zufrieden.

Auch der Kampf gegen die Seeschlange lief zu holprig, obwohl es dank der gewitzte Ideen der Spieler nicht an Dramatik mangelte. Hier muss ich mir aber vor allem als Spielleiter selbst einen Vorwurf machen, zu sehr auf die in einem narrativen System naheliegenden Ungewissheiten gebaut zu haben. Stattdessen hätte ich wohl besser im Vorfeld die involvierten Elemente wie Wunden und Zustände erklärt, um den Spielern die möglichen Optionen besser zu verdeutlichen. Nun ja, hoffentlich werde ich den Kampf in einer kommenden Sitzung noch einmal üben können.

Fazit mal drei

Nun hatten wir mehrere Sitzungen Zeit, um uns einen Eindruck von Earthdawn: The Age of Legend zu machen. Schafft es das System denn nun auch, die Stimmung von Barsaive mit leichter zugänglichen Regeln zu vermitteln?

Einer der Earthdawn-Veteranen legte vor allem darauf sein Hauptaugenmerk. Er empfand die Erstberührung mit dem betont leichtgängigen System als mehr als nur ungewohnt, ist der Ansatz der offenen Fragen doch gänzlich anders. Auch wenn es nach etwas Eingewöhnung doch überraschend gut funktioniert, so bleiben für ihn doch zwei Mankos. Die alternierende Erfolgsleiter blieb bis zum Ende verwirrend, auch wenn die stapelbaren Ergebnisse auch bei nur mittelmäßig erfahrenen Charakteren die für das Setting angemessenen epischen Szenen ermöglichen. Das Setting selbst, die eigentliche Stärke von Earthdawn, sieht er jedoch nur oberflächlich transportiert, zu sehr fehlen Elemente wie Matritzenmagie und ähnliches. In der Summe also eine interessante Erfahrung, aber für eine narrative Umsetzung von Earthdawn würde er FATE vorziehen.

Einer der Earthdawn-Neulinge konnte sich in seiner Bewertung kritischer mit den Vor- und Nachteilen des Systems auseinandersetzen. Zwar erscheint das System von Freeform/Universal im ersten Moment sehr simpel und narrativ, aber die offenen Fragen sind sehr gewöhnungsbedürftig und ihre Reichweite oft nicht wirklich klar. Auch werden Immersion und Spielfluss durch das Feilschen mit dem Spielleiter gestört, welche Charaktereigenschaften jetzt gerade nützlich sind. Aktionen vorzubereiten erscheint kaum sinnvoll, insbesondere da Bonuswürfel schnell jedes Ergebnis in ein „Ja“ wandeln können.

Mir selbst hat das System gut gefallen, auch die Atmosphäre von Earthdawn fand ich ansprechend transportiert – wobei ich aber auch meine Mitspieler loben muss, die dazu viel beigetragen haben. Das System der aktiv die Handlung vorantreibenden Ja/Nein-Fragen funktioniert, ist aber auch sehr gewöhnungsbedürftig und bedarf definitiv einer behutsamen Moderation durch den Spielleiter. Ganz ohne Macken ist es nicht: Müssen die Helden passiv auf Ereignisse reagieren, gerät dies arg holprig, ebenso hat mir die Abwicklung des ersten größeren Kampfs noch nicht wirklich gefallen. Insgesamt hat es aber einen positiven Eindruck bei mir hinterlassen. Für meine übliche Rollenspielrunde, in der man sich mit dem umständlichen System des klassischen Earthdawn schwertut, würde ich The Age of Legend durchaus als Alternative anbringen.

Daumen4maennlichNeu

Artikelbilder: Vagrant Workshop
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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