Geschätzte Lesezeit: 11 Minuten

„Low-Fantasy-Stadtambiente“, „Konflikt- und Intrigenspiel“, „Simuliertes Wirtschaftssystem“, „Durchlässiges Sozialgefüge“, „Gecastete Rollen“ – das sind die Stichworte, mit denen auf der Website des Spieles geworben wird. Es handelt sich bei Ismilia um ein geschlossenes Setting, bei dem man sich für das Spiel in eine von sieben Fraktionen einschreiben konnte: Haus Avesta, Haus Nurhn, Ordo Iovis, Freie Bürger, Ordinatorium, Vorstadt und Fremde. Nach der Anmeldung erhielt man einen von der Orga vorgeschriebenen Charakter mit Verknüpfungen zu anderen Charakteren, zu dem man selbst noch Änderungswünsche und weitere Verknüpfungen angeben konnte. Der Informationsreichtum zum Spiel war gewaltig. Er reichte von Gebeten und Gesängen der hintergrundeigenen Religion, über die aktuelle Lage innerhalb und außerhalb der Stadt (welche durch den ismilianischen Stadtboten übermittelt wurde), bis hin zu einem eigenen Soundtrack, um sich in Stimmung zu bringen.

Es war jedoch nicht notwendig, alle Informationen auswendig zu lernen, da man im Spiel selbst sehr schnell in die Welt hineingezogen wurde. Bald war auch den neuen Spielern klar, dass die Vier (und erst Recht die Sechzehn, da es vier mal vier sind) die heilige Zahl des Gottes IO ist, und dass dementsprechend die Drei nicht gerne gesehen wurde; dass der Apfel (im Spiel nur Mallum genannt) ein unheiliges und giftiges Ding sei, und dass die Gesundheit das höchste Gut eines jeden Menschen ist; dass die Häuser Nurhn und Avesta sich nicht leiden können, die Vorstädter und die Stadtbürger sich nichts schenken, und dass sie doch alle nicht ohne die anderen können; und dass der Standesdünkel sowie die Bürokratie das Leben in Neu Ismilia ebenso bestimmen wie ein klar vordefinierter Ablauf, wann die Messen gesungen und die Sperrstunde ausgerufen wird.

Setting und Stadtbild

Gespielt wurde auf der Burg Wildegg bei Sittendorf nahe Wien, wobei die Burg und die angrenzende Scheune genutzt wurden. Zudem hatte man ein Stadttor aufgebaut, welches die Innenstadt von der Vorstadt trennte. Das Szenario war damit klar definiert und konnte sehr dicht bespielt werden, da man nur durch das Tor überhaupt in die Innenstadt gelangen konnte. Innerhalb der Stadt und in der Burg lagerten die freien Bürger, die Fremden, Haus Nurhn, sowie das Ordinatorium und Haus Avesta. Ausserhalb befanden sich die Vorstadt und der Friedhof. „Draußen“, das war die rauhe, wilde Welt der Unterschicht, wo Grubenkämpfe stattfanden, Schnaps gebrannt wurde und die Engelsmacherin zu finden war. Dort gab es auch eine Armenspeisung und die düstere Spelunke „Klipprabe“, die sich konträr zur avestianischen Weinschenke und der Haute Cuisine der „Güldenen Schwinge“ im zweiten Stockwerk der Burg bildeten. Dazwischen fand man in der Innenstadt die nurhn’sche Taverne „Der krumme Dorsch“ und in der Burg den Biergarten sowie die Taverne „Hirsch und Reblaus“ der freien Bürger. Zu Mittag gab es auf dem Markt die Möglichkeit, sich für IT-Geld beim Würstler oder dem Nudelbrater zu verpflegen, oder sich bei der Konditorei etwas zu Naschen zu kaufen. Da es sich um ein Vollverpflegungsspiel handelte, hatte man das Essen OT bereits bezahlt.

Damit die Vorstädter nicht ganz außen vor blieben, konnten sie sich für einen Wegzoll in die Stadt einkaufen oder sich als Arbeitskräfte bei den Häusern verdingen. Es wurde gearbeitet und gehandelt, politisiert und intrigiert, gespeist und gefeiert, gelebt und gestorben, wie es nun einmal in einer belebten Kleinstadt der Fall ist. Über allem schwebte allerdings die kommende Bedrohung heidnischer Korsaren, die mittels eines Kreuzzuges des Ordo Iovis aufgehalten werden musste. Dies führte zu weiteren Dramen und Intrigen, da die Fraktionen plötzlich vor dem Problem standen, welche Leute man für die Kreuzzüge anwerben sollte. Nicht jeder „Freiwillige“ meldete sich wirklich freiwillig. Und neben den Problemen mit den Flüchtlingswellen, die von anderen bedrohten Städten her kamen, stand gar einmal der Vorschlag im Raum, die Vorstadt einfach niederzubrennen, um sich nicht mehr um den Schutz der Unterschicht kümmern zu müssen. Am Ende zeigte sich Neu Ismilia aber trotz interner Intrigen und Widrigkeiten geeint und zog schließlich an einem Strang, um die Probleme von außen zu lösen.

Das tägliche Leben in Haus Avesta

Das Haus Avesta, eines der zwei Herrscherhäuser in Neu Ismilia, ist ein nobles Haus. Die Mitglieder kleiden sich vornehm in den Farben Weiß und Blau. Als Zeichen ihrer Überlegenheit gegenüber dem restlichen Volk tragen sie gerne auffällige und möglichst unpraktische Kopfbedeckungen. Zum Haus gehören vier Familien: Falcone-Avesta, Carsini-Avesta, Avest-Vieru sowie Liviani-Avesta. Seit dem Einsturz der ergiebigen Edelsteinmine musste sich das Haus mit einem Weingut sowie der Schänke „Die güldene Schwinge“ und einem Nobelhotel finanziell über Wasser halten. Die beiden Sprüche, welche das Haus im Spiel am besten beschreiben, lauten: „Wir sind ein armes Haus, aber Geld spielt keine Rolle.“ und „Wo wir sind, ist oben.“

In Neu Ismilia hat alles seinen Zeitplan und läuft in geordneten Bahnen. Der Plan für den Freitag lautete: Um 7.30 Uhr wird aufgestanden und in der Küche geholfen, damit um 8.30 Uhr das Frühstück für das Hotel bereitsteht. Ab 8.30 Uhr ist auch die avestianische Hauskasse offen, womit Gehälter und weitere Ausgaben bezahlt werden. Um 9.00 Uhr beginnt die Morgenmesse des Ordo Iovis, mit Gebeten und Gesängen zu Ehren IOs und der zwölf Propheten. Ab 10.00 Uhr können die Arbeitspässe für die Tagelöhner beim Ordinatorium abgeholt werden, wobei man direkt die entsprechenden Personen dem Ordinatorium vorstellen sollte.

Nur mit einem Arbeitspass oder während den Messen ist es einem Vorstädter erlaubt, in die Burg zu kommen. Ab 12.00 Uhr präsentieren die Marktstände und Dienstleister auf dem Innenhof ihr Angebot, und ab 13.00 Uhr öffnet die „Güldene Schwinge“ für zwei Stunden. Ab 15.00 Uhr ist bis 16.00 Uhr Teestunde für das Haus Avesta, bei der interne Themen behandelt werden. Ab 18.00 Uhr ruft der Ordo Iovis erneut zur Messe, und ab 19.30 Uhr werden Köstlichkeiten und Geschenke für den Geburtstag eines der Hausherren vorbereitet.

So zumindest die Theorie. In der Praxis waren die meisten bereits um 7 Uhr wach, und die Gehaltsauszahlung gestaltete sich als weitaus schwieriger als gedacht, da der Schatzmeister des Hauses in Haft war. Die Morgenmesse verspätete sich um eine Stunde, und die Suche nach Arbeitern der Vorstadt für die Arbeitspässe war ein reines Durcheinander. Die Teestunde wurde zur Krisensitzung, und die Geburtstagsfeier wurde durch einen familiären Todesfall überschattet.

Am Samstag ging es nicht minder chaotisch zu. Der Posten des Schatzmeisters wurde zwischen den verbliebenen Hausherren und der neu geschaffenen Stelle einer Buchhalterin aufgeteilt. Die Handelsbeauftragte wurde zusätzlich auch noch Gesindemeisterin. Der ehemalige Laufbursche war nun eine Hauswache. Ein ehemaliges Gesinde wurde Teil der Hoteliersfamilie, und drei neue Familienmitglieder wollten ebenfalls für ihre Arbeit entlohnt werden. Am frühen Nachmittag besaß Haus Avesta von den rund 1700 Kreuzern Startgeld noch derer 24. Der finanzielle Ruin schien damit unabwendbar zu sein. Als schließlich noch die allseits beliebte Tochter des Konditors, Viorica Avest-Vieru starb, weil sie ihr Kind abtreiben ließ, brach für Avesta eine Welt zusammen.

Dennoch hielten die Charaktere des Hauses zusammen, halfen sich trotz interner Zwistigkeit über die tiefsten Gräben, und schafften es gegen widrigste Umstände, dass Avesta am Ende stabil blieb. Trotz des Verlustes zweier Hausherren, auch Domns genannt, dem Verlust der gesamten Hauswache, welche sich als Freiwillige für den Kreuzzug gemeldet hatten, und zwei Todesfällen in der Familie, trotz Pleitegeier und schier unüberwindbarer Fehden endete das Spiel für das Haus Avesta finanziell im Plus und mit zwei Verlobungen und vier neuen Hausmitgliedern.

Casting, Briefing, Vorbereitungen und Zusammenspiel

Nach der Anmeldung für eine Fraktion bekam man einen Charakter zugeteilt, dessen Aufgabe, Wünsche, Ruf, Freundschaften, Feindschaften und Geheimnisse, sowie das Wissen um die Geheimnisse anderer bereits klar definiert waren. Zweimal bekam man jedoch die Möglichkeit, an den Vorgaben eigene Änderungsvorschläge einzureichen, welche dann von der Orga im Hintergrund sorgfältig abgeglichen und am Ende in einem finalen Charaktercasting ausgegeben wurden. Mittels Facebook und Forum konnte man sich bereits im Vorfeld untereinander vernetzen, um ein dichteres Ambiente zu schaffen. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren, wie zum Beispiel das Herstellen gefärbter Stoffe, das Malen von Schildern, das Backen von Kuchen oder die Event- und Zeitplanung der eigenen Fraktion. Vor Ort gab es dann die Möglichkeit, sich mit den für den Charakter wichtigen Leuten noch weiter auszutauschen und an Workshops teilzunehmen, um sich optimal auf die kommenden zweieinhalb Tage intensiven Stadtspiels einzustellen. Das gesamte Areal inklusive Schlafräume war bespielte Zone, jedoch gab es einen kleinen OT-Raum, den man nutzen konnte, um sich etwas zurückzuziehen.

Obwohl IT die Fetzen flogen, geprügelt und gespuckt wurde, die schwärzesten Intrigen gesponnen wurden und man sich gepflegt von vorne mit dem Dolch in den Rücken stach, gab es kaum OT-Probleme. Mehr als an vielen anderen Spielen waren sich die Mitspieler hier bewusst, dass das Gegeneinander im IT nur dann funktioniert, wenn man sich im OT miteinander abspricht und aufeinander achtet. So konnte man oft beobachten, wie jemand nach einem IT-Streit kurz OT nachfragte, ob alles in Ordnung sei, oder dass jemand mit einem OT-Zwinkern und einem Handschlag gelobt wurde, wie toll gerade die Anfeindungen unter den Charakteren geklappt hatte.

Die Welt ist unfair – das Spiel ist es nicht

Gerade die Frage nach den unterschiedlichen Privilegien der verschiedenen Schichten warf die Frage auf, ob es denn überhaupt fair sei, wenn jeder dasselbe bezahlt aber nicht dasselbe bekommt. Ist es in Ordnung, dass Avesta in weichen warmen Betten schläft und sich mit Lachs und Kaviar den Magen vollschlägt, während die Vorstädter in Zelten übernachten und sich mit Eintopf begnügen müssen? IT gesehen ist die Welt um Neu Ismilia nun einmal nicht nett, und Ungleichheit, Standesdünkel sowie Vetternwirtschaft durchaus existent. OT jedoch achten die Spieler aufeinander. Und jeder, der wollte, fand einen Weg sich zu arrangieren, um beispielsweise eine Nacht mit jemandem einer anderen Schicht zu tauschen, Geld zu sparen, indem man lediglich zur Armenspeisung ging, oder das verdiente Geld in Saus und Braus auszugeben.

Trotz anfänglicher Zweifel funktionierte das tadellos, was wohl eine Mischung aus dem erwähnten OT-Zusammenspiel und der funktionierenden Wirtschaftssimulation war: Weil die Reichen so viel Geld nach unten hin ausgaben, konnten sich die Armen auch etwas leisten. Während Haus Avesta fast pleite ging, machten einige Vorstädter ein Vermögen. Am Ende des Tages kam es dem hohen Haus zugute, wenn der Vorstädter sein Geld in der hauseigenen Schenke liegen ließ, weil er nicht nur sich selbst verköstigte, sondern auch gleich noch seine Freunde einlud. Man konnte es sich ja schliesslich nun leisten.

Fazit

Neu Ismilia 4 war für mich das wohl bisher beste Spiel in meiner neunjährigen LARP-Karriere. Es ist schwierig, festzumachen, an was dies genau lag. Vielleicht war es die Tatsache, dass es sich um ein geschlossenes Setting mit gecasteten Rollen handelte, wobei man in der Umarbeitung und Interpretation dieser Rollen stets frei war. Die Vorbereitungen und der Elan der Orga sowie der Mitspieler hat man dem Spiel definitiv angemerkt, was wohl ebenfalls einen guten Teil davon ausmachte. Sicher hat aber der menschliche Faktor im OT dazu beigetragen, dass ich mich an diesem Spiel rundum wohl gefühlt habe. Sämtliche Anfeindungen, jeglicher Stress und alles Unglück, das ich erlebt habe, ist ausschliesslich meinem Charakter widerfahren. Ich hatte ein sehr intensives Spiel, wurde zu Tränen gerührt, war schluchzend zu Tode betrübt, aber auch verliebt und voller Hoffnung, wütend und schreiend, aber auch lachend und scherzend – Ausdruck all jener Erlebnisse, die mein Charakter in diesem Auf und Ab erlebt hatte.

Dabei hatte ich nie das Gefühl, dass jemand diese Dinge ins OT ziehen würde, oder dass es mich als Spielerin mehr betreffen würde als Not tat. Am Ende im OT waren die ärgsten Feinde wieder beste Freunde, Liebhaberinnen und zänkische Ehefrauen lachten gemeinsam über die vielen bösen Blicke, und der Abbau ging dank den helfenden Hände aller Beteiligten schneller voran als ursprünglich geplant war. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge verabschiedete ich mich von den vielen altbekannten und neugewonnen Freunden und trat die Heimreise nach Zürich an. Die acht Stunden Zugfahrt nach Wien hatten sich definitiv gelohnt.

Artikelbilder: Corinna Herden

Über die Autorin

StefanieHabichtStephanie Habicht ist Anfang 30 und liebt Rollenspiele auf allen Plattformen. Seit 2002 spielt sie Rollenspiele in Onlineforen und auf Neverwinter Nights-Welten am Computer.  2008 kam sie zum LARP, was mittlerweile ihr grösstes Hobby ist. Nach und nach begann sie sich auch in der internationalen LARP-Szene zu bewegen und sich in LARP-Theorie zu vertiefen. Wenn sie mal nicht gerade in fantastischen Welten unterwegs ist, arbeitet sie an der Universität Zürich als Programmiererin.

 

 

 

7 Kommentare

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein