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Ich muss vorweg gestehen: Ich bin völlig unbeleckt in Sachen Divinity. Seit Jahren schwärmen mir Freunde von Original Sin vor, aber es kam nie zum Treffen zwischen mir und der Sünde. Ich habe den Hype um den Nachfolgetitel verpasst und damit leider auch den Kickstarter, der übrigens innerhalb weniger Stunden sein Ziel von 500.000 USD knackte und am Ende rund 2 Mio. USD eingesammelt hatte.

Tatsächlich: Larian Studios haben sich für das mittlerweile so populäre Modell des Crowdfundings zur Finanzierung dieses Spieles entschieden. Ein Maximum an Mitbestimmung wollen sie damit den Backern und der Community ermöglichen. Wie gut das funktioniert, wird die laufende Early-Access-Phase zeigen.

Ich für meinen Teil konnte nun ganz unvoreingenommen an das Spiel herangehen und habe mich Stunde um Stunde von ihm verzaubern lassen. Auf der anderen Seite will ich nicht ausschließen, eine Tonne augenzwinkernder Anspielungen verpasst zu haben.

Gestrandet

An einem malerischen Ort aufwachen, allein, Trümmer eines havarierten Schiffes ringsumher, nur mit Fetzen bekleidet – dies sind seit jeher in der Literatur Zutaten für den Beginn großer Geschichten. Und sie harmonieren hervorragend mit Computerspielen, welche die Geschichte einer oder mehrerer Personen erzählen wollen, die bei null beginnen, mit nichts als dem nackten Leben ausgestattet … tja nun, in meinem Fall auch noch mit gewissen magischen Fähigkeiten. Mein Charakter ist nämlich ein sogenannter Sourcerer [sic!]. Man sehe mir bitte die großzügige Verwendung englischer Begriffe nach: Das Spiel ist bisher nur auf Englisch verfügbar. Soweit ich informiert bin, musste man in Original Sin noch die magische „Source“ eindämmen. Eines Sourcerers Fähigkeiten führen nun aber dazu, dass Kreaturen aus der Leere in die Welt einfallen. Daher werden jene Sourcerer für den drohenden Untergang der Welt verantwortlich gemacht. Somit muss man sich nicht nur der Gruppierung des Divine Order widersetzen, der alle Sourcerers zu Kriminellen abgestempelt hat, sondern auch versuchen, die Zusammenhänge des großen Ganzen aufzudecken.

Diese Prämisse ist nicht sonderlich originell, aber sie erfüllt ihren Zweck, den Spielercharakter und sein „Ragtag Bunch of Misfits“ auf ihrem Weg von verfemten Ausgestoßenen zu gefeierten Helden begleiten zu können. Bevor ich allerdings dazu komme, irgendwen zu irgendwas zu begleiten, strande ich zunächst im Charaktermenü. Und hier kann ich nicht anders, als ins Schwärmen zu geraten: Die Musik in Titel- und Charaktermenü ist derart ätherisch schön, dass ich derzeit, wenn ich gerade nicht zum Zocken komme, manchmal das Spiel laufen lasse, um der Musik zu lauschen. Verantwortlich dafür zeichnet Borislav Slavov, der schon den Soundtrack zu Crysis 3 komponierte. Musikalisch eingestimmt auf die Abenteuer in Rivellon wählt man einen von vier Origins, fertigen Charakteren mit spezifischer Hintergrundstory, deren Klasse man allerdings selbst festlegen kann. Alternativ kann auch ein eigener Charakter erstellt werden, jedoch sind bisher nur Spezies, Klasse und Geschlecht wählbar, das Aussehen ist weiter nicht individualisierbar. Die Spezies bringt einen Bonus, und die Klassen sind typische Rollenspielkost, sprich, archetypische Krieger, Magier, Schurken, Kleriker und Waldläufer. Battlemage, Wayfarer und Shadowblade kombinieren die nichtmagischen Archetypen mit arkanen Fähigkeiten.

Vielversprechend ist das Feature der Tags, die man seinem Charakter verleihen kann: Je nach Auswahl werden im Spielverlauf Dialogoptionen beeinflusst und dementsprechend auch die Reaktionen der NSCs. Soldier, Outlaw, Mystic oder Jester sind einige Beispiele aus dem Sortiment. Eine weitere Wahl ist noch zu treffen, bisher nie gesehen und äußerst stimmungsvoll: Eines von vier Instrumenten darf man sich nämlich aussuchen, welches in wichtigen oder spannenden Situationen die Melodiestimme übernimmt. Eine Flöte, ein Cello und zwei Zupfinstrumente sind im Angebot. Ich wähle die Oud, ein lautenartiges Instrument aus dem vorderasiatischen Raum. Nach knapp zwei Stunden des Überlegens, welche Kombination aus Spezies und Klasse wohl erfolgreich sein könnte, entscheide ich mich endlich für einen Enchanter der Marke Eigenbau, einen ordinären Menschen. Nach Elf, Zwerg oder Echsenmensch steht mir nicht der Sinn.

Kontrolliert die Massen!

Schon bei den ersten Gegnern zeigt sich, dass der Enchanter eine gute Wahl war, und auch im Verlauf des Spiels bleibt das so. Warum? Die Klasse gebietet über Crowd Control, also Fähigkeiten, mit denen sich ein oder mehrere Gegner verlangsamen, einfrieren oder betäuben lassen. Natürlich hat jede Klasse ein Arsenal von Zaubersprüchen oder Fertigkeiten, die alle auf ihre Weise nützlich sind. Die Shadowblade etwa kann typische Life-Leech-Zauber nutzen, der Knight verkrüppelt seine Opfer. Wenn man aber sich aber die Fertigkeiten-Sets so ansieht, ist durchaus vorstellbar, dass nicht jede Gruppenkonstellation es gleichermaßen leicht hat. Halt, Moment – Gruppe? Ich habe doch nur einen Charakter erstellt! So ist es. Schon wenige Augenblicke nach dem Erwachen am Strand besteht die Möglichkeit, den ersten Gefährten ins Team aufzunehmen. Weitere kommen im Spielverlauf dazu, mit vieren ist das Gruppenmaximum erreicht. Besagte Crowd Control erleichtert auf dem Weg durch Rivellon jedenfalls eine ganze Menge. Es schadet übrigens grundsätzlich nicht, über ein gewisses taktisches Verständnis zu verfügen, wenn man die Kämpfe erfolgreich bestreiten will.

Diese machen durch ihre rundenbasierte Natur mit viel Zeit zum akribischen Planen einen Löwenanteil der Spielzeit aus. Clevere Positionierung ist häufig gefragt, abwägen, in welche Richtung man seine Charaktere schickt, oder gut geplantes Timing der Fertigkeiten-Cooldowns. Dazu muss die Kampfumgebung sorgfältig einbezogen werden: Liegt irgendwo Öl auf dem Boden, besteht akute Feuergefahr. Hat eine Figur den Zustand Nass, ist sie besonders anfällig für Elektrizität, etwa von klassischen Lightning Bolts. Der Regenzauber schließlich kann Feuer löschen, während Giftwolken für Verwirrung beim Gegner sorgen. Jeder Teilnehmer eines Kampfes gibt pro Runde Aktionspunkte aus, sei es für Bewegung, Zauberei oder wuchtige Hiebe. Wurde eine Fertigkeit genutzt, unterliegt sie für einige Runden einem Cooldown, währenddessen sie nicht einsetzbar ist. Im Kampf gegen den derzeitigen Endboss (im fertigen Produkt vermutlich der erste Aktboss) ist dementsprechend ein forscher Frontalansturm eher nicht zu empfehlen. Ohne zu viel verraten zu wollen: Bishop Alexandar rechnet mit euch, also kommt lieber von der Seite und nicht alle auf einmal. Im fertigen Spiel wird es eine Reihe von Schwierigkeitsgraden geben; derzeit stehen der Explorer- und der etwas schwierigere Classic-Modus zur Verfügung.

Nur dieses eine Item noch …

Bis zu diesem Moment faszinieren mich Tiefe und Fassungsvermögen meines Inventars. Ihr kennt das vielleicht: In so einem Rollenspiel gibt es aufhebbare Gegenstände, also werden sie gefälligst aufgehoben, auch wenn das jede leere Holzkiste ist, die am Wegesrand steht. Das Ding ist nur, dass mein Charakter die hier nicht vor sich her trägt; er lässt stattdessen jede noch so gigantische Kiste in seinem Schnappsack verschwinden. Gewicht? Kein Problem, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Diese knapp mannsgroßen Holztruhen wiegen ja fast nichts! Aber irgendwann sind eben genug Wasser- oder Giftfässer, Bettrollen und Körbe jeder Form und Größe eingesammelt. Und so muss ich mich jedes Mal zusammenreißen, wenn sich der Mauszeiger wieder in dieses kleine gierige Grabschehändchen verwandelt. Dem Rollenspielgedanken ist das nicht eben zuträglich; auf der anderen Seite bin ich ja laut Kirche nur ein kriminelles Subjekt und Abschaum. Ist der Ruf erst ruiniert … Im Großen und Ganzen ist die umfangreiche Interaktion mit der Umwelt, die sich auch außerhalb des Kampfes fortsetzt, eine tolle Sache. Überall gibt es Geheimverstecke zu entdecken, Lianenleitern zu erklimmen, Gräber auszubuddeln. Und sobald sich NSCs in der Nähe befinden, besteht meist schon ein Besitzanspruch auf die ganzen Kisten und Körbe. Wenn man in deren Sichtweite etwas aufhebt, ist das klar als Diebstahl markiert, führt zu einer Verschlechterung der Beziehung und nach der dritten Verwarnung zum Kampf.

Das verleiht der Welt Lebendigkeit und kann durchaus moralische Dilemmata hervorrufen. Ganz großartig ist auch die hohe Kombinierbarkeit gefundener Items. Damit ist noch nicht einmal das Handwerkssystem gemeint, das standardmäßig mit gefundenen und gesammelten Zutaten jeder Couleur arbeitet, von Knochen und Augen über besondere Hölzer und Pflanzen bis hin zu Feenstaub. Vielmehr kann man mit wenig Nachdenken zwei scheinbar unzusammenhängende Objekte zu einem neuen vereinen. Mit einem Giftfass und einem Apfel lässt sich beispielsweise ein vergifteter Apfel herstellen. Ich gebe zu, für das gute Stück noch keine Anwendungsmöglichkeit gefunden zu haben, aber sie wird kommen, da bin ich sicher. Und ihr wisst ja: wir sind Abschaum, da ist vergiftetes Essen ohnehin völlig charakterkonsistent. Ich vermute mal, dass dieses Crafting auch in Teil eins schon möglich war, aber für Teil zwei noch einmal aufgebohrt wurde.

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Verweile doch! du bist so schön!

Überhaupt scheint, auch wenn man sich die ersten enthusiastischen Steam-Reviews begeisterter Spieler ansieht, das ganze Spiel eine ganze Menge größer, besser, richtiger zu machen als sein Vorgänger. Allein die Optik ist wunderschön und entlockte mir ein ums andere Mal Begeisterungsseufzer. Jedes Detail ist liebevoll gestaltet, bzw. wird es mutmaßlich sein. In der vorliegenden Early-Access-Version fehlen sie noch, später werden sie die Stimmung mutmaßlich um einige Level heben: Die Rede ist von vollvertonten Dialogen. Mit guten Sprechern dürfte an so manchen Stellen Gänsehaut garantiert sein. Aber auch beim Lesen merkt man Detailversessenheit. Die Figuren befleißigen sich schöner Sprache, ihre Dialoge sind mal ernst, mal witzig, mal pathetisch, mal spritzig. Mit rund 45 Euro ist der Preis für einen Early Access knackig, spielbar ist bisher der erste Akt. Es ist Vorschusslorbeer, den man den Entwicklern verleiht. Die Chance, dass die noch kommenden Anteile die Ausgabe rechtfertigen, ist aber ausgesprochen hoch.

Dazu muss man sagen, dass dieses Spiel in seinem unfertigen Zustand mehr Inhalt bietet und mehr Esprit versprüht als so manche Vollversion. Ob es die Ästhetik der Kämpfe ist, ob es die die satten, vollen Farben der Landschaft sind, oder ob die Musik mich einmal mehr bannt – immer wieder möchte ich dem Augenblick zurufen: „Verweile doch! du bist so schön!“ Übrigens hat mein Rechner bereits fünf Jahre auf dem Buckel, kommt mit dem Spiel aber auch auf höchsten Einstellungen ruckelfrei zurecht. Wer sich von der (bis dato) sehr einfach gestrickten Geschichte und der Fantasy-Standardkost bei der Charaktererschaffung nicht abschrecken lässt, erhält in Sachen Optik, taktischer Kampf und Interaktion ein ziemlich hitverdächtiges Spiel und könnte, wenn nicht schon geschehen, zum Sünder werden. Der einzige Unschuldige in dem Spiel ist ohnehin Bishop Alexandar the Innocent: „Your bishop and your friend, who only wishes to save the realm from destruction.“ Na klar …

Artikelbilder: Larian Studios

 

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